Holger Jansen ächzte und murmelte etwas vor sich hin. Was tat er da? War Dana in Gefahr? Da die Arrestzellen dieses Polizeireviers durch Gitter vom Vorraum abgetrennt waren, konnte Fabian Ruschke sehen, was dort passierte. Und Pia hatte Blickkontakt mit Ruschke. Als er Pia mit hochgezogenen Brauen intensiv anblickte und ganz leicht nickte, trat sie entschlossen vor.
»Stopp! Hände hoch! Ich richte meine Waffe auf dich!«, rief sie laut.
Holger Jansen stand über Dana Bremer gebeugt da, die reglos zu seinen Füßen lag. Auch ihre Handgelenke waren mit Handschließen gefesselt. Eine ungeheure Wut erfasste Pia. Sie waren Kollegen, sie alle drei. Was immer er vorhatte, es war ungeheuerlich!
Holger Jansen hob rasch den Kopf. Er sah Pia in die Augen. Sein Gesicht verzog sich vor Schreck und kurz darauf auch vor Wut.
»Nimm sofort die Hände hoch! Ich habe keine Skrupel, auf dich zu schießen!«, stieß sie hervor.
Ehe sie sich’s versah, hielt er Dana Bremer seine Pistole an den Kopf. »Das würde ich lieber sein lassen, wenn die liebe Dana das hier überleben soll«, entgegnete er. »Ich drücke sofort ab. Wenn du keine Skrupel hast, auf mich zu schießen«, er lachte auf, »dann habe ich schon lange keine mehr.«
»Es ist aus, Jansen. Die Kollegen sind informiert. Alle sind auf dem Weg hierher.«
»Ach, wirklich?« Er grinste boshaft. »Du bist doch für deine Alleingänge bekannt. Und selbst wenn: Das dauert noch, bis die da sind – bei der Suppe da draußen. Hast du nicht den Verkehrsfunk gehört? Zwischen hier und Lübeck gab es reihenweise Unfälle.« Er stieß Dana mehrmals mit dem Fuß an.
Sie zuckte und stöhnte, öffnete die Augen und blinzelte orientierungslos.
»Komm hoch, Schätzchen!« Jansen zerrte an ihr, bis sie erst kniete und dann wankend vor ihm stand. Gott sei Dank lebte sie und war einigermaßen bei Bewusstsein! Doch die Pistole befand sich weiterhin an ihrer Schläfe.
»Du kommst hier nicht mehr raus, Jansen. So machst du es nur noch schlimmer«, sagte Pia.
»Schlimmer geht es sowieso nicht mehr!«, stieß er hervor. »Und es ist alles eure Schuld! Deine Schuld!« Die Pistole schwenkte kurz zu ihr, zielte ihr zwischen die Augen.
Pia blickte in die Mündung der Waffe. Die Erkenntnis, dass er genau jetzt abdrücken und ihrem Leben ein Ende setzen konnte, durchfuhr sie eiskalt. Felix!, dachte sie panisch. Das durfte nicht sein! Er sollte nicht allein bleiben. Doch da ist auch noch Marten, schoss es ihr durch den Kopf. Er würde sich gut um ihren gemeinsamen Sohn kümmern. Eine seltsame Ruhe überkam Pia. Sie blieb einfach stehen. Jansen konnte sie treffen, wenn er es wirklich wollte. In dem kleinen Raum gab es kein Entkommen.
»Du kannst aber auch nicht lockerlassen, was?«, fragte Jansen sie böse. Es schien ihn zu ärgern, dass sie so gefasst dastand.
»Lass Dana gehen. Das ist etwas zwischen uns beiden.«
»Dana brauche ich noch.«
»Wenn du sie gehen lässt, ist das nur zu deinem Vorteil«, erwiderte Pia. »Das wird zu deinen Gunsten berücksichtigt werden.«
Wieder das unheimliche Auflachen. »Niemand hilft einem. Hast du das noch nicht gelernt? Besonders dann nicht, wenn man elf Jahre alt ist und die Mutter vom Vermieter vergewaltigt wird. Immer und immer wieder. Jahrelang. Mich hat er auch verprügelt. Nur deswegen hat sie sich um den Verstand gesoffen. Aber hat das jemanden interessiert? Nein! Niemanden! Hättet ihr mich hier einfach mein Ding machen lassen, du und die anderen, dann müsste ich das jetzt nicht tun. Burkhard Schönfeld hatte den Tod mehr als verdient. Und Linn ebenso.«
»Wieso Linn Aubach?«, fragte Pia.
»Die war als seine Anwältin doch sein Mietmaul. Wenn mal einer gegen ihn aufgemuckt hat, hat sie ihn rausgehauen. Ich war so ein Idiot: Ich habe mich ihr anvertraut, ihr gesagt, was Schönfeld meiner Mutter und mir angetan hat. Was glaubst du, was sie gesagt hat? Sie meinte, es sei doch schon so lange her, ich solle es einfach vergessen.« Sein Auflachen klang jetzt eher wie ein Weinen. »Vergessen? Als könnte man so etwas je vergessen! Sie wollte mir partout nicht helfen, gegen ihn vorzugehen. Im Gegenteil. Sie hat mich sogar ausgelacht. Gesagt, ich sollte langsam mal über diese alte Geschichte hinwegkommen. Und da sie leider von meinem Hass auf Schönfeld wusste, war sie eine Gefahr für mich. Sie hätte mich verraten können. Also musste sie auch sterben. Linn hatte es ebenso verdient.«
Jansen hielt seine Pistole nun wieder an Dana Bremers Schläfe gepresst. Er verlor mehr und mehr die Nerven. Das sah Pia an den Bächen von Schweiß, die ihm über das Gesicht liefen, an dem Zittern seiner Hand. Sie hörte es an seiner sich überschlagenden Stimme.
»Bitte, Holger!«, wisperte Dana.
»Ich knall sie ab, wenn du nicht abhaust, Pia. Schieb mir deine Pistole rüber. Aber langsam. Ich will alles sehen.« Seine Finger am Abzug krümmten sich leicht. Er war wie von Sinnen. Jansen könnte sogar, ohne es zu beabsichtigen, den Druckpunkt überschreiten.
»Schon gut!« Pia tat, was er gesagt hatte. Ihre Pistole schabte über die Tischplatte. Jansen beugte sich vor und steckte sich die Waffe mit der Linken in den Hosenbund. »Was hattest du überhaupt vor?«, fragte Pia ihn, nur um Zeit zu gewinnen.
Er war zu eitel, zu sehr von sich überzeugt, um sich die Chance entgehen zu lassen, mit seinem Plan anzugeben. »Ich hätte gesagt, Fabian Ruschke, unser ›Beschuldigter‹, hätte Dana in der Zelle angegriffen und ihr die Waffe abgenommen. Das hätte auch die Beule an ihrem Kopf erklärt, die ich ihr verpasst habe. Sie war einfach unvorsichtig. Und dann hätte er erst sie und danach sich selbst erschossen. Der liebe Ruschke konnte es nicht ertragen, dass aus ihm ein Mörder geworden war, dem eine lebenslange Haftstrafe drohte. Da wollte er lieber sofort Schluss machen. Und das alles wäre so schnell gegangen, ich hätte einfach nichts tun können.«
»Das hätte man dir niemals abgekauft.«
»Natürlich hätte man das!«, schrie er Pia an. Der Lauf der Pistole deutete abwechselnd auf Dana und auf sie.
Was hatte er nun vor? Jansen konnte versuchen, die Geschichte von der unglückseligen Schießerei in der Zelle auf drei Personen auszudehnen: Dana, Ruschke und sie. Nicht, dass er später je damit durchkommen würde. Doch sein von Panik und Hass umnebelter Verstand könnte ihm das durchaus vorgaukeln. Er dachte nicht mehr rational. Das machte ihn so gefährlich.
»Was guckst du so? Ich gehe niemals ins Gefängnis. Ich bin Polizist!«, schrie er sie an. »Weißt du nicht, wie sie mit Polizisten dort verfahren?!«
»Aber Dana hat dir doch nichts getan. Lass sie gehen! Nimm mich als Geisel.«
»Nein, Dana kommt mit mir, und zwar so lange, wie ich sie brauche.«
Danas Augen weiteten sich vor Schreck. Sie zerrte an den Handschließen. Sie war anscheinend wieder voll bei Bewusstsein und bekam alles mit.
»Ich würde ja gern noch mit dir plaudern, Pia, aber wir müssen jetzt gehen.« Jansen packte Dana fester und verließ, seine Kollegin wie einen Schutzschild vor sich haltend, den Raum vor den Arrestzellen. Er sah so aus, als würde er, ohne zu zögern, abdrücken, wenn sie sich ihm näherte. Daran, Pia mit in Ruschkes Zelle einzuschließen, dachte er nicht. Er wusste wohl auch, dass die Zeit drängte. Trotz des Nebels und des Verkehrschaos könnte sehr bald Verstärkung eintreffen.
Pia musste mit ansehen, wie er mit Dana als Geisel um die Biegung des Flurs herum verschwand. »Bleib, wo du bist, sonst ist sie tot!«, schrie er sie nochmals an.
Als er weit genug entfernt war, zog Pia ihr Handy hervor. Sie rief Rist an. »Wo zum Teufel bleibt ihr? Jansen verlässt mit Dana als Geisel das Gebäude«, flüsterte sie.
»Wir mussten runter von der Autobahn. Da sind ein paar Wagen aufeinander aufgefahren. Wir kommen jetzt über die Landstraße.« Rist klang hochgradig genervt.
Pia schilderte ihm kurz, was passiert war. »Wie lange braucht ihr noch?«
»Zehn bis zwölf Minuten.«
Pia stöhnte auf. »Das dauert zu lange!« Bis dahin war Jansen sonst wohin verschwunden! Ein durchgeknallter Polizist, der nichts mehr zu verlieren hatte, mit einer Kollegin als Geisel und bewaffnet mit zwei Pistolen.
Im Kellerflur des Polizeireviers war niemand mehr zu sehen. Pia hatte nicht gehört, dass die Tür nach oben zugeschlagen war. An Jansens Stelle würde sie auch versuchen, über die Kelleraußentreppe zu entkommen. Der Vordereingang lag zu sehr wie auf dem Präsentierteller.
»Hallo«, rief Fabian Ruschke drängend. »Helfen Sie mir. Machen Sie mich los!«
Pia zuckte zusammen. Sie hatte Ruschke in der Arrestzelle kurzzeitig vergessen. Sie schüttelte stumm den Kopf. Er musste noch eine Weile dort bleiben, wo er war.
Sie lief die Treppe hinauf, den Flur entlang in den Wachraum. Er lag hell erleuchtet, aber menschenleer da. Eines der Telefone blinkte. Pias Blick fiel auf den Waffenschrank im Hintergrund, doch sie besaß dafür keinen Schlüssel. Sie konnte sich keine Ersatzpistole besorgen.
Wohin war Jansen mit Dana verschwunden? Pia lief zum Vordereingang hinaus und versteckte sich hinter der Lorbeerhecke. Auch wenn Jansen über die Kellertreppe geflohen war, führte ihn der Weg am Eingang des Polizeireviers vorbei. Mit Dana als Geisel hatte er wahrscheinlich nicht den schulterhohen Zaun überwunden. Sie musste ihm folgen, sonst verlor sie ihn. Doch wenn er sie sah, würde er auf sie schießen, um sie auszuschalten. Und Dana Bremer wäre ebenfalls in Lebensgefahr.
Pia lief durch die Pforte zur Straße. Trotz des Nebels konnte sie erkennen, dass der Streifenwagen nach wie vor als einziger Wagen auf dem Parkplatz vor dem Polizeirevier stand. Jansen hatte ihn nicht als Fluchtfahrzeug benutzt. Pia hatte auch kein weiteres Auto starten gehört. Demnach war er anscheinend zu Fuß auf der Flucht.
Weit würde er so nicht kommen. Vor allem nicht, wenn er auch noch seine Kollegin gegen ihren Willen mitnahm. Es sei denn, er hatte irgendwo in der Nähe einen Wagen für sich bereitgestellt. Ein Plan B, falls Plan A, alles Fabian Ruschke in die Schuhe zu schieben, nicht funktionieren sollte.
Wohnte Jansen eigentlich in Stüvensee? Er könnte auch auf dem Weg nach Hause sein, um sich dort zu verbarrikadieren oder um seinen Privatwagen zu holen. Das eine Vorhaben klang so aussichtslos wie das andere. Doch ein verzweifelter Mensch griff nach jedem Strohhalm.
Pia tastete sich vor ins Nichts. Da Jansen auf der Flucht kaum die Chaussee entlanglaufen würde – sie würde das an seiner Stelle jedenfalls tunlichst vermeiden –, bog sie nach links. Sie wusste, dass die Straße in einem Bogen bergab zu einem Schulzentrum führte. Linker Hand sah sie schemenhaft die erleuchteten Fenster zweier Häuser, rechts konnte sie kaum mehr erkennen als die milchige Aura einer Straßenlaterne unter einem Baum. Und weiter hinten noch eine. Dahinter lagen ein Teich und eine Art Wildnis. Sehen konnte Pia die Umgebung nicht. Der Nebel hatte alles verschluckt.
Holger Jansen hatte sie aus der Kellertür hinaus- und die Treppe hinaufbugsiert. Dana Bremer fürchtete, dass ihr Horrortrip noch nicht so bald zu Ende sein würde. Sie hatte gehofft, das Polizeirevier wäre längst umstellt. Die Hoffnung hatte sich nicht erfüllt.
Nun stolperte sie mit einer Pistole im Rücken durch dichten Nebel. Sie versuchte, sich zu orientieren. Dana Bremer war diese Straße schon entlanggefahren und auch -gegangen, als es mal Probleme in der Schule gegeben hatte. Doch Jansen drängte sie nach rechts, wo sich ihres Wissens nur eine Wiese und Bäume befanden. Sie stolperte über unebenen Untergrund. Zweige streiften sie, Dornenranken zogen an ihren Hosenbeinen. Weglaufen war zwecklos, selbst im Nebel. Jansen war nicht nur gut in Form, er war auch ein hervorragender Schütze. Und das Schlimmste war, dass er anscheinend nichts mehr zu verlieren hatte. Aber Dana Bremer wollte nicht sterben! Nicht so, nicht heute und nicht hier.
Sie schrie auf, als sie mit dem Fuß an einer Baumwurzel hängen blieb, strauchelte und im nassen Gras landete.
»Los, aufstehen!«, zischte er und zerrte sie hoch.
»Wo willst du überhaupt hin?«
»Halt die Klappe. Lauf lieber!« Seine Stimme war vor Stress verzerrt.
»Ich kann nicht mehr.« Sie blieb stehen, beugte sich vornüber und keuchte. Es war keine Show. Die Panik schnürte ihr die Luft ab, und ihr dröhnte der Kopf bei jedem Schritt, den sie vorwärtshastete, mehr.
»Dana, ich verletze dich nur ungern, aber glaub mir, ich schieße auf dich, wenn du nicht tust, was ich dir sage. Also setz dich in Bewegung, und halt den Mund!« Sie spürte den Lauf der Pistole, der zwischen ihre Schulterblätter stieß.
Das Gelände wurde noch unwegsamer und ging nun leicht bergan. Das Wäldchen grenzte an ein Feld, erinnerte sie sich. Der Acker lag links neben der Landstraße, hinter einer Reihe von Einfamilienhäusern. Wenn man dort weiterfuhr, kam man zum Klärwerk und zu Gebäuden der Freiwilligen Feuerwehr. Hatte Jansen dort irgendwo ein Auto abgestellt? Wenn sie mit ihm in ein Fluchtfahrzeug steigen musste, war sie so gut wie tot. Also besser nicht dort ankommen!
Dana Bremer ging vor Jansen am Feldrand entlang, keuchte und stolperte beinahe bei jedem Schritt. Sie stieß mit dem Schienbein gegen einen heruntergefallenen dickeren Ast und stieg so unauffällig wie möglich darüber hinweg.
»Dahinten sind Leute«, sagte sie. Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Straße, um Jansen von dem Hindernis abzulenken.
»Da ist niemand«, gab er zurück. Sie hörte einen überraschten Schrei und dann Jansens Aufprall auf den Boden.
Dana rannte los. Sie schlug Haken, doch sie sah so gut wie nichts. Sie konnte jeden Moment selbst an etwas hängen bleiben und stürzen oder gegen einen Baumstamm prallen. Noch ein paar Meter, dann würde der Nebel sie verschlucken … Dann hatte sie es geschafft!
Ein Schuss ertönte. Und noch einer. Ein Schlag traf sie hart in der Schulter und riss sie herum. Den wahnsinnigen, brennenden, alles übertönenden Schmerz und das warme Blut fühlte sie erst, als sie auf dem Ackerboden lag.