Unser Bus verschwindet am Horizont. Seufzend schwinge ich meinen Rucksack über die Schulter und schaue mich um. Ein paar Häuser, ein Kirchturm und eine verlassene Sitzbank. Wir sind wirklich in einem Kaff gelandet.
»Juchhu«, sage ich. »Und jetzt?«
Maxime angelt ihr Handy aus der Jackentasche. »Lizzy hat mir eine Nachricht geschickt, wie wir dorthin kommen. Moment ... Wir müssen zu dieser Kreuzung und dann nach links.«
WALIK 2 KILOMETER , zeigt uns ein blauer Wanderwegweiser an.
»Lass uns bloß schnell losgehen«, sage ich. »Ich glaube, es fängt gleich an zu regnen.«
Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke zu und schaue hoch. Es ist erst Mitte Oktober, doch der Himmel ist so grau und düster, dass es genauso gut Ende November sein könnte. Manchmal ist es, als hätte Isa die Sonne mitgenommen ...
Wir biegen links ab. Mit ihren braunen Backsteinfassaden und sorgfältig gemähten Rasenstücken ähneln sich alle Häuser, an denen wir vorbeikommen. Weit und breit ist kein Mensch.
Zum Spaß sage ich, die Dorfbewohner seien wahrscheinlich geflüchtet, als sie uns sahen.
»Vielleicht liegen sie ja alle tot in ihren Häusern«, sagt Maxime. »Wer weiß.«
»Zombie Village.« Ich muss lachen. Aber trotzdem ist es irgendwie seltsam. Ich kann mich nicht erinnern, jemals an einem Ort gewesen zu sein, der so ausgestorben wirkte.
Das Dorf endet abrupt, und eine schmale Straße führt zwischen Bäumen hindurch weiter. Es fängt an zu nieseln.
Maxime zieht sich ihre Kapuze über den Kopf. »Total schön hier, findest du nicht?« Sie dreht sich begeistert einmal im Kreis.
Es ist nicht leicht zu sehen, was sie sieht. Ich jedenfalls sehe nur traurige Bäume, nassen Asphalt und hin und wieder erhasche ich einen Blick auf ein Haus hinter einer hohen Hecke.
»Hast du heute Morgen vielleicht ein paar Pillen eingeworfen?«, frage ich. »Du tickst wirklich nicht mehr ganz richtig.«
»Danke.« Sie grinst und fasst mich am Arm. »Komm, wir gehen weiter.«
Wir marschieren über den glänzenden Asphalt. Manchmal fährt ein Auto vorbei, und wir springen zur Seite, um nicht angefahren zu werden. Die Bäume am Straßenrand drängen sich immer näher zusammen und verdichten sich ein Stück weiter zu einem Wald.
»Ich glaube, den Weg da hinten müssen wir nehmen«, murmelt Maxime. Sie späht voraus, wo sich ein sandiger Pfad in den Wald hineinschlängelt, und dann auf ihr Handy. Sie dreht das Display, als ob es dadurch deutlicher würde. »Ja, der ist es.«
Vielleicht liegt es am Regen, vielleicht daran, dass mir kalt ist und ich müde bin. Aber ich habe das Gefühl, wir sollten lieber umkehren und nach Hause fahren.
»Bist du dir sicher? Das sieht nicht aus wie ein normaler Weg. Und ich sehe auch kein Hinweisschild.«
»Das ist ein Naturhäuschen, du Schlaukopf.« Sie biegt in den Pfad ein. »Meinst du wirklich, die legen eine Autobahn mitten durch den Wald?«
Ich stoße einen Seufzer aus und folge ihr. Die beiden ausgefahrenen Reifenspuren sind von Unkraut überwuchert.
Schweigend gehen wir tiefer in den klatschnassen Wald. Zarter Nebel hängt über dem Boden, als würden die Regentropfen dort sofort verdunsten.
»Wow«, sagt Maxime plötzlich. »Was ist das?« Sie zeigt auf einen Strauch.
Ich habe keinen blassen Schimmer, was sie meint. Neben dem Strauch liegt ein Haufen abgefallener Blätter und Ästchen. Aber als ich genauer hinschaue, wird mir klar, dass sich ein Tier darunter verbirgt. Nur der schwarze Schwanz lugt unter den Blättern heraus, wie eine gefährliche Schlange.
»Lebt das Ding noch?«, frage ich entsetzt.
»Keine Ahnung.« Maxime geht näher ran. Vorsichtig tippt sie den Hubbel mit dem Fuß an. Blätter rutschen zur Seite, und schwarzes Fell kommt zum Vorschein. »Verdammt, das ist eine tote Katze.«
Erneut stupst sie gegen den leblosen Körper, wodurch er ein Stück zur Seite rollt. Wo sich der Kopf befinden sollte, ist ein blutiger Halsstumpf. Die Blätter rund um den Kadaver sind fast schwarz von dem getrockneten Blut.
Mir dreht sich der Magen um. Ich atme tief ein und aus.
»Puh, das ist wirklich scheußlich«, sagt Maxime. »Irgendein Tier wird ihr den Kopf abgerissen haben.«
Ich starre auf die Katze. »Welches Tier denn? Gibt es hier Wölfe?«
»Mensch, ist das wichtig, welches Tier es getan hat?« Sie seufzt. »Vielleicht war es ja ein Hund.«
»Warum sollte ein Hund so etwas tun?«, frage ich weiter. »Das ist schon ziemlich seltsam.«
Maxime zuckt mit den Schultern. »Es gibt noch mehr seltsame Dinge auf dieser Welt.«
Dem kann ich nicht widersprechen.
»Ruhe in Frieden, auch ohne Kopf«, sagt Maxime mit einem kleinen Lachen.
Sie dreht sich um und geht zum Weg zurück. »Kommst du? Ich habe allmählich genug von diesem Waldspaziergang.«
»Ja«, murmele ich mit einem letzten Blick auf die Katze. Es fühlt sich ein wenig respektlos an, sie so hier liegen zu lassen. Ich bücke mich und werfe vorsichtig ein paar kleine Zweige über ihren Körper. Die schwarzen Härchen des Fells wehen sachte im Wind.
In ein paar Wochen wird fast nichts mehr übrig sein.
Für immer verschwunden in einer unendlichen Leere. Ohne Laute, Gefühle oder Erinnerungen.
Der Tod ist nichts, auf das man sich freuen kann.
Ich höre, dass ich einen Ton von mir gebe, als würde etwas in meiner Kehle zerspringen.
»Anne!«, ruft Maxime.
Ich schlucke mühsam. »Ich komm ja schon«, murmele ich und gehe zu ihr.
Maxime starrt auf ihr Handydisplay. »Wir müssen dort nach links. In fünf Minuten sind wir da.«
Ich folge ihr. Der Pfad schlängelt sich immer weiter in den Wald hinein. Ich schaue mich um, aber da ist nichts zu sehen. Nur Bäume. Und es ist totenstill. Ich höre nicht mal ein Vogelzwitschern. Nach ungefähr zehn Minuten frage ich keuchend: »Wie lange müssen wir noch laufen?«
»Nur noch fünf Minuten.«
»Das hast du eben auch schon gesagt.«
»Ich meinte zehn.«
Ich seufze tief. »Ja, ja«, sage ich zu ihr. Und danach: »Erzähl mir doch noch mal, wer alles kommt. Ich habe es wieder vergessen.«
»An!« Sie stöhnt. »Okay, wenn's sein muss. Lizzy wohnte früher neben uns. Sie hat mich gefragt, ob ich mitwill. Du wirst sie großartig finden!«
Das bezweifele ich. Ich verstehe nicht, warum Maxime plötzlich so begeistert von ihr spricht: Maximes Umzug ist Jahre her, und danach hat sie Lizzy kaum noch gesehen. Aber in den letzten Wochen redet sie nur noch von Lizzy. Es ist so lieb, dass Lizzy an sie gedacht hat für diesen Urlaub. Man kann so gut mit ihr lachen. Und ihr Kleidungsstil ist so genial, nicht so standardmäßig wie bei den Leuten an unserer Schule. Oh, und nein, natürlich macht es nichts, dass Maxime unsere Verabredung letzte Woche vergessen hat, weil sie wieder mit Lizzy am Facetimen war!
»Hallo, hörst du noch zu?«, unterbricht Maxime meine Gedanken.
»Ja, klar. Lizzy wohnte früher in eurer Nachbarschaft, und ich werde sie sehr nett finden.« Ich lächele, als wäre alles in Ordnung.
»Hm, okay«, sagt sie, als würde sie meiner Antwort nicht so richtig trauen. »Daniel ist Lizzys Cousin. Nicht ihr echter, weil sie als Baby adoptiert wurde, aber du weißt, was ich meine. Daniel hat das Ferienhäuschen gemietet. Und der andere Typ wiederum, Sami, glaube ich, ist ein Freund von Daniel. Und mit uns beiden sind wir zu fünft.«
»Wie findet Mick es eigentlich, dass du mit anderen Jungs in einem Ferienhaus bist?«, frage ich.
»Prima«, sagt sie. Und nach einem leichten Zögern fügt sie hinzu: »Weil er es nicht weiß.«
»Was, warum nicht?«
»Warum wohl?«, schnauzt Maxime, aber ganz so selbstsicher klingt sie nicht mehr. »Wir sind doch nur eine Woche weg. Er muss nicht alles wissen.«
»Was hast du ihm denn vorhin im Zug geschrieben?«
»Dass ... Dass ich jetzt in den Herbstferien bei dir übernachte. Und dass ich schlecht erreichbar bin, weil wir viel unternehmen.«
Sie zieht die Brauen hoch, sodass ihre Augen noch größer und runder werden, und guckt betont unschuldig. Wahrscheinlich fallen Jungs reihenweise darauf rein, aber ich bin völlig immun dagegen.
»Mensch, Max, das kriegt er doch problemlos raus.«
»Nicht, wenn du die Klappe hältst.«
»Du spinnst«, sage ich.
»Oh ja. Als ob du so ganz normal wärst mit deiner Isa-Besessenheit.« Ihre Stimme ist so leise, dass ich sie kaum verstehen kann. Sie öffnet den Mund, als würde sie noch etwas hinzufügen wollen, doch dann stiefelt sie mit großen Schritten davon.
Die glaubt doch wohl nicht, ich würde ihr nachlaufen! Wie kann sie nur so was sagen? Soll sie doch allein zu dieser blöden Hütte gehen und von mir aus auch mit allen Typen rummachen, die dort sind, das ist mir so was von egal!
Nach ein paar Metern überlegt Maxime es sich anders und dreht sich um. Wir starren uns an. Sie wirkt meilenweit entfernt, wie sie so zwischen den Bäumen steht. Als sie endlich etwas sagt, klingt ihre Stimme gedämpft.
»Sorry, An. Ich hab's nicht so gemeint.«
Ich räuspere mich. »Ich auch nicht.«
»Ich weiß einfach nicht mehr so genau, wie es mit Mick weitergehen soll.« Sie stöhnt leise. »Als wir uns auf dem Schulfest geküsst hatten ... Die ersten paar Wochen waren einfach der Wahnsinn. Er war wirklich superlieb, aber inzwischen streiten wir ziemlich oft. Er ... Er klammert total. Letzte Woche wurde er sauer, weil ich keine Lust hatte, durch den strömenden Regen mit dem Rad zu ihm zu kommen, sondern lieber zu Hause bleiben wollte. Drei Tage lang hat er all meine Nachrichten ignoriert. Und neulich meinte er, er fände es nicht gut, wenn ich in der Schule mit anderen Jungs reden würde.« Sie lächelt mich mit feuchten Augen an. »Klingt gut, was? Ich bin so froh, dass ich dir solche Sachen erzählen kann. Du verstehst mich wenigstens.«
Ich erwidere ihr Lächeln. Das ist wieder das Mädchen, das ich damals in der Schule kennengelernt habe. Gleich am ersten Tag haben wir uns nebeneinandergesetzt, weil wir beide niemanden kannten. Innerhalb weniger Minuten bekamen wir uns schon nicht mehr ein vor Lachen, so gut verstanden wir uns auf Anhieb. Ich war ein bisschen still und schüchtern, sie platzte spontan mit allem heraus. Dank Maxime gehörten wir schon bald zur beliebtesten Gruppe in der Klasse. Sie erzählte mir von den Streitigkeiten ihrer Eltern. Und ich tröstete sie, als diese sich endlich scheiden ließen, weil ihr Vater fremdgegangen war. Sie fand bei mir die Ruhe, die ihr fehlte, und ich wurde bei ihr eine fröhlichere Version meiner selbst.
Wäre es doch nur immer so geblieben – gemeinsam konnten wir der ganzen Welt die Stirn bieten. Aber in den letzten Monaten fühlt es sich so an, als würde ich stillstehen und sie mit großen Schritten in ihrem Leben weiterrennen, ohne auf mich zu warten. Manchmal glaube ich, sie hätte mich schon längst fallen lassen, wenn Isa nicht ...
»Ich habe so große Angst vor Micks Reaktion, wenn ich mit ihm Schluss mache«, unterbricht sie meine Gedanken. »Er ist einer der beliebtesten Jungs der Schule. Das wird er nicht gut aufnehmen. Letzte Woche habe ich ... da habe ich mit ...«
Eine schwarze Regenwolke zieht über die Baumwipfel und dämpft das Tageslicht für einige Augenblicke erheblich. Maximes Haut wird grau, und sie sieht plötzlich aus wie ein Gespenst.
Ich merke, dass ich mich nicht zu atmen traue. Das hier fühlt sich an wie ein schlechtes Vorzeichen von etwas, das ich nicht verstehe.
»An?«, fragt sie. »Alles in Ordnung? Du machst so ein komisches Gesicht.«
»Äh, ja, entschuldige, ich war in Gedanken.« Ich hole tief Luft. »Max, hör zu, du musst mit ihm reden, wenn wir wieder zu Hause sind. So geht das nicht weiter.«
Sie nickt und wischt sich mit dem Jackenärmel über die Augen. »Du hast recht.« Dann schaut sie mir offen ins Gesicht. »Ich meinte es nicht so, was ich gerade gesagt habe. Hasst du mich jetzt?«
»Nein.«
Sie nickt.
»Lass uns weitergehen«, schlage ich vor. »Sonst sind wir heute Abend immer noch nicht da.«