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Ich habe eine Schwäche für Züge. Diese warme, schaukelnde Welt aus gelblichem Neonlicht voller Menschen, die du nicht kennst, von denen du dir jedoch ein Bild machen kannst: durch die Kleidung, die sie tragen, die Gespräche, die sie führen, und die Art von Brötchen, die sie am Kiosk gekauft haben. Stell dir mal vor, der Zug würde jetzt entgleisen – dann wärst du auf diese Gruppe unbekannter Menschen angewiesen. Wer würde eine führende Rolle einnehmen, wer würde vor Angst durchdrehen, wer eigene Entscheidungen treffen? Ich stelle mir immer vor, ich würde dann versuchen, möglichst viele Menschen zu retten, auch wenn das vielleicht mein eigenes Leben in Gefahr bringen würde. Während so einer Zugfahrt kann ich endlos herumfantasieren.

Und dann gibt es noch die Welt auf der anderen Seite des Fensters, wo Autos, Bäume und Häuser verschwommen vorbeiflitzen. Verrückterweise sieht man fast nie Menschen. Und doch weiß man, dass sie da sein müssen. Jeder Mensch in diesem Zug hat jemanden in dieser anderen Welt, diese Leute können nicht plötzlich verschwunden sein. Doch es fühlt sich wie ein Paralleluniversum an. Etwas, das es nicht gibt, wenn man im Zug sitzt.

Nur in einem einzigen Moment begegnen sich diese Welten: wenn der Zug an einem Gleis hält und sich die Türen kurz öffnen.

»Anne!«

»Hä, was?« Ich schaue erschrocken auf und drehe den Deckel auf meine Wasserflasche.

»Träumst du?« Maxime zieht eine Augenbraue hoch. »Guck mal auf dein Handy. Ich habe etwas für dich entdeckt.«

»Oh, sorry«, murmele ich und sehe, dass ich jede Menge Nachrichten von Maxime bekommen habe.

Ähem, Anne? 😊

Anne!

Anne!

Anne!

Wenn du jetzt nicht reagierst, lösche ich dich. 😀

Ich muss grinsen und tippe zurück:

Himmel, gehst du dir nicht manchmal selbst auf die Nerven? 😛

Nein 😘

Guck mal links von dir, drei Sitze weiter am Fenster.

Ich drehe den Kopf. Ein Junge mit blonden Haaren und AirPods schaut nach draußen.

Wow, der hat echt was! 😤

Ich würde mich ranschmeißen.

Aber du hast einen Freund.

Nichts ist für die Ewigkeit ... 😊

Max!

Ein Mädchen setzt sich neben ihn. 😃

Fuck!

Sie nimmt seine Hand ...

Warum suchst du immer die falschen Jungs für mich aus? 😭

Uppps. 😇 ♥♥♥

Mit einem Grinsen legt Maxime ihr Handy neben sich. »Noch fünf Minuten, dann sind wir in Eindhoven.«

»Hast du eine Adresse?«

»Nein, meine Mutter hat auch schon gemeckert. Aber ich weiß, wie wir hinkommen. Wir müssen die Buslinie 18 nach Riethoven nehmen und dann ein kleines Stück nach Walik laufen. Schon sind wir da.«

»Klingt großartig.«

»Jetzt hör doch mal auf mit diesen sarkastischen Bemerkungen, es wird bestimmt super.« Aus Maximes Blick kann ich nicht herauslesen, ob sie wirklich verärgert ist oder nicht. Sie pustet eine blonde Strähne aus ihrem Gesicht, und die Sommersprossen auf ihrer Nase bewegen sich, als sie eine Grimasse zieht. Ich kenne sie schon lange, deswegen weiß ich auch, dass sie in einem fort an Kleinigkeiten herumkritisieren kann, weil sie immer denkt, sie hätte recht.

Ich sitze sowieso nur hier, weil Maxime mich mehr oder weniger dazu genötigt hat. Sie hat mich in einer Pause in der Schule überredet. »Das wird toll. Du musst einfach mit, sonst hockst du die ganzen Ferien über allein mit deinen Eltern zu Hause und grübelst in deinem Zimmer vor dich hin. Und ohne dich erlaubt meine Mutter es mir nicht.«

Das war also der eigentliche Grund, schoss mir durch den Kopf.

Wenn ich auf etwas keine Lust hatte, dann auf eine Diskussion mit Maxime in einer überfüllten Aula. Ich wollte nicht, dass sie Dinge herausposaunen würde, die keiner hören sollte. In den vergangenen Monaten hatte ich versucht, möglichst unsichtbar zu sein und nicht aufzufallen. Um alles zu vergessen ... Damit Maxime mit der Drängelei aufhörte, habe ich also gesagt, ich würde mitfahren.

Ich rutsche tiefer in meinen Sitz. »Wann kommt der Rest?«

»Oh, die sind schon da. Lizzy ist heute Morgen schon früh mit ihrem Cousin und dem anderen Jungen von Utrecht losgefahren. Sie sind inzwischen ...«

Maximes Handy piepst, und sie ist sofort abgelenkt.

»Warte kurz«, murmelt sie. Ihre Daumen fliegen nur so über das Display. »Ich muss Mick schnell etwas zurückschicken. Sonst merkt er was.«

»Was? Wovon redest du?«

Sie tut so, als würde sie mich nicht hören.

Bevor ich weiterfragen kann, wird durchgesagt: »Der nächste Halt ist Eindhoven, die Endstation dieses Zuges. Bitte denken Sie beim Aussteigen an Ihre persönlichen Gegenstände.«

Es ist, als würden plötzlich alle aufwachen. Leute stehen auf, nehmen ihr Gepäck und bewegen sich zum Waggonende. Die Durchsage des Schaffners geht im Stimmengewirr unter.

Auch Maxime steht auf. Sie steckt ihr Handy in die Jackentasche und schenkt mir ein schiefes Lächeln. Wir reden später weiter , sagt es mir.

Hm, na dann , denke ich.

Ich trinke noch einen Schluck Wasser und stopfe die fast leere Flasche in meinen Rucksack zurück. Mit unserem Gepäck zwängen wir uns durch den schmalen Gang nach vorn. Der Zug kommt mit einem Ruck zum Stillstand. Während sich die Türen aufschieben, starre ich zögerlich hinaus. Plötzlich bin ich so müde. Ich will das alles gar nicht. Ich will zurück.

Maxime versteht es nicht und zieht mich am Jackenärmel nach draußen.

»Hallo, was machst du denn da? Du blockierst den Ausstieg.« Kopfschüttelnd schaut sie mich an.

»Ich, äh ... Ich dachte, ich hätte mein Handy im Zug liegen lassen«, denke ich mir aus. »Aber zum Glück habe ich es hier.« Ich klopfe auf meine Jackentasche.

»Schön, dann gehen wir jetzt zum Busbahnhof.« Maxime gestikuliert in Richtung Rolltreppe. »Und hörst du jetzt mal auf, so mürrisch zu gucken?«

»Sei nicht so gemein.«

»Es ist die Wahrheit.« Sie streckt mir die Zunge heraus und geht los.

Ich folge ihr eilig. Unten bahnen wir uns einen Weg durch die Massen in der Bahnhofshalle. Maxime erzählt, dass sie für den Abend eingekauft habe, für ein Nudelgericht mit Feta, das wirklich superlecker und kinderleicht zu machen sei. Und dass die anderen auch etwas zu essen oder trinken mitbrächten, aber wir die Einkäufe für die kommenden Tage noch erledigen müssten und uns die Kosten dann teilen würden.

Ich höre nur mit halbem Ohr zu und beobachte die vorbeihastenden Menschen. Ich weiß, dass ich sie nie mehr sehen werde. Trotzdem ertappe ich mich dabei, dass ich noch immer hoffe, sie irgendwo zwischen all den unbekannten Gesichtern auf der Straße zu entdecken. Oder dass sie neben meinem Bett steht, wenn ich morgens aus einem Traum erwache, in dem sie nie weggewesen ist.

»Tada, hier ist unsere Limousine«, unterbricht Maximes Stimme meine Gedanken. »Groß, blau und mit allem Komfort versehen.« Sie sieht mich feixend an, während sie auf die Buslinie 18 zeigt.

Ich lächele sie an, weil ich weiß, dass Maxime das von mir erwartet. »Äh, wow«, sage ich heiser. »Was hast du mit den übrigen Passagieren gemacht? Da ist ja gar keiner drin.«

»Riethoven ist ein ausgesprochen exklusives Ziel, das nur für wenige Menschen erreichbar ist. Man muss dafür auserkoren werden.«

Eine ältere Frau mit grauen Haaren und jeder Menge Einkaufstüten von Action geht an uns vorbei und steigt in den Bus.

Ich fange an zu kichern. »Hm-m. Sehr exklusiv, ehrlich.«

Wir kriegen uns nicht mehr ein vor Lachen.

Für einen Moment ist es wie früher: das Gefühl, dass alles schön ist, sogar die allerkleinsten, nichtssagenden Dinge, Hauptsache, man ist zusammen.

Maxime fährt sich mit einer Hand durch die Haare. »Komm, der Bus kann jeden Moment losfahren.« Sie dreht sich zu den geöffneten Türen. »Ich habe Lizzy versprochen, rechtzeitig da zu sein.«

Langsam steige ich hinter Maxime in den Bus. Noch eine halbe Stunde, dann sind wir da. Eine Unterrichtsstunde dauert länger. Die Halbzeit von einem Hockeyspiel auch. Dreißig Minuten sind im Nu vorbei.

Die Bustüren schließen sich hinter mir.

Und manchmal kann es auch in einer Sekunde vorbei sein.