Stunden: 7

»Okay, sorry, dass ich das so sagen muss« – Daniel seufzt und schiebt seinen Teller von sich –, »aber das waren wirklich die allerscheußlichsten Nudeln, die ich im Leben gegessen habe.«

»Wolltet ihr uns vielleicht umbringen?« Sami hält feixend einen Klumpen Spaghetti hoch. Im Kerzenschein wirken die Fäden wie Würmer. Plötzlich habe ich das Gefühl, ich müsste mich übergeben. Aber das kann auch an dem Glas Wein liegen, das ich zum Essen getrunken habe. Ich habe mich nicht getraut, noch mal Nein zu sagen ...

»Haha, ihr seid ja so witzig«, sagt Lizzy, die jedoch auch kaum etwas gegessen hat. »Morgen Abend kocht ihr mal schön selbst.«

»Genau das habe ich auch vor«, erklärt Sami.

Lizzy verkündet, dann ginge sie auswärts essen. Daniel antwortet, bis zum nächstgelegenen Restaurant sei es eine halbe Stunde zu Fuß. Maxime nennt ihn einen Spielverderber, Lizzy gibt ihr ein High five und meint, das könne sie aus Erfahrung bestätigen.

Es ist wie bei einem Tischtennis-Match, so schnell fliegen die Bemerkungen hin und her. Alle lachen und rufen durcheinander. Nach wenigen Stunden sind sie schon so aufeinander eingespielt, als würden sie sich seit Jahren kennen. Es verblüfft mich, wie leicht es Maxime gelingt, sich in diese Gruppe einzugliedern. Ich nehme an, mich finden sie vor allem langweilig und still.

Nur Sami lächelt mir hin und wieder zu. Ich kann kaum den Blick von ihm wenden.

Wenn er lacht, bilden sich Grübchen in seinen Wangen, und seine Augen werden plötzlich intensiv hellbraun, als würde die Sonne hindurchscheinen. Wenn er mit Daniel witzelt, gehen seine Mundwinkel hoch. Sie verstehen sich ohne viele Worte. Aber manchmal sitzt Sami während der Gespräche auch mit abwesendem Blick da, als wäre er gedanklich ganz woanders. Er ist so anders als alle anderen Jungs, die ich je kennengelernt habe. Ich könnte ihn wirklich endlos anschauen.

»Wer möchte noch Wein?«, fragt Daniel und entkorkt eine neue Flasche. »Das ist ein Burgunder aus dem Jahr 2008, den ich von meinem Vater bekommen habe, das ist einer der besten Jahrgänge.«

»Gern.« Sami hält ihm sein Glas hin.

»Für einen Moslem kannst du ordentlich was schlucken«, sagt Daniel beim Einschenken. Er hat seinen Pullover ausgezogen, und das dunkelblaue Stone-Island-Shirt ist halb aus der Jeans gerutscht.

Sami hebt eine Augenbraue. »Für einen Christen kannst du ganz schön rumnörgeln.«

»Ein Christ, interessante Annahme.« Daniel reibt sich über die Stirn. »Wie kommst du darauf, dass ich an Gott glaube?« Er lässt die Flasche herumgehen. »Maxime? Wein?«

»Jaaaa, gern!« Maxime hält ihm ihr leeres Glas hin. Ihre Augenlider hängen ein wenig, und ihre Mascara ist verwischt. Sie hat bestimmt schon vier Gläser Wein intus, genau wie Lizzy.

Nicht, Max, so viel hast du noch nie getrunken , denke ich und versuche, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Aber sie ist vollkommen auf Daniel konzentriert. Ich sehe, wie ihre Wangen rot werden, als er einen Scherz über ihren teuren Weingeschmack loslässt. Was um Himmels willen hat sie vor? Zum Glück scheint Daniel nicht besonders an ihr interessiert.

Als ich an der Reihe bin, schüttele ich den Kopf, aber Daniel tut so, als würde er es nicht sehen, und schenkt auch mein Glas voll.

»Prost, auf den Weinkeller deines Vaters!«, sagt Sami und trinkt einen großen Schluck. »Ich weiß tatsächlich nicht, ob du an Gott glaubst. Bist du dann vielleicht Daniel, der Anarchist?«

Eine Stille tritt ein. »Das ist ja wohl lächerlich«, schimpft Daniel dann.

Zum ersten Mal höre ich, dass er ausfallend wird. Bislang hat er immer sehr bedächtig gesprochen, als würde er alles, was er sagt, erst abwägen. Seine Art zu reden wirkt wie ein Magnet, man muss ihm einfach weiter zuhören.

»Manchmal benimmst du dich, als wärst du gaddo höchstpersönlich«, antwortet Sami sichtlich ungerührt von Daniels Ton.

»Hör zu, ich glaube weder an gaddo noch an Allah oder welchen Gott auch immer. Was du machst, musst du selbst wissen. Hauptsache, du glaubst nicht, dass es deine eigene Entscheidung ist.«

Sami grinst. »Sorry, aber das Letzte kapiere ich nicht.«

»Das nehme ich dir nicht übel, denn das verstehen die meisten nicht.« Daniel spreizt die Hände. »Ich glaube an die Macht der Masse. Glaubst du wirklich, dass du eigene Entscheidungen triffst?«

»Äh, ja.« Sami schaut uns an mit einem Blick, als wollte er fragen: Könnt ihr ihm noch folgen? Dann wendet er sich wieder an Daniel. »Niemand hat mir eine Pistole an den Kopf gehalten, als ich in Utrecht am Bahnhof in den Intercity gestiegen bin. Also wovon sprichst du, Mann?«

Wir müssen lachen.

»Ihr lacht, weil ihr es nicht begreift.« Daniel trinkt einen großen Schluck von seinem Wein und schwenkt den Rest im Glas. »Jede Entscheidung wird mit Verstand und mit Gefühl getroffen. Beides wird von der Umgebung bestimmt und von den Menschen, mit denen man umgeht.«

»Komm schon, Daniel, was für ein Bullshit. Wenn du mir sagst, ich soll mit dem nackten Hintern durch den Wald rennen, dann mache ich das wirklich nicht. Niemand hier.«

»Du kapierst es wieder nicht.« Er lächelt. »Ich werde dir ein Beispiel geben, damit auch dein schlichter Verstand es verstehen kann.«

Lizzy stöhnt. »Ich werde noch irre von dieser Diskussion. Von mir aus kannst du einen Debattierclub gründen, aber nicht hier!«

Daniel ignoriert sie und legt seine Daumen und Zeigefinger gegeneinander, was ihm etwas Grüblerisches verleiht.

»Das Experiment hat es wirklich gegeben, wir haben es dieses Semester in Ethnologie behandelt, als Beispiel dafür, dass sich Tiere und Menschen nicht viel voneinander unterscheiden.«

»Bis hierher bin ich einverstanden, Herr Biologe.« Sami lacht.

»Habt ihr euch jemals gefragt, warum die Nazis einfach ihr Ding in Deutschland durchziehen konnten? Warum fast niemand sie aufgehalten hat, und das trotz ihrer bizarren Vorstellungen?«

Wir starren ihn an und schweigen.

Daniels Gesicht, von den Kerzen auf dem Tisch beleuchtet, ist grau. Kleine Lichtflecken der Flammen spiegeln sich im Blau seiner Augen.

»1967 hat ein amerikanischer Geschichtslehrer ein Experiment mit seiner Klasse durchgeführt, ohne dass die Schüler und Schülerinnen davon wussten. Er stellte eine Gruppe mit einigen Schülern aus dieser Klasse zusammen und erzählte ihnen, sie seien etwas ganz Besonderes. Verrückterweise fingen sie an, sich tatsächlich anders zu verhalten. Sie überlegten sich Regeln und einen Gruppengruß, sie wählten noch einige weitere Mitschüler und Mitschülerinnen aus und schlossen andere aus. Nach ein paar Tagen lief das Experiment völlig aus dem Ruder, und der Lehrer hat es beendet. Erst danach hat er die Schüler aufgeklärt, woran sie teilgenommen hatten. Er hat der Klasse einen Spiegel vorgehalten.«

Sami atmet tief durch. »Okay, das ist ziemlich heftig.«

Daniel zieht eine Augenbraue hoch, sagt aber nichts.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich so mitreißen lassen würde«, meint Sami.

»Das dachten sie alle.« Daniel lächelt schwach. »Aber offensichtlich bestimmt unsere Umgebung einen großen Teil unserer Normen und Werte. Faszinierend, findet ihr nicht? Gut und Böse liegen ganz nah beieinander.«

»Und was ist die Moral dieser Geschichte?«, fragt Sami langsam. »Dass wir alle Nazis sind?«

Sami und Daniel starren sich an. Es wirkt wie ein Spiel: Wer hält am längsten durch, ohne zu zwinkern? Ich kann es nicht länger mitansehen und wende den Blick ab. Hinter den Fensterscheiben hängt die Dunkelheit des Abends, schwer und finster.

Dann bricht Daniel zu meiner größten Überraschung in Lachen aus. »Du hast wieder nicht richtig zugehört. Ich habe nur gesagt, dass ich nicht an Gott glaube. Und dass wir alle dumm und naiv sind.«

»Du weißt auch immer, wie du dich aus der Affäre ziehst«, sagt Sami, aber in seiner Stimme schwingt ein wenig Bewunderung mit. »Du hast doch wirklich gesagt ...«

»Stopp!«, ruft Lizzy. »Mir reicht es jetzt echt. Der Zweite Weltkrieg ist bald achtzig Jahre her. Können wir jetzt bitte über was anderes reden? Und bekomme ich noch Wein, please?« Sie hält ihr leeres Glas hoch und winkt damit.

Daniel dreht ihr den Kopf zu. Einen kurzen Moment fürchte ich, er könnte wütend werden, aber dann sagt er freundlich: »Die Flasche kostet fast dreißig Euro. Immer mit der Ruhe, Cousinchen.«

»Entspann dich, Mann, dein Pa hat genug Geld. Und du hältst ihn doch sowieso für einen Arsch«, sagt Lizzy.

»Beides richtig.« Daniel schenkt Lizzy nach und stoppt nach der Hälfte. »Aber der Abend ist noch lang.«

Sie pustet sich eine Locke aus dem Gesicht. »Pff, Prost, Opa. Und was machen wir mit dem Rest dieses langen Abends? Hat jemand eine Idee?«

Ein paar Augenblicke bleibt es still. Dann räuspert sich Maxime. Ich muss mich anstrengen, um zu verstehen, was sie sagt. »Wir ... Wir könnten eine Vorstellungsrunde machen. Wer bist du, und was machst du gerade? Was ist dein größter Traum? Und deine größte Angst?«

Eine Vorstellungsrunde? Ist sie jetzt völlig verrückt geworden?

Daniel lacht. »Mein größter Traum und meine größte Angst? Als ich so was zum letzten Mal gemacht habe, war ich sechzehn. Aber warum nicht, wenn ihr das gern wollt?«

»Bin dabei«, brummt Sami.

»Jaaa, das macht Spaß!«, sagt Lizzy. »Klasse, Max!«

Am liebsten würde ich aufstehen und wegrennen. Alle schauen plötzlich mich an.

»Äh, von mir aus, prima«, murmele ich.

»Dann haben wir somit einstimmig beschlossen, unsere tiefsten Regungen der Seele miteinander zu teilen.« Daniel steht auf. »Entschuldigt mich noch einen Moment, ich muss erst den Getränkevorrat auffüllen und pinkeln gehen.«