10. Kapitel

»Ein schöner Hof!« Pia musterte das Ensemble aus Bauernhaus mit angrenzendem Stall, einer großen Scheune und offener Remise. Im Hintergrund leuchtete ein Rapsfeld so grellgelb, dass es beinahe in den Augen schmerzte. Dahinter sah Pia etwas Blaues blitzen, von dem sie annahm, dass es der Stüvensee war, den sie schon auf der Karte ihres Navis gesehen hatte.

»Siegfried hat den Hof vor etwa fünf Jahren übernommen und wohl einiges an Kohle reingesteckt.« Jansen zog nach dem Aussteigen seine Uniformhose hoch.

»Siegfried … und wie noch mal weiter?«

»Siegfried Engel. Der Hof wird aber allgemein der ›Kiekeberg-Hof‹ genannt, wegen des Hügels mit der Aussicht auf den See.«

Als sie sich dem Gebäude näherten, roch es durchdringend nach Schweinegülle. Zwei Hofhunde kamen bellend auf sie zugerannt, stoppten jedoch in etwa drei Metern Entfernung und wedelten mit dem Schwanz.

Ein schlanker, sehnig aussehender Mann von etwa fünfzig Jahren kam ihnen entgegen. Er trug ein olivgrünes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und eine beige Cargohose, deren Taschen sich beulten – wie es aussah, von Werkzeugen. Er hatte dünnes, graublondes Haar und trug eine silberne Nickelbrille, die seine kaffeebraunen Augen vergrößerte. »Moin, Jansen«, sagte er zu Pias Begleiter. »Was führt dich hierher?« Dann blickte er Pia erwartungsvoll an.

»Moin, sind Sie Siegfried Engel?«, fragte sie.

»Jo.«

»Pia Korittki, Kriminalpolizei Lübeck.« Sie reichte ihm die Hand. Seine war heiß und trocken, die Fingernägel hatten dunkle Ränder.

»Seid ihr wegen Burkhard hergekommen?« Er beugte sich zu dem größeren Hund herunter und kraulte ihn. Das Tier drängte sich begeistert über die Aufmerksamkeit gegen sein Bein. »Ich habe natürlich schon gehört, dass er tot sein soll.«

»Wir haben da ein paar Fragen. Sein Tod kam ja ziemlich plötzlich«, antwortete Jansen. Sein Ton war kumpelhaft, aber es schwang eine gewisse Vorsicht darin mit.

»Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten? Es dauert nicht lange«, fragte Pia.

»Tut mir leid. Jetzt nicht. Ich habe viel zu tun.«

»Ach, das macht gar nichts.« Pia lächelte. »Dann erwarten wir Sie stattdessen heute um sechzehn Uhr auf der Polizeistation in Stüvensee.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Moment! Das dauert dann ja noch länger.« Er sah auf die Uhr. »Kommt lieber gleich mit rein. Es wird schon passen.« Er ging ihnen mit großen Schritten voraus ins Haus. Sie benutzten einen Nebeneingang, der offensichtlich als Schmutzschleuse diente. Die Hunde ließen sich in zwei bereitstehenden Körben im Vorraum nieder. Engel streifte sich schwungvoll die offenen Arbeitsstiefel von den Füßen, sodass sich dunkelbraune Erdklumpen und Stroh aus dem Profil lösten und auf dem Boden landeten. Er ging auf dicken, grauen Wollsocken weiter voran, ohne sich umzusehen.

Auch hinter dem Vorraum sahen die Fliesen so schmutzig aus, dass Pia die Stiefel anbehielt, während Holger Jansen Engels Beispiel folgte. Sie gelangten in eine große, beinahe quadratische Küche.

»Nehmt Platz.« Siegfried machte eine vage Handbewegung in Richtung eines alten Refektoriumstischs. Das dunkle Eichenmöbel wirkte wie ein Museumsstück, wäre es nicht so zerkratzt und mit Krümeln und Kaffeerändern überzogen.

»Hätte ich Sie heute erwartet, hätte ich natürlich Kuchen da«, sagte er spöttisch. »Kaffee?«

Pia lehnte dankend ab. Auch Jansen schüttelte den Kopf.

Engel zuckte mit den Schultern und schenkte sich aus einer Thermoskanne auf dem Tisch Kaffee in einen bereits benutzten Steingutbecher. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er, als sie sich gegenübersaßen.

»Wie gut kennen Sie Burkhard Schönfeld?«

»Besser, als ich es mir wünschen würde.«

»Soll heißen?«

»Wir leben im selben Ort. Aber wir mögen einander nicht besonders.«

»Wo waren Sie gestern Abend zwischen acht Uhr und Mitternacht?«, kam Pia gleich zur Sache.

»Oha. Sie halten sich ja nicht mit langen Vorreden auf.« Er kniff die Augen zusammen. »Ich war hier.«

»Kann das jemand bezeugen?«

»Nur meine zwei Hunde und vielleicht die Schweine, wenn Sie die zum Reden kriegen.«

»Ein Mordfall ist kein Spaß!«, sagte Pia. »Wenn Sie allein hier waren, haben Sie ja möglicherweise telefoniert, was jemand bezeugen kann. Oder waren Sie vielleicht währenddessen im Internet in einem Chat unterwegs?«

»Wenn ich abends hier reinkomme, dann gehe ich nicht mehr ins Internet . Dann habe ich den ganzen Tag lang draußen gearbeitet und will nur noch meine Ruhe haben.«

»Und warum mochten Sie Burkhard Schönfeld nicht?«, fragte Pia.

»Das hat sich über lange Zeit so entwickelt. Ich bin ein ehrlicher Typ und will Ihnen nichts vormachen: Ich bin halt über sein Ableben nicht besonders traurig.«

»Sind Sie nur ganz allgemein ein Menschenfeind, oder hatte Ihre Antipathie einen bestimmten Grund?«, hakte Pia nach.

Jansens Stuhl knarzte, als er nervös das Gewicht verlagerte.

»Ha!« Engel lachte auf. Offenbar traf Pia gerade den Ton, mit dem er etwas anfangen konnte. »Natürlich habe ich Gründe. Gibt es nicht immer Gründe? Wissen Sie: Einer davon ist, dass Burkhard mich fortlaufend bei den Behörden angeschwärzt hat.«

»Können Sie uns ein Beispiel nennen?«

»Ach, Hunderte! Zuletzt hat er behauptet, ich hielte mich nicht an die Schleswig-Holsteinische Knickverordnung!«

»Halten Sie sich denn daran?« Pia wusste, dass die typischen, das Landschaftsbild prägenden Wallhecken nach dem Landesnaturschutzgesetz nur in bestimmten zeitlichen Abständen und nach strengen Regeln beschnitten, also »auf den Stock gesetzt« werden durften.

»Ich darf alle zehn bis fünfzehn Jahre knicken. Das ist mein gutes Recht«, sagte Engel. »Dass Burkhards Mieter danach auf die Hauptstraße und einen Gewerbebetrieb geguckt haben statt wie bisher ins Grüne, ist sein Problem, nicht meines. Immerhin war es ja mein Grün!«

»Gab es noch mehr solcher Vorfälle?«

»Wissen Sie, was? Ich kann diese ›Vorfälle‹ gar nicht alle aufzählen. So viel Zeit haben wir nicht.« Er gestikulierte wild. »Es ging um einen Unterstand, den ich auf meiner Weide bauen wollte. Um eine kranke Kastanie, die gefällt werden musste. Burkhard hat sich in alles eingemischt. Er hat mir Ärger gemacht, wo er nur konnte. Und nicht nur mir. Aber die Idioten hier haben ihn ja weiterhin brav gewählt, weil er aus einer alteingesessenen Familie stammte oder weil er ihnen sonntagsabends im Wirtshaus ein paar Bier ausgegeben hat oder weil er Schützenkönig und Feuerwehrhauptmann war. Was weiß denn ich? Filz, nichts als Filz.«

Engel erinnerte Pia an einen Vulkan, der brennende Lava spuckte. »Haben Sie eine Idee, was Herr Schönfeld gestern auf Linn Aubachs Grundstück gewollt haben könnte?«, erkundigte sie sich. Letztlich waren Leute wie Engel, die lautstark und temperamentvoll ihre Meinung über Gott und die Welt vertraten, einfacher zu befragen als der Typ »verschlossene Auster«.

Siegfried Engel merkte auf. Die Frage schien ihn selbst zu interessieren. »Dann stimmt es also, dass er tot bei Linn Aubach im Gartenteich lag?«

»Am Gartenteich«, korrigierte Jansen.

»Wissen Sie, was? Entweder hat er ganz allgemein herumspioniert und wollte ihr mit irgendwas Ärger machen. Oder er wollte was von ihr. Sexuell, meine ich.«

»Also wirklich, Siegfried!«, sagte Jansen ärgerlich.

Doch der wandte sich wieder an Pia: »Wenn Sie das noch nicht wissen, machen Sie Ihre Arbeit nicht richtig. Burkhard war ein Voyeur, so nennt man das wohl. Auf gut Deutsch: ein Spanner. Der hat jedem Rock hinterhergeschaut, der geile alte Bock.«

»Ich glaube, das kriegen Sie auch in vernünftiger Wortwahl hin«, erwiderte Pia, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Ja, aber das regt mich alles so auf, da pfeife ich auf die Wortwahl. Was hier in Stüvensee abgeht, das stinkt zum Himmel. Und damit meine ich nicht meine Schweine. Wenn ich mit meinem Güllewagen durchs Dorf fahre, um Wasser zu einer meiner Weiden zu bringen, dann behaupten die Hirnis im Dorf, der Gestank wäre ihnen zu viel. Ich solle woanders langfahren. Oder besser gar nicht mehr fahren. Und warum? Ihre Wäsche auf der Leine würde nach Schweinen riechen! Die müssten sie dann noch einmal waschen – meinetwegen. Aber wissen Sie, was? Ich fahre nur Wasser! Die riechen mit den Augen! Die haben deswegen schon Anwaltsschreiben an mich schicken lassen! Wegen Was-ser!« Er spie die Worte förmlich aus.

Pia wich vor seiner feuchten Aussprache ein Stück zurück. »Möchten Sie Ihre Wut in einer Arrestzelle auskurieren, Herr Engel?«, fragte sie freundlich.

Engel stieß klappernd gegen ein paar Teller und schnaubte. »Schon gut. Jetzt wissen Sie ja, was in Stüvensee so los ist, Frau Kriminalkommissarin. Wollen Sie mich nun verhaften?« Er hielt ihr über den Tisch seine braun gebrannten Handgelenke mit dem hellen Haarflaum darauf hin.

»Nein. Danke für die Auskünfte. Vorerst war es das.« Pia sah ihren Kollegen an. »Oder hast du noch eine Frage?«

»Nein. Habe ich nicht.«

»Dann gehen wir wieder, Herr Engel. Und danke, wir finden allein hinaus.«

Bei der von Pia einberufenen Besprechung auf der Polizeistation in Stüvensee waren sie immerhin zu acht. Das sprengte beinahe die Kapazitäten des kleinen Besprechungsraums. An diesem warmen Mainachmittag ließ es sich hier drinnen nur mit weit aufgerissenen Fenstern aushalten.

Aus der Bezirkskriminalinspektion Lübeck waren aus den bekannten Gründen vorerst nur Broders und Pia in den neuen Fall involviert.

Holger Jansen und Dana Bremer aus Stüvensee kamen hinzu, die über hervorragende Ortskenntnisse verfügten, und noch vier weitere Kollegen von zwei näher gelegenen Polizeistationen. Außerdem standen ihnen das K6, die Kriminaltechnik aus Lübeck, und das Institut für Rechtsmedizin zur Verfügung. Auf deren Ergebnisse mussten sie allerdings noch mindestens bis zum morgigen Tag warten. Das war ein Fluch der Polizeiarbeit. Die Arbeit mit Spuren und an der Leiche musste umsichtig und gründlich erfolgen. Alles musste akribisch dokumentiert werden, damit es später vor Gericht verwendet werden konnte. Das alles kostete Zeit und Geld. Und das Warten kostete Nerven.

Nacheinander trug jeder seine Ergebnisse des heutigen Tages vor. Wie Pia schon befürchtet hatte, lag der Tatort, Linn Aubachs Kate, zu abgelegen, als dass Nachbarn etwas hätten beobachten können. Dafür gab es viel Klatsch und viele Vermutungen.

Dass Burkhard Schönfeld ausgesprochen unbeliebt gewesen war, hatte Pia ja schon selbst mitbekommen. Aber er schien den Ort regelrecht gespalten zu haben. Ein Teil der Leute beschuldigte ihn diverser Vergehen wie Korruption, Voyeurismus und übler Nachrede. Die anderen hielten ihn offenbar für eine Stütze des Dorfes, ja sogar für einen Wohltäter. Auf jeden Fall war er wohl auf Dorffestivitäten, bei der Freiwilligen Feuerwehr und bei Skatturnieren im Dorfgasthof äußerst spendierfreudig gewesen.

Als sie zum Ende der Besprechung kamen, wurde Dana Bremer ein wenig unruhig.

»Ist dir noch etwas eingefallen?«, fragte Pia die Kollegin. Sie war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Dana Bremer erinnerte Pia ein wenig an sich selbst in ihrer ersten Zeit bei der Polizei.

Dana Bremer sah zu Jansen hinüber. »Hast du schon von Linn Aubachs Besuch hier bei uns erzählt?«

Holger Jansen schüttelte den Kopf. »Letztlich war ja nichts dabei herausgekommen. Aber jetzt, wo du mich dran erinnerst …« Er räusperte sich. »Es gibt da noch eine Sache, die vielleicht doch wichtig sein könnte.«

»Worum geht es?«

»Es ist schon vier oder fünf Wochen her. Linn hat morgens gegen halb neun Uhr, auf ihrem Weg zur Arbeit, hier angehalten und kam zu mir herein. Dana war da gerade auf dem Fahrrad auf Streife durch Stüvensee unterwegs, um ein bisschen Präsenz zu zeigen.« Er nickte seiner Kollegin zu. »Jedenfalls kam Linn zu mir auf die Dienststelle, weil sie ziemlich verunsichert war. Sie meinte, dass in letzter Zeit wohl des Öfteren jemand auf ihrem Grundstück gewesen sei. Sie habe am vergangenen Abend jemanden gesehen, der sich dort in den Büschen herumdrückte.«

»Tatsächlich?«, fragte Broders.

»Erst dachte sie angeblich, das sei nur ein Zufall. Ein Spaziergänger, jemand, der seinen Hund sucht, Jugendliche …«

»Und dann?«

»Nachdem es mehrmals passiert war, wollte sie, dass die Polizei etwas unternimmt.«

»Und was habt ihr unternommen?«, fragte Pia. Kaum zu glauben, dass Holger Jansen und Dana Bremer jetzt erst damit herausrückten.

Jansen zuckte mit den Schultern. »Dana und ich sind übereingekommen, dass wir die umliegenden Polizeistationen informieren. Jeder, der Streife fuhr, sollte auch an Linns Haus vorbeifahren und kurz dort anhalten.«

Ein paar andere Kollegen nickten.

»Hat sich daraus etwas ergeben?«

»Es wurde nie irgendetwas beobachtet. Deshalb wurde die Aktion nach zwei Wochen wieder heruntergefahren.«

»Heruntergefahren?«

»Eingestellt.«

»Okay. Kam Frau Aubach noch einmal wieder? Hat sie Anzeige erstattet?«, wollte Pia wissen. Wenn an der Sache etwas dran war, klang es nach Stalking. Sie hasste das, schon weil man als Polizist so wenig dagegen unternehmen konnte. Bei Leuten, die nur mutmaßlich etwas Böses beabsichtigten, blieb der Polizei nicht viel Handlungsspielraum. Das enttäuschte und verunsicherte die Stalkingopfer natürlich zutiefst. Eingreifen konnte man seitens der Polizei meistens erst, wenn es zu spät war. Höchst frustrierend, das Ganze.

»Ja, ein paar Tage später.« Er räusperte sich. »Sie hat Anzeige erstattet. Obwohl sie wusste, dass es wahrscheinlich nichts bringt. Linn ist ja Anwältin und kennt sich aus. Wir waren da derselben Meinung.«

Pia runzelte die Stirn. »Wie ging es weiter? Ist sie noch mal wiedergekommen oder hat angerufen?«

»Nein. Ich habe seitdem nicht wieder mit ihr gesprochen.«

»Ihr habt nicht noch einmal nachgehakt?«

Dana Bremer räusperte sich. »Doch. Ich habe einmal bei ihr angerufen, aber sie war gar nicht mehr so interessiert. Vielleicht war es ihr im Nachhinein unangenehm. Sie wollte jedenfalls nichts mehr davon wissen.«

»Hm. Dann hatte der Spuk entweder aufgehört, oder sie hatte sich eine andere Taktik zurechtgelegt«, vermutete Pia. Es passte zu der Tatsache, dass Linn Aubach ihr gegenüber am Telefon das Stalking nicht erwähnt hatte, obwohl ein toter Mann in der Nähe ihres Gartenteichs gefunden worden war. »Wir werden sie nach ihrer Rückkehr dazu befragen«, sagte sie. Pia blickte auf ihre Uhr. Es war schon spät. Die meisten Kollegen hatten ihre heutige Schicht früh begonnen, viele hatten, wie sie selbst, noch nichts gegessen oder sich eine Pause gegönnt. »Wir sehen uns morgen um sieben wieder hier vor Ort. Ich hoffe, dass wir dann auch schon erste Ergebnisse der Spurensicherung erhalten. Schelling vom K6 hat mir vorhin getextet, dass sie einen interessanten Gegenstand aus dem Gartenteich gezogen haben. Möglicherweise handelt es sich um die Tatwaffe. Es bleibt also spannend.«