Stunden: 11

Die Nacht hat sich über den Wald gelegt und ihn verschluckt. Ich kann ihn nur noch hören. Das Rascheln der Blätter, das Stöhnen des Windes. Und manchmal den klagenden Ruf eines Tieres. Aber niemand außer mir lauscht.

Wir fühlen uns unschlagbar. Kämpfer, laut Sami, der neben Daniel sitzt und sich einen Joint mit ihm teilt. »Legenden!«, ruft Lizzy, während sie ausgelassen mit Maxime zu Cupid's Chokehold um die Flammen im Feuerkorb tanzt. Meiner Ansicht nach sind wir einfach nur betrunken. Trotzdem fühlt es sich gut an.

Heute Morgen kannte ich nur Maxime. Jetzt weiß ich, dass Daniel die Welt retten will, dass Lizzy eine schlechte Beziehung zu ihren Adoptiveltern hat und dass Samis Augen leuchten, wenn er mich anlächelt. Ich weiß auch, dass ich noch sehr viel nicht weiß, aber das scheint in diesem Moment nicht wichtig.

Dieser Abend gehört uns. In gewisser Hinsicht fühlt es sich an, als wären wir Freunde geworden.

Es ist, als hätte mein Gehirn nach ein paar Gläsern Wein und Wodka-Cola all meine früheren Unsicherheiten und Zweifel vergessen. Ich trinke noch einen Schluck von meinem Mixgetränk und lehne mich vorsichtig in ein Kissen in der Sitzkuhle zurück. Maxime und Lizzy schwenken ihre Arme wild zum Bass der Musik. Daniel hat die Lautstärke der Bluetooth-Speaker noch ein wenig hochgedreht.

Das Licht des Feuers streicht über ihre Gesichter. Ich sehe, wie Maxime Lizzy anlacht. Ihre langen blonden Haare glänzen im Schein der Flammen. Eine Locke weht im Wind. Sie streicht sie lässig zur Seite und trinkt einen großen Schluck Wodka-Cola.

So wie sie dort steht, wirkt sie viel älter als sechzehn. Es ist, als könnte ich sie aus der Distanz betrachten und zum ersten Mal sehen, wie schnell sie erwachsen geworden ist. Ich sehe in ihr ein Mädchen, das es nicht mehr gibt, nur noch in meiner Erinnerung.

Ich spüre ein Kitzeln in den Augen und schlucke ein paarmal. Ich will nicht erwachsen werden. Ich will Maxime nicht immer weiter verlieren. Könnte ich die Zeit doch nur einfrieren. Oder noch besser: ein halbes Jahr zurückdrehen ...

Nicht daran denken, Anne, nicht jetzt.

Maxime und Lizzy umarmen sich. Lizzy hebt den Arm, in dem sie ihr Handy hält, und ich beobachte den idiotischen Tanz, den sie ein paarmal wiederholen. Und wie sie sich danach kaputtlachen. Offenbar haben sie ein TikTok gemacht. Ohne mich ...

Ich versuche, es nicht schlimm zu finden, und schaue zum Himmel auf der Suche nach dem Mond oder den Sternen. Aber es ist ein schwarzes Loch. Nach einer Weile wird mir davon schwindelig, und ich setze mich wieder aufrecht hin.

Daniel lässt die Wodkaflasche herumgehen. »Sorry, Leute, das wird Wodka pur, Cola ist aus. Dann gehen wir morgen eben zum Supermarkt im Dorf. Prost!«

Alle Gläser werden gehoben. Wir schauen uns an, und ich sehe, wie sich die Flammen in unser aller Augen spiegeln. Es ist, als würde etwas in uns brennen.

»A night to remember«, sagt Daniel und leert sein Glas in einem Zug. »Auf das Universum und die Freundschaft.«

»Auf das Universum und die Freundschaft«, wiederholen wir und folgen seinem Beispiel. Das Zeug versengt mir die Kehle, und ich muss mich sehr anstrengen, es nicht auszuspucken.

»Wusstet ihr, dass Wodka im Russischen ›saufen‹ bedeutet?« Sami zieht ein letztes Mal an seinem Joint und schnipst die Kippe in den Feuerkorb.

»Bullshit«, antwortet Daniel. »Wodka bedeutet ›Wasser‹.«

»No way. Warum glaubst du eigentlich immer, dass du recht hast?«

»Das glaube ich nicht, das ist so«, sagt Daniel mit einem schiefen Lächeln. »Guck's nach.«

»Okay, wetten wir um fünfzig Euro, dass es ›saufen‹ bedeutet?« Sami zieht sein Handy aus der Hosentasche und wischt über das Display. »Mist, hier draußen ist kein Empfang. Ich geh mal kurz rein.«

Er macht Anstalten, aufzustehen, als Lizzy ruft: »Stopp! Bleib doch bitte sitzen. Wen interessiert es schon, was Wodka bedeutet?« Sie seufzt. »Warum müsst ihr bloß immer über alles diskutieren? Sagt doch mal was Nettes zueinander. Oder könnt ihr das nicht?«

Daniel und Sami schweigen abrupt, und ich sehe, wie sie einen kurzen Blick wechseln. Dann sagt Daniel mit einem Grinsen: »Aber sicher können wir das. Okay, Sami-Boy, trotz deiner schlechten Russischkenntnisse und deiner jetzt schon gescheiterten Karriere als Arzt liebe ich dich.«

Sami seufzt tief. Am liebsten würde ich ihm sagen, er bräuchte sich nicht zu schämen und dass wir uns heute Abend alle lieb haben.

»Also gut, Mann, ich liebe dich auch«, sagt er bedächtig. »Schon seit unserem allerersten Treffen, als du mit diesen idiotisch teuren Fußballschuhen und dem Designer-Trainingsanzug ankamst.«

»Du vergisst zu erzählen, dass du da standest, als wärst du gerade zum besten Fußballer der Welt gewählt worden.«

Wir lachen alle. Daniel legt einen Arm um Sami, und sie klopfen sich gegenseitig freundschaftlich auf die Schultern.

Eine Bö bläst durch die Sitzkuhle und lässt die Flammen hoch auflodern. Der Feuerschein wirft lange Schatten hinter uns, und es sieht aus, als wären wir plötzlich viel mehr Personen.

»Kommt – erzählt uns doch, wie ihr euch kennengelernt habt!«, bittet Maxime. »Das klingt nach einer lustigen Geschichte.«

Sie kichert sehr übertrieben, als Daniel von diesem ersten Fußballtraining erzählt, bei dem Sami und er noch niemanden kannten und sie gerade mit dem Studium angefangen hatten. Lizzy sagt, Daniel habe nur mit dem Fußball angefangen, weil sein Vater früher Hockey gespielt hätte. Und Sami liefert Argumente, weshalb Daniel der schlechteste Fußballer der Welt ist. Alle reden jetzt durcheinander.

Aber ich höre es nicht mehr. Die Töne von Olivia Rodrigos Drivers License klingen auf einmal durch die Nacht, hoch und klar. Ich muss einfach zuhören. »But today I drove through the suburbs. Crying cause you weren't around ...«

Alles Gerede und alle Hintergrundgeräusche verschwinden. Der Wald verschwindet. Es gibt nur noch dieses Lied, als hätte es ein Vakuum um mich erzeugt.

Und plötzlich denke ich an Isa. Ich kann es nicht mehr verhindern.

Du konntest nicht wissen, dass dieses Auto nicht bremsen würde , sage ich mir. Du warst ganz woanders und hast von oben auf die Kreuzung geschaut. Und du dachtest: Das linke Mädchen sieht, wie ein Auto mit hoher Geschwindigkeit heranbraust. Warum warnt sie das Mädchen nicht, das rechts neben ihr auf dem Rad fährt? Sie selbst bremst gerade noch rechtzeitig, wodurch das Auto voll das andere Mädchen trifft ... Warum hat sie das geschehen lassen? Wie kann sie sich selbst noch in die Augen schauen?

Ich atme ein paarmal tief ein und aus, aber plötzlich ist mir wieder furchtbar schwindelig.

Im Wald bewegt sich die Nacht, ganz leicht. Meine Muskeln spannen sich an, und ich rappele mich auf. Irgendwas an dieser Bewegung ... Ich spähe in die Finsternis, und für einen kurzen Moment glaube ich, eine Silhouette zwischen den Bäumen hindurchschlüpfen zu sehen.

Mein Atem stockt, und mir wird noch schwindeliger. Das kann nicht ...

Schwankend mache ich ein paar Schritte nach vorn. Ich merke kaum, dass ich über etwas stolpere und dass etwas umfällt. Ich sehe einen Schatten zwischen den dunklen Baumstämmen. Reglos. Der Schatten hat ungefähr die gleiche Gestalt wie Isa. Irgendwie weiß ich, dass das nicht wirklich ist. Dass ich betrunken bin. Dass ich Dinge sehe, die nicht da sind. Dass ich wahrscheinlich auf einen Baum starre. Aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass der Schatten mitten durch mich hindurchschaut.

»Anne!« Jemand ruft meinen Namen. Oder bilde ich mir das auch ein?

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich etwas bewegt, und für eine Sekunde bin ich abgelenkt. Als ich wieder hinschaue, ist der Schatten verschwunden.

Plötzlich ist mir kalt.

Warum hat Isa das Auto nicht gesehen? Warum habe ich nichts gesagt?

Ich spüre den nassen Nebel auf meinen Wangen. Oder sind es Tränen? Ich will hier weg. Ich will allein sein und mich unter einer Decke verkriechen. Alles vergessen.

»Anne!« Die Stimme klingt jetzt laut, verärgert. »Bist du taub?«

Verwirrt drehe ich den Kopf ...

Und starre Maxime direkt ins Gesicht.

»Du hast eben wie ein Elefant eine Flasche Wodka umgestoßen«, schnauzt sie. »Ich habe schon zehnmal deinen Namen gerufen. Was ist denn mit dir los?«

»Da stand jemand«, sage ich heiser.

»Hä, was?« Maxime schaut mich an, als ob ich verrückt geworden wäre.

»Dort!« Ich zeige zum Waldrand, wo die Bäume wie lange, nachtschwarze Schatten wachen.

»Du meinst, du hast einen Baum gesehen?« Maxime fängt an zu kichern. »Du hast zu viel gesoffen, An, willkommen im Club!«

Die anderen müssen auch lachen, und ich spüre, wie meine Wangen rot werden.

»Nein, nein, da stand wirklich jemand und hat uns beobachtet, glaubt mir, bitte«, stammele ich mit Tränen in den Augen.

Es wird totenstill, und alle starren mich an. Schweigend, erstaunt, vielleicht sogar peinlich berührt. In Maximes Augen sehe ich Mitleid, was noch viel schlimmer ist.

»Ich glaube, wir brauchen dringend noch einen«, durchbricht Daniel die Stille und schenkt uns mit dem kleinen Rest Wodka nach, der noch in der Flasche ist. »Auf alle Schatten in unserem Leben. Auf dass wir sie besiegen!«

»Epischer Text«, sagt Sami. »Darkness will never win.«

Alle Gläser werden gehoben. »Prost!«

Ich hole tief Luft. »Prost!«, sage ich mit rauer Stimme.

Unsere Gläser berühren sich, und fast scheint alles wieder normal. Aber ich sehe in ihrer aller Augen, dass sie sich fragen, was um Himmels willen da gerade vorgefallen ist.