»Das muss es sein.« Maxime zeigt nach vorn. »Es ist allerdings etwas ... kleiner, als ich dachte.«
Zwischen den Bäumen schimmert es hellgrau, als wäre der Wald dort weniger dicht. Und als ich ganz genau hinschaue, sehe ich in der Ferne vage Konturen von einem Haus.
»Endlich«, sage ich. »Ich kann bald keinen Schritt mehr machen. Und dieser blöde Nebel wird auch immer dicker.«
Wir gehen auf die Umrisse zu. Es wird heller, und plötzlich befinden wir uns am Rand einer Lichtung. Das Häuschen steht auf der gegenüberliegenden Seite, etwa zwanzig Meter weiter zwischen den Bäumen. Blockhütte wäre vielleicht eine bessere Beschreibung ... Die Wände bestehen aus hochgestapelten Baumstämmen, und das Satteldach aus Holzbohlen ist von einer dicken Moosschicht überzogen.
Ich bin sprachlos, und selbst Maxime hält den Mund. Eine Bö bläst hin und wieder zwischen den Bäumen durch und versteckt sich danach wieder hinter den dicken Stämmen.
Plötzlich höre ich etwas irgendwo hinter uns. Es klingt wie ein leises Wimmern. Ruckartig drehe ich den Kopf und spähe zwischen den Bäumen und Büschen hindurch. Da rührt sich nichts. Kam das Geräusch vom Wind?
»Meine Güte, was für eine besondere Hütte«, unterbricht Maximes laute Stimme meine Gedanken. »Dieser Daniel ist echt ein Naturfreak.«
»Hä?« Ich schaue sie an.
»Ich hoffe, hier gibt es WLAN, sonst werde ich verrückt.« Sie geht auf die Hütte zu. Zögernd folge ich ihr. Noch einmal werfe ich einen Blick über die Schulter. Kein Tier. Kein Mensch. Mit einem tiefen Seufzer schlurfe ich über den mit Tannennadeln bedeckten Boden. Der Nebel hängt tief über der kleinen Lichtung. Es sieht fast unnatürlich aus. Wahrscheinlich ist der Wald im Sommer wunderbar, aber im Augenblick fühlt es sich an, als würden zahllose Schilder aus dem Nebel ragen: ZURÜCK! NICHT WILLKOMMEN! KEINE GAFFER!
»Sind sie überhaupt da?«, frage ich.
»Wie meinst du das?«
»Es wirkt so verlassen.« Alle Fenster sind dunkel, und ich sehe nirgendwo eine Bewegung.
»Wahrscheinlich sitzen sie irgendwo in den hinteren Räumen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Guck mal!«, ruft sie dann mit etwas mehr Begeisterung. »Hier ist eine Sitzkuhle!«
Sie zeigt zum Rand der Lichtung, wo ein großes viereckiges Loch ausgegraben ist. Der Nebel liegt wie eine dicke Decke darin.
»Vielleicht können wir heute Abend ein Lagerfeuer machen«, fährt sie fort.
»Ganz toll«, murmele ich und denke: Wir könnten auch die Hütte abfackeln, dann könnten wir schleunigst hier weg.
Die letzten Meter legen wir schweigend zurück. Aus der Nähe sieht das Häuschen noch verfallener und düsterer aus. Ich mag mir kaum vorstellen, dass wir in den kommenden Tagen an diesem grässlichen Ort bleiben sollen.
Maxime geht zur Haustür und schwenkt das Seil einer altmodischen kupferfarbenen Glocke, die klingt wie eine Kirchenglocke.
Wir warten. Zehn Sekunden. Zwanzig Sekunden. Niemand kommt.
Ungeduldig zieht Maxime noch einmal am Seil, jetzt deutlich schwungvoller.
Ein paar Sekunden später sind Schritte und laute männliche Stimmen zu hören. Das Licht im Flur springt an. Ein Rumpeln, als würde etwas zur Seite geschoben. Und dann geht die Tür auf. Zwei junge Männer stehen dort, einer dunkelhaarig, der andere mit hellblonden Haaren, die ihm halb vor den Augen hängen.
»Hola!«, sagt der Dunkelhaarige.
Maxime kichert. »Hallo, äh, wir sind Maxime und Anne.«
»Ich hatte schon so eine Vermutung, dass ihr nicht vom Pizzaservice kommt«, antwortet er.
Wir lachen alle. Sie strecken uns die Hand entgegen und stellen sich vor. Der Blonde ist Daniel, der Dunkelhaarige Sami.
»Schön, dass ihr da seid«, sagt Daniel mit einer tiefen, fast erwachsenen Stimme. »Lizzy hat schon viel über ihre Freundin von nebenan erzählt. Dass ihr euch im Sommer nackt in einem Planschbecken in ihrem Garten habt treiben lassen.« Er grinst Maxime an, die sofort knallrote Wangen bekommt.
»Damals war ich vier!«, ruft sie.
Sami dreht sich zu mir um. »Du hast nicht in diesem Planschbecken gesessen, oder?«
»Äh, nein«, stammele ich und sehe ihn an. »Ich ... kenne Maxime aus der Schule.«
Er nickt. Seine Haut ist etwas dunkler als Daniels, und er hat einen Bartschatten. Seine Augen sind so dunkel, dass sie fast schwarz wirken, und das lenkt mich ab. Hat er keine Pupillen?
»Ich hoffe, ihr habt nicht allzu hohe Erwartungen«, sagt er. »Es ist hier ziemlich ... basic.«
Er lächelt, wodurch seine Augenfarbe plötzlich um einige Nuancen heller wird. Ich kann meinen Blick nicht abwenden.
»Das ist nicht basic, sondern authentisch, Mann«, sagt Daniel und knufft Sami in die Schulter. »Warum kapierst du das nicht?«
Feixend schubst Sami ihn zurück. »Unser Schlauberger. Quatscht sich immer irgendwie raus.«
Maxime lacht mit. Sehr übertrieben, finde ich.
Daniel ist nicht besonders groß, sein Scheitel reicht Sami bis zur Nase, aber es fühlt sich an, als würde er mit seiner Anwesenheit die gesamte Türöffnung füllen. Seine hellblauen Augen haben einen spöttischen Blick. Er sieht aus, als wäre er es gewohnt, dass ihm immer alle zuhören.
»Ich finde die Hütte großartig«, sagt Maxime. »Und es riecht hier auch so schön nach Natur.« Sie legt den Kopf schief und lächelt Daniel an.
Ich traue meinen Augen nicht! Warum kann Maxime nie mit einem Jungen reden, ohne gleich zu flirten?
»Hm-m.« Daniels Blick wandert über ihr Gesicht nach unten und wieder hoch, als würde er sie prüfen.
»Gut, dann werde ich mich mal nützlich machen«, sagt er und tritt in den Flur zurück. Sein Interesse an Maxime scheint schon wieder abgeflaut zu sein. »Ich gehe in die Küche und packe die Einkäufe aus. Kommt ihr auch gleich dorthin?«
»Daniel glaubt, er hätte eine Mega-Villa gemietet«, sagt Sami und grinst. »Wir lassen ihn mal in dem Wahn.«
Er schließt die Haustür hinter uns, und der schmale Flur wird in ein dämmriges Dunkel getaucht. Mich schaudert. Die feuchte Kälte von draußen hängt auch im Haus.
»Wo ist denn eigentlich Lizzy?«, fragt Maxime. Sie schaut sich um, als würde sie erwarten, dass Lizzy jeden Moment irgendwo hervorspringen könnte.
»Ich glaube, sie ist oben in ihrem Zimmer. Vermutlich hat sie die Klingel nicht gehört.« Sami öffnet die nächstgelegene Tür. »Das ist das Wohnzimmer.«
Wir treten hinter ihm über die Türschwelle. Ich lasse meinen Blick durch den kleinen Raum gleiten. Alles ist aus Holz. Die Wände, der Boden. Sogar die Decke ist mit Holz verkleidet. Ein Tisch mit sechs Klappstühlen steht an der Wand, und in der Mitte des Raums sind zwei Sofas mit verschlissenen, auberginefarbenen Kissen.
»Meine Güte«, kommentiert Maxime lediglich.
»Sorry, Ladys. Hier gibt es weder einen Fernseher noch sonstigen Luxus, im Schrank liegen nur ein paar Tüten Teelichter«, sagt Sami. »Wenn wir unsere Sachen eingeräumt haben, versuchen wir, die Heizung in Gang zu kriegen. Hier sind überall so Gitter, aus denen warme Luft strömen sollte, aber bislang passiert gar nichts. Daniel hat dem Vermieter schon eine Nachricht geschickt.«
Ich streiche mit dem Finger über die Tischplatte. Sie ist von einer dicken Staubschicht bedeckt. Wahrscheinlich sind seit Monaten keine anderen Mieter hier gewesen.
Sami geht zur Tür. »Die Tour geht weiter, Ladys.«
Wir folgen ihm durch den dämmrigen Flur in das fast stockdunkle Treppenhaus.
»Hier funktioniert das Licht nicht«, sagt er und geht uns voraus. »Passt auf, wo ihr hintretet, die Treppe ist ziemlich steil.«
Wir tasten uns stolpernd nach oben. Das obere Stockwerk ist noch nicht zu erkennen.
Maxime kichert hinter mir. »Bitte nicht auf mich fallen, sonst bin ich tot.«
»Haha, sehr witzig.« Ich stöhne.
»Noch zwei Stufen«, höre ich Sami sagen. »Passt auf, stoßt euch nicht den Kopf am Balken.«
Wir bücken uns, und dann stehen wir auf einem schmalen Treppenabsatz, von dem fünf Türen abgehen. Durch ein kleines Dachfenster fällt ein blasser Streifen Tageslicht auf den verschlissenen Bodenbelag. Die Luft ist muffig und dumpf wie in einem Keller.
»Wartet, dann versuche ich, den Lichtschalter zu finden«, sagt Sami.
Seine Silhouette huscht über die Wand, es sieht aus, als stünde noch jemand neben ihm. Es macht mich nervös.
»Bingo.«
Einen Augenblick später schaltet sich das Licht auf dem Treppenabsatz mit lautem Surren ein, und der Schatten neben Sami ist verschwunden.
Maxime kichert. »Gerade habe ich tatsächlich gedacht, da würde jemand im Dunkeln stehen.«
»Ich auch«, sage ich und muss jetzt auch lachen.
Sami öffnet die erste Tür. Ein spärlich eingerichtetes Zimmer mit zwei Einzelbetten kommt zum Vorschein. Auf dem Boden stehen zwei Taschen.
»Hier schlafen Daniel und ich.«
Noch bevor ich mir das Zimmer genauer anschauen kann, hat Sami die Tür schon wieder geschlossen. Er zeigt auf die zweite Tür. »Dort ist das Bad. Vor dem Fenster hängen ein paar halb verrottete Läden als Sichtschutz, und die Dusche ist ein bisschen klapprig, ansonsten kommt man damit klar. Ich hoffe, ihr habt Handtücher mitgenommen, denn hier gibt es keine.«
»Ja«, murmele ich und denke: In diesem gammeligen Ding werde ich mit Sicherheit nicht duschen. Dieser Urlaub kann mir echt gestohlen bleiben.
»Und das ist euer Zimmer.« Sami schwenkt die Tür neben dem Bad auf. »Das Hilton ist nichts dagegen.«
Ich versuche, meinen Widerwillen nicht zu zeigen. »Das Bett ist, äh, schön groß.«
In der Mitte des dunklen, stickigen Zimmers steht ein Doppelbett mit einem schlichten Holzgestell. Auf dem Dielenboden liegt ein schmuddeliger Teppich, der wahrscheinlich irgendwann mal blau war.
»Wir werden es schon überleben.« Maxime stellt ihren Rucksack auf das Bett. »Shit, diese Matratze ist wirklich bretthart. Darf ich am Fenster schlafen, An? Sonst kotze ich heute Nacht von diesem Mief hier.«
»Klar«, murmele ich. Von mir aus darf sie das ganze Doppelbett haben, ich möchte am liebsten nach Hause.
»Und ist das Lizzys Zimmer?«, höre ich Maxime fragen.
Ich drehe mich um und sehe, wie Maxime auf eine Tür in der hintersten Ecke des Treppenabsatzes zeigt. Es bleibt einen Augenblick still.
»Nein, Lizzys Zimmer ist neben der Treppe«, sagt Sami dann. »Diese Tür ist verschlossen, und wir haben keinen Schlüssel dazu. Vielleicht ist das ein Abstellraum für den Vermieter oder so.« Er zuckt mit den Schultern. »Kommt, wir gehen zu Lizzy. Bestimmt ist sie eingeschlafen.«
Maxime folgt ihm mit großen Schritten. Sami klopft an Lizzys Tür und drückt sie danach auf. Johlend verschwindet Maxime in Lizzys Zimmer. Kurz darauf höre ich noch ein Mädchen kreischen: »Maxieeeeee, da bist du ja, endlich!«
Langsam gehe ich zur Tür. Maxime und Lizzy haben die Arme umeinander gelegt und hüpfen zusammen durch den Raum.
»Es ist wirklich großartig hier!«, ruft Maxime. »Ich bin so froh, dass du mich gefragt hast, ob ich mitkomme.«
Sie lachen beide.
Lizzy löst sich aus der Umarmung und zieht ihre AirPods aus den Ohren. »Sorry, ich habe gar nicht gehört, dass du schon da bist«, sagt sie zu Maxime. »Ich habe gerade eine Folge von The Society geguckt.«
Ich mustere Lizzy, die ihre AirPods nun ins Nachtschränkchen legt und ihr Handy vom Kopfkissen nimmt. Sie ist groß und schlank. Ihre schwarzen Haare fallen in Wellen über ihren grauen Sweater, und sie trägt eine Skinny Jeans, die ich im Leben nicht über die Hüften bekäme.
Lizzy ist schön, aber nicht in der üblichen Weise. Sie ist eine Mischung aus Begeisterung und Distanz, Schönheit und Unvollkommenheit. Wenn sie lacht, wird ein kleiner Spalt zwischen ihren Schneidezähnen sichtbar, und die Nase ist zu breit für ihr Gesicht.
Etwas an ihr fesselt mich, und ich kann den Blick nicht von ihr abwenden.
Lizzy dreht mir den Kopf zu, ich spüre, wie ich rot werde.
»Hallo, Anne«, sagt sie. »Schön, dass du hier bist.«
Es klingt freundlich.
»Äh, ja«, erwidere ich. »Danke für die Einladung.«
»Nein, ich danke dir«, sagt sie, »dass du dich darauf einlässt, in diesem unappetitlichen Haus mit einem Haufen Idioten zu übernachten.«
»Sprich einfach nur für dich«, wirft Sami grinsend ein.
Ich lache. Für einen Moment glaube ich, dass dieser Urlaub doch noch was werden kann, aber dann lässt sich Maxime auf das Doppelbett fallen und sagt: »Oh, diese Matratze ist viel weicher! Darf ich bitte hier schlafen?«
Lizzy lässt sich neben sie fallen und lächelt. »Von mir aus gern. Ein Platz ist noch frei.«
Maxime dreht den Kopf zu Lizzy, und eine Stille tritt ein.
Am liebsten würde ich rufen: Untersteh dich! Ich bin mit dir hier. Aber ich lasse es sein. Ich balle meine Hände zu Fäusten und warte.
»Thanks, aber unser Bett tut es auch«, sagt Maxime schließlich. »Sollte Anne heute Nacht schnarchen, komme ich doch noch zu dir.«
Erleichtert strecke ich ihr die Zunge heraus. »Haha, ich glaube, du bist hier diejenige, die schnarcht! Weißt du noch, als wir an deinem Geburtstag bei dir übernachtet haben?«
»Das ist geheim! Du hast es versprochen!«, ruft Maxime und lacht.
»Du schnarchst also ...« Lizzy schiebt Maxime zur Bettkante. »Sorry, aber wer schnarcht, ist hier nicht willkommen.«
Maxime fällt kreischend vor Lachen aus dem Bett. »Das ist Diskriminierung!«
»Nein, das ist Gerechtigkeit!«
Maxime und Lizzy kriegen sich nicht mehr ein und kugeln albern zusammen über den Boden.
»Vielen Dank für diese Vorstellung, Ladys«, sagt Sami und lächelt schief. »Soweit also die Hausführung. Macht das unter euch aus, wer wo schläft und wer schnarcht. Ich sehe euch gleich unten.«
»Viel Erfolg mit den beiden, Anne«, flüstert er mir zu, als er an mir vorbeigeht.
Er lächelt. Herzlich und zart.
Ich nicke und sehe ihm hinterher, wie er im dunklen Treppenhaus verschwindet. Es fühlt sich an, als gäbe es eine unsichtbare Verbindung zwischen Sami und mir. Ich spüre es noch immer, als ich seine Schritte schon unten im Flur höre. Ich habe ihn gerade erst kennengelernt, aber ich will jetzt schon nichts lieber als bei ihm sein.