Alva Dohrmann tastete sich über den unebenen Untergrund vorwärts. In dem dunkelbraunen Schuh steckte ein Fuß, der nach einem blassen Fußknöchel in ein Hosenbein aus Stoff überging. Dann sah sie im hohen Gras ein zweites Bein, seltsam verdreht … Noch einen Schritt weiter vorwärts, und Alva Dohrmann starrte über Bauch, Brust und Schultern in einem blauen Troyer hinweg in das Gesicht eines Mannes. Sein Mund stand schlaff offen, gelbe Zähne lugten hinter blaugrauen Lippen hervor. Er hatte graues Haar, teils blutig, und war das andere Graue dort in der Wunde etwa …?
Alva Dohrmann wurde schwindelig, sodass sie in die Hocke gehen musste. Der Anblick war so unerträglich, dass ihr das Atmen schwerfiel. Nun wusste sie auch, was hier am Teich so summte. Sie musste schnell an etwas anderes denken. Ihr fiel etwas ein, was ihre Therapeutin ihr geraten hatte: »Such fünf blaue Gegenstände in deiner Umgebung.«
»Himmel, Jeans, Blumen …«, weiter kam Alva Dohrmann nicht. »Was riechst du? Den Teich, die Wiese … das Blut. Den Tod. Was hörst du? Das Summen der Insekten, den Wind in den Blättern … Was schmeckst du? Bittere Galle.«
Sie hatte sich anscheinend übergeben. Doch während Alva Dohrmann die ihr bekannten Techniken anwandte, wurde der Schwindel langsam erträglicher. Die diffuse Wolke, die sich schützend über sie gelegt hatte, lichtete sich. Ihr Atem ging wieder leichter. Als Alva Dohrmann aufstand, bemerkte sie, dass ihre Jeans und ihre Hände nass und schmutzig von Erde waren. Hastig wischte sie sie mit einem Blatt ab. Ihre Kehle und ihre Nase brannten.
Der dumpfe Schwindel, das tröstliche Gefühl der Unwirklichkeit, war so stark gewesen, dass sie sich überzeugen musste, dass dort wirklich ein toter Mann in den Büschen lag. Dass sie sich diesen schockierenden Fund nicht nur eingebildet hatte.
Alva Dohrmann reckte den Hals, schaute ganz kurz noch einmal hin. Der grauenhafte und groteske Anblick ließ sie erneut aufstöhnen. Sie presste die Hände vor den Mund, während sich das Bild in ihr Gedächtnis brannte: die verrenkten Glieder des Mannes, die klaffende Wunde am Kopf, die bereits Insekten, Fliegen und Käfer, angezogen hatte. Das dunkel geronnene Blut, das ihm in Strömen über das blasse, gräulich verfärbte Gesicht gelaufen war. Die Schlammspuren und großen Blätter auf seinen Augen …
Holger Jansen hielt auf seinem gewohnten Parkplatz direkt vor dem Dorfkrug . Die Morgensonne ließ die Backsteinfassade des alten Gebäudes in einem warmen Farbton aufleuchten. Carmen Lebrecht, die Wirtin von Stüvensees einziger Kneipe, hatte Tulpen und Stiefmütterchen in den alten Futtertrog neben dem Eingang gepflanzt. Dass ihr nichtsnutziger erwachsener Sohn ihr diese Arbeit abgenommen hatte, davon war Holger Jansens Meinung nach nicht auszugehen. Die langstieligen Tulpen bogen sich im kühlen Morgenwind. Holger, im Wesentlichen nur mit Hemd, Hose und Stiefeln seiner Polizeiuniform bekleidet, lief eilig die fünf Stufen zum Eingang hinauf.
Im Eingangsbereich empfing ihn der vertraute Geruch nach Braten, Bier und Zitrusreiniger. Durch die braun verglaste Eingangstür fiel nur wenig Licht herein. Außer einem Zigarettenautomaten und einem Beistelltischchen mit einem Plexiglasständer für Flyer – Werbung für einen Freizeitpark, ein Freilichtmuseum und ähnliche touristische Ziele – gab es auch wenig zu sehen. Im Schankraum herrschte die gewohnte, entspannende Dämmerstimmung.
Carmen kam bei seinem Eintreten sofort aus der Küche. Sie war eine kräftige Frau von Mitte vierzig mit wallenden, kastanienbraunen Haaren und den Schultern eines Ringers. »Moin, Holgi. Alles klar im Revier?«, fragte sie.
»Moin, meine Gutste. Klar wie Kloßbrühe. Du weißt doch, dass ich meine Pappenheimer im Griff habe.« Er strich eine lange Haarsträhne zurück, die sich aus seinem dünnen Zopf gelöst hatte, und ließ sich auf seinem angestammten Barhocker nieder. »Haste ’nen Latte für mich?«
»Für einen Ordnungshüter doch immer.« Sie machte sich an der chromglänzenden Kaffeemaschine, der neuesten Errungenschaft der Dorfkneipe, zu schaffen. Als auch der letzte Stammgast zum Ausdruck gebracht hatte, dass er Cappuccino schnödem Filterkaffee vorzog, hatte Carmen schließlich nachgegeben und die Investition getätigt. Doch Holger wusste, dass es ihr geradezu körperliche Schmerzen bereitete und sie deshalb die Preise kräftig angehoben hatte. Aber seinen morgendlichen Latte Macchiato bei Carmen ließ er sich nicht vermiesen.
»Das sonnige Wetter soll ja noch ein büsch’n so bleiben. Hast du Feriengäste da?«, fragte er sie.
Carmen setzte das Kaffeeglas, ebenfalls eine Novität in der Kneipe, vor ihm ab und stellte sich demonstrativ mit einer Tasse Kaffee dazu. Die Wirtin warf sich in Positur und schnaubte. »Ich hatte neulich mal einen Vertreter für Terrassendächer und Wintergärten für eine Nacht zu beherbergen. Aber nur, weil er sich verfahren hatte. Sein Navi hat gestreikt. Die Zeiten der Urlauber sind bei mir vorbei.«
Holger sah sich in dem Schankraum mit den Einbauten in Eiche rustikal und den nikotingelben Vorhängen um. »Ich mag es ja genau so. Ist irgendwie mein zweites Zuhause hier. Aber für Urlauber müsste man wohl mal renovieren.«
»Du hast gut reden! Und wer macht das?« Carmen rührte heftig in ihrem Kaffee. »Hab ich nicht schon genug Arbeit?«
»Natürlich hast du die.« Er wollte ihr beruhigend die Hand auf den weichen Arm legen, überlegte es sich aber im letzten Moment anders. »Ich hatte da mehr an Krischan gedacht. Was macht er eigentlich gerade so?«
»Er jobbt.« Sie presste die vollen Lippen aufeinander. Dann nahm sie den Lappen und rieb an einem Fleck herum, den sie wohl gerade auf dem Tresen entdeckt hatte.
Holger wusste, dass ihr verwöhnter Sohn in einem Atemzug mit dem Wort »Arbeit« ein heikles Thema war. Seiner Meinung nach war Krischan das Einzige, was zwischen ihm, Carmen und der ewigen Glückseligkeit stand. Nichtsdestotrotz etwas, was er nicht ignorieren konnte.
»Ein Kollege hat deinen Jungen neulich wieder in einem dieser Clubs in Lübeck gesehen«, sagte er vorsichtig.
»Ja, und? Warum soll er nicht in einen Club gehen? Er ist noch jung …«
… und braucht das Geld, ergänzte er in Gedanken sarkastisch. Doch eine Verbindung zu einem mutmaßlichen Drogendealer, und sei der auch noch so ein kleines Licht, konnte und wollte Holger nicht riskieren. Er wählte seine nächsten Worte mit Bedacht: »Vielleicht sagst du ihm, dass er dort beobachtet wird, bei dem … was er tut.« Er blickte ihr ernst in die Augen.
Carmen beugte sich ein Stückchen zu ihm vor, sodass sein Blick unwillkürlich von dem tiefen Spalt in ihrem Ausschnitt angezogen wurde. Ihre »Trinkgeldbank«, wie sie es spöttisch nannte. Und was für eine. »Holgi, ich mag dich als Mensch, und du bist mein Stammgast. Doch als Polizist hältst du dich aus meinem und Krischans Privatleben heraus. Ist das klar?«
»Schon klar.« Er hob abwehrend die Hände. »Bier ist Bier, und Schnaps ist Schnaps. Aber der Junge sollte vorsichtig sein.«
Carmen holte tief Luft, doch das Läuten seines Diensthandys rettete Holger.
»Jansen!« Er spürte ihren Blick auf sich ruhen und drehte sich halb von ihr weg. »In Ordnung, bin schon unterwegs«, sagte er knapp.
»Was ist los? Hat jemand in Stüvensee unser Stoppschild überfahren?«
»Nicht ganz. Ist was Ernstes …« Er warf einen Fünfeuroschein auf den Tresen und verließ die Kneipe. Beim Hinausgehen sah er, dass Carmen nach seinem Latte-Macchiato-Glas griff und die Nase hineinsteckte.
Pia hatte Felix und seiner Freundin nur noch durch das getönte Fenster des Busses hindurch zuwinken können. Sie war erleichtert, dass ihr Sohn sich so schnell und problemlos dazu entschlossen hatte, mit auf Klassenreise zu fahren. Er schien in der Schule nun doch eine neue Freundin gefunden zu haben. Die kürzlich erst zugezogene Emily. Das Mädchen hatte ein kleines Wunder bewirkt, dachte man an Felix’ Befürchtungen und die unruhige letzte Nacht.
Ein bisschen nagte es jedoch an Pia, dass er sich so abrupt von ihr getrennt hatte. Keine Küsse, keine Umarmung zum Abschied. Sie hatte sich das etwas anders vorgestellt. So war es leichter für ihn, und wahrscheinlich auch für sie. Trotzdem …
Den Vorschlag, noch einen Kaffee mit Emilys Vater trinken zu gehen, hatte sie abgelehnt. Sie war sowieso schon später dran als sonst. Aber eigentlich wäre es bei der Masse an Überstunden, die sie angesammelt hatte, nicht ins Gewicht gefallen, und eine Dienstbesprechung hätte sie an diesem Morgen auch nicht verpasst.
Sie war in Gedanken bereits bei dem staubtrockenen alten Fall, den sie gerade bearbeitete, als Manfred Rist aus seinem Büro auf sie zukam. Der Leiter des K1 blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr und zog die Augenbrauen zusammen.
»Moin, Manfred«, sagte Pia, die keine Lust hatte, sich zu rechtfertigen.
»Je später der Morgen …«, kam es süffisant zurück.
»Ich habe doch nichts verpasst, oder?«, fragte sie provokativ. »Den Ripper von Lübeck?«
»Das wirst du schon noch sehen.« Rist eilte davon in Richtung Fahrstuhl.
Pia zuckte mit den Schultern und versuchte, sich nicht zu ärgern. Sie arbeitete wegen Felix in Teilzeit, und es war abgesprochen, dass sie bei wichtigen Terminen, die ihr Kind betrafen, flexible Arbeitszeiten nutzen konnte. Normalerweise beschwerte sich ihr Vorgesetzter bei ihr, dass sie zu viel und zu lange arbeitete.
Sie betrat ihr Büro und begrüßte Broders mit einem kurzen »Moin«.
»Du kannst gleich stehen bleiben«, antwortete ihr Kollege. »Wir haben einen Leichenfund.«
»Tatsächlich?« Pia, die gerade im Begriff gewesen war, die Jacke auszuziehen, hielt in der Bewegung inne. »Wo denn? Worum handelt es sich?«
Broders erhob sich mit einem leisen Stöhnen. »Diesmal in Stüvensee an der Ostsee.«
»Das bedeutete also Rists ›Das wirst du schon noch sehen‹«, sagte Pia mehr zu sich selbst.
»Was meinst du?«
»Ach, nur eine kleine Stichelei von ihm.«
Broders sah sie an. »Kennst du den Ort Stüvensee?«
»Ich weiß, dass es ihn gibt«, erwiderte Pia. »Und ich finde hin.«
»Dann bist du mein Mann … äh, meine Frau.« Er griff nach seiner Jacke und seinem Smartphone. »Wir sollen sofort losfahren. Rist und der Rest unserer versprengten Truppe sind weiterhin an dem anderen Fall dran.«
»Immer noch oder schon wieder der Tankstellenfall?«, erkundigte sich Pia. Bei einem Raubüberfall auf eine Tankstelle waren vor zwei Wochen der fünfundzwanzigjährige Kassierer getötet und ein Kunde verletzt worden. Bisher hatte von den maskierten Tätern jede Spur gefehlt, sehr zum Verdruss von Staatsanwaltschaft und Polizei.
»Da hat sich ein neuer Ansatzpunkt ergeben. Entweder ist nichts los oder gleich mehreres auf einmal. Und das, wo Wilfried weg ist und bei unserem hohen Krankenstand.«
»Kannst du mir schon was über den Leichenfund in Stüvensee erzählen?«, fragte Pia, während sie nebeneinanderher zum Parkdeck gingen.
»Der Tote ist ein Mann, ungefähr in meinem Alter.« Broders verzog das Gesicht. »Er wurde vor etwa einer halben Stunde von einem weiblichen Feriengast in Stüvensee entdeckt. Alva Dohrmann heißt sie. Sie hat den Toten im Garten einer alten Fischerkate gefunden, die wohl ab und zu auch als Ferienhaus vermietet wird. So habe ich es wenigstens verstanden.«
»Na, das sind ja tolle Ferien … für die Frau. Und was ist die Todesursache?«
Broders warf ihr einen raschen Blick zu. »Ist noch nicht sicher.«
»Kann es auch ein natürlicher Tod sein?« Dann hätte sich das Thema für die Mitarbeiter des K1 schnell wieder erledigt. Pia wünschte niemandem etwas Schlechtes. Schon gar nicht Mord oder Totschlag. Doch sie hatte schon länger keine spannende neue Ermittlung mehr gehabt.
»Natürlicher Tod wird schwierig«, sagte Broders, nachdem er sich auf den Beifahrersitz hatte fallen lassen. »Es gibt ein paar besondere Umstände.«
»Was für Umstände?«
»Der Täter konnte den Anblick seines toten Opfers wohl nicht ertragen. Wie in dem Stück Die Herzogin von Malfi . ›Bedeckt ihr Antlitz, vor meinen Augen flimmert es, sie starb so jung‹«, deklamierte Broders.
»Wie bitte? ›Sie starb so jung‹?« Pia lenkte den Wagen die Rampe hinunter auf die Welsbachstraße und gab Gas. »Ich dachte, das Opfer sei ein älterer Mann?«
»Älterer Mann … Wie das klingt! Danke, Engelchen!«
»Sei nicht so empfindlich, Schatzi«, konterte sie.
Broders schnaubte. »Wenn der Tote nicht sehr lichtempfindlich oder schamhaft war und sich selbst kurz vor seinem Ableben die Augen mit Seerosenblättern bedeckt hat, dann hat es wer anders getan.«
»Verstehe. Und wer oder was ist die ›Herzogin von Malfi‹?« Pia bremste vor der nächsten Ampel. Sie fuhr im dichten Berufsverkehr auf die Brücke über die Kanal-Trave zu.
»Das ist eine Tragödie von John Webster«, sagte Broders oberlehrerhaft. »Ich kenne die Sätze allerdings aus einem Krimi, den ich mal gelesen habe. Da ist dieses wundervolle Zitat ein Teil der Auflösung«, räumte er ein.
»Du liest Krimis?« Pia warf unwillkürlich einen Blick nach links, wie um zu prüfen, ob unten in der Nähe des Lübecker Motorboot-Clubs ein Binnenschiff zu sehen war. Dort war sie im vergangenen Jahr nach einer Entführung gefangen gehalten worden. Würde sie je wieder hier entlangfahren, ohne daran zu denken?
»Früher habe ich mehr Krimis gelesen«, bekannte Broders. »So bin ich, glaube ich, auf diesen verflixten Beruf gekommen.«