Krischan nahm ein uraltes Bündel Heu, das er extra für diesen Zweck im Schuppen auf einer Kiste lagerte, und schüttelte es kräftig über der Bodenluke aus. Staub und dünne Halme rieselten. Er nieste. Als die Staubpartikel sich abgesenkt hatten, zog er noch eine alte Kommode über die Luke und betrachtete dann sein Werk. Für jeden, der nicht Sherlock Holmes hieß, musste es so aussehen, als wäre da unten nichts als nackter Lehmboden. Außerdem hatte es den Anschein, als wäre monatelang niemand mehr hier drin gewesen. Zufrieden wischte er sich die feuchte Nase am Jackenärmel ab. Da hörte er ein feines Knacken, wie von einem dünnen Zweig, der brach.
Krischan erstarrte. Er reckte den Hals, um durch das halb blinde Schuppenfenster und die Spinnweben erkennen zu können, was draußen vor sich ging. Doch es war, im doppelten Wortsinn, aussichtslos.
René war vor etwa fünf Minuten, nachdem sie die letzte Lieferung in dem Gelass unter dem Schuppen verstaut hatten, wieder gegangen. Er hatte sich nochmals über die Verzögerung beschwert, die Jansens Anwesenheit vor dem Gasthof verursacht hatte. Angeblich hatte er es eilig gehabt. »Wichtige Geschäfte«, hatte René wie in rechtschaffener Entrüstung behauptet. Kleinkriminelle Drogendeals, hatte Krischans Verstand es sofort übersetzt. René war nur ein sehr kleines Licht am Drogenfirmament.
Wo er selbst dann auf dieser gedachten Leiter stand, wollte Krischan sich gar nicht erst ausmalen. Getreten wurde immer von oben nach unten. Dieser unangenehme Typ, Kojote, stand in der Hierarchie mindestens eine Stufe über René und damit deutlich über ihm selbst. Wenn der sich hier herumtrieb, konnte es wirklich unschön werden.
Krischan stand so still, dass er seinen rasenden Herzschlag spürte. Er hörte ein leises, aber doch deutlich wahrnehmbares Knirschen. Es war so verstohlen, dass klar war, dass der derjenige, der es verursachte, nicht von ihm gehört werden wollte. Dass sich jemand an den Schuppen heranschlich.
War Jansen zurückgekommen, weil er misstrauisch geworden war? Die Polizei oder Kojote? Eine Wahl wie zwischen Pest und Cholera. Für den Fall, dass es der durchgeknallte Oberbonze der ostholsteinischen Drogenmafia war, tastete Krischan nach etwas, mit dem er sich zur Not verteidigen konnte. Falls der Polizist gleich im Türrahmen stand, war das allerdings wenig hilfreich. Doch im Zweifelsfall entschied Krischan sich für die eigene körperliche Unversehrtheit.
Kojote war für seine Brutalität und Wutanfälle bekannt. Er sollte einmal einen Schüler krankenhausreif geprügelt haben, nur weil der für ein Selfie auf dessen Motorrad gestiegen war, erzählte man sich. Krischan hatte der Geschichte nicht so recht Glauben geschenkt, aber in seiner jetzigen Situation wollte er sich nicht darauf verlassen, dass sie nicht stimmte. Das Einzige, was er ohne weitere Bewegungen mit der rechten Hand erreichte, war eine alte Maurerkelle.
Seine Arme überzogen sich mit einer Gänsehaut, als die nur angelehnte Tür des Schuppens beinahe geräuschlos aufschwang. Krischan packte den Griff der Kelle fester.
»Hallo?«, brachte er mit kratziger Stimme heraus. »Wer ist da?«
»Was machst du hier, Krischan?«
Vor Erleichterung, seine Mutter nun im Türrahmen stehen zu sehen, bekam er weiche Knie. »Nichts«, antwortete er dümmlich. »Ich habe nur was gesucht.« Und dann, schon etwas sicherer: »Warum schleichst du dich so an? Ich wäre beinahe gestorben vor Schreck.«
»Das ist nur dein schlechtes Gewissen.« Sie stützte die Hände in die Hüften. »Und? Hast du gefunden, was du gesucht hast?«, fragte sie mit schmalen Augen. »Willst du mauern?« Sie klang spöttisch, doch da war ein drohender Unterton, der nicht zu überhören war.
»Nö.« Sein Verstand rotierte. »Ich dachte, wir hätten hier noch Tapetenkleister.«
»Erzähl mir keinen Mist. Ich habe euch zufällig hierhergehen sehen. Dich und diese kleine Ratte in dem lächerlichen Angeberauto.«
»Ich kann mich wohl treffen, mit wem ich will.«
»Aber nicht in meinem Schuppen. Und vor allem nicht, wenn du hier irgendeinen Scheiß auf meinem Grundstück abziehst.«
»Ehrlich, Ma. Es ist alles in Ordnung.«
Seine Mutter blickte sich wachsam um. Soweit Krischan es wusste, hatte sie den Kellerraum unter dem Schuppen längst vergessen. Ganz sicher sein konnte er sich da nicht, doch sie hatte den Raum nach seinem Unfall als Kind nie mehr erwähnt. Sie atmete tief ein und aus. »Ich verlass mich darauf, dass du dich für das Richtige entscheidest, Krischan. Du bist mein Sohn. Du bist alles, was ich habe«, sagte sie nach einem Moment des Schweigens. »Und was immer das ist, was du hier tust: Es muss endgültig aufhören.«
Er nickte mit trockenem Mund.
»Schaffst du das allein, oder benötigst du meine Hilfe?«
»Ich schaffe das«, antwortete er. Mit einem Mal brannten Tränen hinter seinen Lidern.
Sie musterte ihn aufmerksam. »Ich dachte, das wäre jetzt vorbei. Du hattest es mir versprochen. In so eine Situation wie mit Burkhard, jemanden anflehen zu müssen, damit er dich nicht anzeigt, werde ich nie, niemals wieder geraten. Hast du das verstanden?«
Er nickte.
»Was wollte die kleine Ratte also von dir? Bedrohen sie dich, weil du nicht mehr mitmachst?«
Krischan schluckte.
»Warte.« Carmen Lebrecht drehte sich um und blickte durch die Türöffnung hinaus, wohl um zu prüfen, ob sie tatsächlich allein hier waren. Dann schloss sie die Tür hinter sich. »Wir sind ganz entre nous «, bemerkte sie sarkastisch. »Rede mit deiner alten Mutter.«
»Ich habe denen gesagt, dass ich raus bin. Da habe ich dich nicht belogen. Aber die wollten als Entschädigung, dass ich ihnen bei einer letzten Lieferung helfe.«
»Wie sollst du ihnen helfen?«
»Ich tue dabei eigentlich gar nichts. Es ist nur so …« Verdammt, wie blöd das klingt!, dachte er. Als wäre er ein Volldepp. Wie hatte er sich nur auf den Mist einlassen können?
»Rede weiter, Krischan.« Sie zog ihr Handy hervor. »Sag mir die Wahrheit, oder Holger ist in zehn Minuten hier.« Diesen entschlossenen Gesichtsausdruck hatte er noch nie bei ihr gesehen. Ihm wurde flau vor Angst.
Krischan trat demonstrativ mit dem Fuß auf. Es klang wie erwartet hohl, und der Staub wirbelte auf. »Hier drunter ist doch dieser Hohlraum, Ma. Erinnerst du dich? Dieser Keller, in den nur eine Leiter hinunterführt«, erklärte er ihr. »Unter dem Stroh und dem Staub ist die alte Holzluke im Boden, durch die ich damals eingebrochen bin.«
Seine Mutter nickte. Sie schien den einen Meter siebzig hohen und ungefähr zwei mal drei Meter großen Raum bis zu diesem Augenblick tatsächlich vergessen zu haben.
»Jetzt … lagert dort etwas Ware, bis René sie in ein paar Tagen wieder abholen kann. Dann bin ich für immer aus allem raus«, beteuerte er.
Carmen blickte ungläubig zu Boden und trat einen Schritt vor. »Versteh ich das richtig? Hier unter uns lagern beschissene Drogen? Und du glaubst, dass diese Leute, für die du das machst, dich danach in Ruhe lassen?«
Er hob ungelenk die Schultern. »Ich hatte keine Wahl.«
Sie starrte ihn an. »Wir haben immer eine Wahl, Krischan. Immer.«
»Aber was sollen wir denn nur tun?«
»Wir?« Carmen schüttelte leicht den Kopf und schaute auf ihr Handy. Ihre Augen waren schmal vor Wut. Sie kam ihm auf einmal vor wie eine Fremde. Wie gut kenne ich meine Mutter wirklich?, schoss es ihm in diesem Moment durch den Kopf. Würde sie hier und jetzt die Polizei anrufen? Oder jemand ganz anderes?
» Das riecht ja gut hier. Gibt es was zu feiern?« Vicky Bruhns betrachtete mit großen Augen den für fünf Leute gedeckten Tisch, die riesige, dampfende Auflaufform mit Lasagne und die Schüssel mit grünem Salat daneben.
»Wir hatten noch reichlich Bolognesesauce im Gefrierschrank. Da habe ich die mal verwertet. Ich dachte, was Gutes zu essen können wir alle heute Abend gebrauchen.« Ole Bruhns fühlte sich tatsächlich ganz schwach vor Hunger. Es war ein langer, aufreibender Tag gewesen.
»So spät abends sollten die Kinder eigentlich nicht mehr so schwer essen«, wandte Vicky ein.
»Die werden es schon verkraften. Außerdem habe ich ihnen Lasagne versprochen, wenn sie ihre Zimmer aufräumen.«
»Sag nicht, das haben sie tatsächlich getan?«, fragte Vicky in gespielter Fassungslosigkeit.
»Ohne Aufräumen keine Lasagne.« Er grinste.
»Das ist übelste Erpressung! Ich werde mich ans Jugendamt wenden«, murrte Friederike, die gerade hereingekommen war. Ein gern genommener Scherz im Hause Bruhns.
»Mein Zimmer ist fertig!« Oskar umrundete seine Schwester im Laufschritt und setzte sich auf seinen Tripp-Trapp-Stuhl. Den werden wir auch bald ausmustern, dachte Ole Bruhns. Die Kinder wurden so schnell groß.
»Oskar, du bist so ein Streber«, sagte Friederike. Sie war die Mittlere und musste sich sowohl gegenüber dem jüngeren Bruder als auch der älteren Schwester behaupten. Das war gewiss manchmal anstrengend.
Tilda kam als Letzte in die Wohnküche, voll geschminkt und gestylt, mit einem hochmütigen Ausdruck im Gesicht. Ihre Älteste war gerade ständig auf Krawall gebürstet. Die von ihr beanspruchte Rolle jenseits der altklugen, meistens vernünftigen Friederike und dem Sonnenschein Oskar.
»Papa, Mama! Friederike hat einfach alles unters Bett geschoben!«, rief Oskar.
»Petze! Du bist so eine Petze!«, giftete seine Schwester.
»Lasst uns jetzt essen.« Vicky griff nach dem Auffülllöffel. Alter vor Schönheit!«
Nachdem die Kinder fertig gegessen und den Esstisch verlassen hatten mit der nach Lebensalter unterschiedlich dringlichen Aufforderung, sich fürs Zubettgehen zurechtzumachen, hob Ole Bruhns die angebrochene Flasche Primitivo noch einmal an. »Noch ein Glas, Vicky?«
Sie ließ sich einschenken und trank mit geschlossenen Augen ein paar Schlucke.
Ole betrachtete sie. Er hoffte, dass sie sich allmählich entspannte und dass sich die Zornesfalte zwischen ihren Brauen milderte.
»Ich wollte dich noch was fragen, Ole«, sagte Vicky stattdessen.
»Und ich will dir was erzählen«, antwortete er, nicht bereit, sich von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. Wofür hatte er die Lasagne gezaubert, den Wein aus dem Keller geholt, wenn nicht, um für gute Stimmung bei seiner Frau zu sorgen? »Wir werden … einen kleinen Familienzuwachs bekommen.«
»Wie? Ich verstehe nicht …«, stammelte Vicky. »Du meinst doch nicht etwa einen Hund, oder?«
»Nein, ich …« Er hatte erzählen wollen, dass sein sieben Jahre alter Computer ein jüngeres Geschwisterchen bekommen hatte. Doch warum sagte er nicht freiheraus, dass er sich einen neuen Gaming-Computer zugelegt hatte? Weil Vicky trotz seiner Bemühungen nicht gut gelaunt war? Weil sie – das traf es noch besser – mutmaßlich irgendeinen »Anschlag« auf ihn vorbereitete? Sie hatte ihn während des Essens mehrmals nachdenklich angestarrt, als sie wohl geglaubt hatte, er sähe es nicht. Hatte sie womöglich schon gemerkt, von welchem Konto er das Geld abgezweigt hatte? Nicht von seinem Spaß-Konto, nicht vom Haushaltskonto, die beide ziemlich erbärmlich aussahen, sondern von dem Konto, auf dem sie für den nächsten Familienurlaub sparten.
»Nein, es ist kein Hund«, sagte er stattdessen.
»Da bin ich aber froh« Sie blickte ihn immer noch irritiert an. »So etwas würdest du doch nicht ohne Absprache mit mir entscheiden, oder?« Ihr Ton war scharf und unnachgiebig.
»Nun mach nicht so ein Theater. Niemand hier würde ein Tier anschaffen, ohne es mit dir abzusprechen. Es sei denn, die Kinder bringen mal wieder Läuse mit nach Hause.«
Doch sie lächelte nicht. »Du bist manchmal so impulsiv«, klagte sie. »Schlimmer als die Kinder.«
»Was soll das denn jetzt heißen?«
»Dass du nicht vorausplanst. Du hast einen Wunsch und zack, muss er erfüllt werden, ohne Sinn und Verstand. Wie bei einem Kleinkind.«
Er erhob sich. »Das muss ich mir nicht von dir bieten lassen. Nicht diesen Mist!«
»Psst. Die Kinder …«
Seine Faust knallte auf den Tisch, dass die Teller klapperten. Vicky riss erstaunt die Augen auf. Sie sah beinahe ängstlich aus. Ole Bruhns fühlte eine gewisse Befriedigung, einen Kontrapunkt zu ihren Sticheleien gesetzt zu haben. Von dem neuen Computer würde er ihr heute bestimmt nicht erzählen, so mies, wie Vicky drauf war. Doch er hatte das Paket bereits bei Fabian abgeholt und in sein Arbeitszimmer gestellt. Lange konnte er das also nicht mehr hinauszögern.
Vicky stand wie ferngesteuert auf, räumte die Sachen vom Tisch hinüber auf die Küchenarbeitsplatte.
Als Vicky zurückkam und die Lasagne-Form anhob, blickte sie ihm kühl in die Augen. »Mir gibt deine mangelnde Impulskontrolle wirklich zu denken.« Sie schluckte. »Falls da irgendwas ist, was du mir sagen willst: Ich werde dir helfen, egal, was du getan hast.«
Eine gefühlte Ewigkeit wusste er nicht, was er darauf antworten sollte. »Was meinst du?«, fragte er irritiert.
»Du warst am Montag ungewöhnlich lange laufen«, erwiderte sie, die Auflaufform immer noch in beiden Händen haltend. »Gehört habe ich dich erst nach halb neun.«
»Ich habe noch bei jemandem reingeschaut.« Er stöhnte in gespielter Genervtheit. »Darf ich das etwa nicht?«
»Hast du ihn getroffen?«
»Wie bitte?«
»Du hast meine Frage schon richtig verstanden. Hast du Burkhard getroffen?«
»Was?«
»Oder, besser gefragt, warst du bei ihr ?«
»Vicky, was soll das?«
»Und hast du Burkhard zufällig dort angetroffen?«
»Nein. Das habe ich nicht.«
»Du warst doch bei Linn!«
»Himmelherrgott! Wie kommst du darauf? Außerdem war sie an dem Abend schon verreist.«
»Was du nicht alles weißt!« Vicky schüttelte resigniert den Kopf. »Über diese Frau.«
»Du solltest etwas vorsichtiger sein mit dem, was du sagst. In Anbetracht dessen, was gerade in Stüvensee passiert, meine ich.« Er hörte selbst, dass seine Stimme bedrohlich klang. Doch das lag nur daran, dass sie diese Anschuldigungen gegen ihn erhob. Ole Bruhns streckte zur Besänftigung die Hand nach Vicky aus.
Sie ignorierte die Geste. »Also warst du dort?«
»Ich war bei keiner Frau.«
»Und wen hast du dann besucht?«
»Das ist unwichtig. Vicky, du musst mir einfach glauben.«
»Das ist nicht so einfach«, flüsterte sie. Nachdem sie nun das schmutzige Geschirr in die Küche befördert und dort achtlos stehen gelassen hatte, zog Vicky sich ins Wohnzimmer zurück. Doch etwas an ihrem Gang, der Art, wie sie den Kopf leicht geneigt hielt, sagte ihm, dass das Thema noch nicht für sie erledigt war.