Lizzy hat die Vorhänge zugezogen und noch mehr Teelichter auf den Tisch gestellt und angezündet, wodurch es so wirkt, als hätte sich das restliche Wohnzimmer in ein pechschwarzes Loch verwandelt. Dutzende kleiner Flammen erhellen unsere Gesichter, gelb und wächsern.
Daniel hat eine neue Weinflasche aus der Küche geholt und geöffnet.
»Lasst uns auf diesen Urlaub anstoßen.« Er hebt sein Glas. »Auf dass wir uns in diesen wenigen Tagen besser kennenlernen. Unsere Stärke liegt in unserer Verschiedenheit!«
»Schön ausgedrückt.« Sami räuspert sich und folgt Daniels Beispiel.
Unsere Gläser klingen wahnsinnig laut, als wir anstoßen. Es ist, als würde die Nacht alle anderen Geräusche schlucken. Wir könnten die einzigen fünf Lebewesen in diesem Wald sein. Vielleicht sogar auf der ganzen Welt ...
Ich trinke einen Schluck Wein. Den Alkohol schmecke ich kaum, so schnell gewöhnt man sich daran.
Daniel schaut Lizzy an. »Meine liebe, besondere Cousine. Wir sind nicht blutsverwandt, aber dennoch Verwandte im Geiste. Du darfst anfangen.«
»Schöne Einführung.« Lizzy streckt ihm die Zunge heraus. »Okay, ich bin also Lizzy, achtzehn Jahre alt. Als Baby wurde ich adoptiert, aber davon weiß ich nichts mehr. Offenbar lebte meine Mutter in Bangladesch und war drogenabhängig, weswegen sie nicht mehr für mich sorgen konnte, oder so ähnlich.« Sie zuckt mit den Schultern, als hätte es nichts zu bedeuten. »Meine Adoptiveltern glauben, dass all meine schlechten Eigenschaften von meiner leiblichen Mutter stammen, während ich meine guten Eigenschaften ihrer Erziehung zu verdanken habe. Manchmal glaube ich sogar, sie hätten mich lieber nicht adoptiert.« Sie lächelt wieder, aber ihr Blick ist düster. »Zum Glück wohne ich jetzt in Utrecht, und dort habe ich ein superschönes Zimmer. Also Ende gut, alles gut. Ich studiere Jura, weil ich Unrecht einfach nicht ertrage. Mein Traum ist es, nach meiner Ausbildung auf Reisen zu gehen und nach meiner leiblichen Mutter zu suchen, wenn sie noch lebt. Und meine größte Angst ist es, zu sterben – oder meine Schulzeit noch mal wiederholen zu müssen, denn das war, sagen wir mal so, nicht gerade die beste Zeit meines Lebens. Fertig!« Sie macht ein erleichtertes Gesicht. »Dann gebe ich jetzt weiter an ... Sami!«
Irgendwo draußen ertönt ein hoher Schrei. Als hätte jemand Schmerzen. Wir starren uns an. Im Kerzenlicht haben wir tiefe schwarze Schatten um die Augen.
»Was war das?«, fragt Maxime. »Das klang so was von unheimlich. Es gibt hier doch keine anderen Leute in der Nähe?«
»Versprich mir, dass du es niemandem erzählst, okay?« Daniel beugt sich vor und fängt an zu flüstern. »Es ist ganz schön heftig.«
Maxime nickt mit großen Augen. »Okay.«
»Dieser Schrei da eben, das war ... ein Tier!« Daniel prustet los. »Hallo, Leute, wo habt ihr denn die letzten Jahre gelebt?«
»In der Stadt«, sagt Sami und feixt. »Genau wie du, Mann.«
Wir müssen alle kichern, und ich sehe an Maximes Blick, dass sie sich ein bisschen schämt.
»Okay, Sami-Boy, fängst du heute noch an?«, fragt Daniel. »Ich brenne vor Neugier auf deine Geheimnisse.«
Sami seufzt und trinkt einen Schluck Wein. »Offensichtlich gibt es kein Entkommen.« Er lächelt, aber seine Kieferpartie ist angespannt. »Ich studiere Medizin, weil ich Kinderarzt werden will, aber es läuft gar nicht gut. Mein größter Traum ist, dass ich so fucking reich werde, dass ich nie wieder arbeiten muss. Und ich habe eine Scheißangst vor der Reaktion meiner Eltern, wenn ich mein Studium nicht schaffe, was mehr als wahrscheinlich ist. Ich soll der erste Arzt in der Familie werden, und das haben sie leider der ganzen Welt erzählt.«
»Du kannst immer noch an der Kasse im Supermarkt bleiben, wenn's schiefgeht mit dem Studium«, sagt Daniel.
»Was soll ich dazu sagen, Mann? Das hilft mir echt weiter.«
»Immer gern!«
Lachend schlagen sich Daniel und Sami auf die Schultern. Ich kann die Vertrautheit und die Freundschaft zwischen ihnen fast spüren. Und ich denke: Ich bin eifersüchtig. Das ergibt keinen Sinn.
»Okay, Maxime, und wie geht deine Lebensgeschichte?«, fragt Sami, und seine Mundwinkel heben sich.
»Nun, äh, ich ...«, stammelt sie. »Ich bin sechzehn, und ich gehe in die letzte Klasse der Realschule, weil das Gymnasium zu schwierig war. Aber vielleicht kann ich nach meinem Abschluss noch dorthin wechseln. Vielleicht aber auch nicht, denn Mathe fällt mir total schwer.« Sie stoppt, um Luft zu holen. »Ich muss aber eigentlich mein Abi machen, weil ich Journalismus studieren und danach beim Fernsehen arbeiten will, das ist mein Traum. Meine Eltern haben sich vor ein paar Jahren scheiden lassen. Früher wohnten wir neben Lizzy, daher kennen Lizzy und ich uns, aber dann sind wir umgezogen, und jetzt wohne ich bei meiner Mutter.«
Ich warte darauf, dass sie von Mick erzählt, aber offensichtlich existiert er nicht mehr in ihren Gedanken.
Sami lächelt freundlich. »Und wovor hast du Angst?«
»Oh, ja.« Maxime rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. »Ich ... Ich habe Angst ... dass ich ...« Sie bricht ab, aber setzt dann neu an. »Ich habe Angst, dass ich ... mich verliere. Und dass ich die Dinge bereue, die ich tue, sie aber dann nicht mehr rückgängig machen kann, versteht ihr?«
Eine Stille tritt ein. Ich glaube, wir alle versuchen zu verstehen, was sie gerade gesagt hat.
Maxime schaut mich mit großen Augen an, aber ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ihre Antwort hat mich völlig überrascht. Ich wusste nur, dass sie sich vor Clowns fürchtet.
»Ich glaube, wir alle haben hin und wieder Angst, die Kontrolle über unser Leben zu verlieren«, sagt Daniel schließlich.
Maxime lacht nervös. »Oh, aber so meinte ich es nicht«, sagt sie. »Ich habe einfach Angst, dass ich die Schule nicht schaffe, versteht ihr, und dass ich mir das ewig übelnehmen werde.«
»Kommt mir bekannt vor.« Sami grinst. »Dir auch, Daniel?«
Daniel hebt eine Augenbraue. »Geschmeidige Überleitung, damit habe ich gerade nicht gerechnet.« Er schweigt kurz. Und dann: »Mein Leben ist nicht sehr interessant. Ich bin neunzehn und studiere seit letztem Jahr Biologie, weil ich nicht willenlos zusehen kann, wie die Menschheit die Welt zerstört. Ich möchte später Klimasysteme erforschen.«
»Gute Geschichte«, sagt Sami, »bloß, dass du dieses Semester noch keine einzige Prüfung bestanden hast und dir dein Mentor vor ein paar Wochen erzählt hat, du solltest dein Studium vielleicht lieber an den Nagel hängen.«
»Vielen Dank fürs Teilen, du Arsch«, entgegnet Daniel. »Ich habe noch bis Weihnachten Zeit, das schaffe ich schon noch.«
Sami feixt. »Wir werden sehen.«
»Und was ist deine größte Angst?«, fragt Maxime.
»Dass mich mein Vater enterbt, weil ich seinen idiotischen Erwartungen nicht entspreche. Okay«, sagt Daniel in einem Ton, der subtil verdeutlicht, dass er nicht weiter darüber reden will. »Das war ja alles sehr unterhaltsam, aber mir reicht es jetzt echt. Sollen wir rausgehen und ein Feuerchen machen?«
»Ich glaube, Anne war noch nicht an der Reihe.« Lizzy nickt mir zu.
Daniel sieht mich ausdruckslos an. »Oh ja, entschuldige«, sagt er dann. »Wie geht deine Geschichte, Anne?«
Meine Wangen werden rot. Hätte ich doch nur Wasser in meinem Glas. Es ist so warm im Zimmer, und meine Kehle ist trocken. Was soll ich sagen?
»Ich bin sechzehn und kurz vor meinem Abschluss«, fange ich heiser an. »Es läuft ganz gut. Ich weiß noch nicht, was ich danach machen will. Vielleicht studiere ich Grundschulpädagogik. Mir würde das Unterrichten gefallen.« Ich versuche, möglichst munter zu klingen, doch es bleibt irgendwie todlangweilig. »Ich habe Angst vor ... Spinnen und großen Insekten.«
Ich zögere. Das wäre jetzt der Moment, ihnen von Isa zu erzählen. Aber ich will die Stimmung nicht verderben. Ich will nicht, dass sie mich bemitleiden oder mich für bedauernswert halten. Oder noch schlimmer: dass sie weiterfragen ...
»Das, äh ... Das war's schon«, sage ich leise.
»Okay, großartig«, sagt Daniel in einem Ton, als wäre er froh, dass es vorbei ist. »Dann gehen wir jetzt raus. Zieht euch was Warmes über, es kann ganz schön kalt sein bei dem Nebel.«
Lizzy steht auf. »Mist, meine Jacke liegt noch in meinem Zimmer. Gehst du mit, Maxime? Oben ist es so dunkel, ich trau mich nicht allein.«
»Klar, ich beschütze dich vor allen gruseligen Männern, die sich unter deinem Bett versteckt haben. Ich war früher im Kickbox-Training.« Maxime folgt Lizzy lachend in den Flur.
»Ich hole noch ein bisschen Wein und was Hochprozentiges«, sagt Daniel.
Die Wohnzimmertür fällt hinter ihm ins Schloss, und auf einmal sitzen nur noch Sami und ich am Tisch.
Wir schauen uns an.
Der Blick aus seinen braunen Augen hält mich fest, ich kann mich kaum noch bewegen.
Er zieht eine Augenbraue hoch. »Ob es an uns liegt, dass die alle weg sind?«
»Vielleicht.«
Er lacht. »Ich finde, es passt zu dir, dass du in die Grundschule willst. Du wirkst so vernünftig und viel älter als sechzehn.«
»Äh, danke«, sage ich. Zumindest glaube ich, dass es ein Kompliment ist.
»Allerdings solltest du dann unbedingt die Nudeln entfernen, wenn du vor der Klasse stehst.« Er weist mit dem Zeigefinger auf eine Stelle an meiner linken Wange.
»Echt jetzt?« Peinlich berührt streiche ich mir über das Gesicht.
Sein Grinsen wird breiter. »Sie klebt immer noch dort. Warte, ich helfe dir.«
Ich weiß nicht, ob es klug ist, trotzdem lasse ich es zu.
Seine Finger sind warm. Vorsichtig wischt er mir über die Wange und lächelt mich an.
»Yess!« Er zeigt mir das Nudelstückchen.
Ich lege die Arme um mich, und ein Schauer überläuft mich.
»Ist dir kalt?«, fragt Sami erstaunt.
Ich denke: Mir ist nicht kalt. Ich verliebe mich gerade in dich.
Der Gedanke ist so bizarr, dass ich Sami nur anstarren kann.
Maxime und Lizzy retten mich, weil sie ins Zimmer stürmen.
»Wir haben meine Jacke gefunden!«, ruft Lizzy. »Kommt, wir gehen raus! Party!«