Stunden: 27

Plötzlich passiert alles sehr schnell. Der Junge stolpert zur Haustür und wummert mit den Fäusten gegen das Holz. Eine Sekunde später klappt er zusammen und geht zu Boden. Daniel, Lizzy, Sami und Maxime rennen zum Fenster und stellen sich neben mich.

Das hier ist nicht gut. Das weiß ich, noch bevor Maxime zu schreien beginnt. Noch bevor Lizzy ihren Atem in einem verzweifelten Seufzer ausstößt.

Wir starren alle auf den Jungen auf der anderen Seite der Scheibe, als würden wir uns einen Film anschauen. Er liegt reglos vor unserer Haustür. Seine Augen sind geschlossen, und seine Gesichtshaut ist aschgrau. Das Bild ist so unwirklich, dass ich es kaum glauben kann.

»Ist er tot?«, fragt Maxime.

»Nein«, sagt Daniel heiser. »Ich glaube, er lebt noch.«

Irgendwie erwarte ich, dass der Junge aufsteht und dann unschlüssig mit den Schultern zuckt. »Tut mir leid«, wird er in gedämpftem Ton sagen. »Es geht mir gut, alles in Ordnung. Ich wollte euch nicht erschrecken. Ich mache mich wieder davon. Schönen Tag noch!«

»Dir auch einen schönen Tag!«, würden wir ihm nachrufen. Und dann unsere Jacken anziehen, um zum Supermarkt zu gehen.

Aber so läuft es nicht.

Lizzy kommt als Erste wieder zur Vernunft. »Wir müssen ihm helfen!«, ruft sie.

»Jetzt warte mal, Lizzy«, fährt Daniel sie an. »Wir haben keine Ahnung, wer das ist und woher er kommt. Mach bitte ausnahmsweise mal nichts Impulsives.«

Aber Lizzy hört nicht auf ihn. Sie dreht sich um und läuft aus dem Zimmer.

Ich höre ihre Schritte im Flur, höre, wie die Haustür aufgeht, und ihre Stimme, die ruft: »Hallo, kann mir bitte jemand helfen?«

»Verdammt!«, flucht Daniel und rennt hinter ihr her.

Wir folgen ihm alle.

Lizzy steht gebückt in der Tür und versucht, den Jungen über die Schwelle zu ziehen.

Daniel fasst sie am Arm. »Bist du verrückt geworden?«

»Lass mich los! Er ist verwundet, wir müssen etwas tun.«

»Denk bitte erst mal nach«, sagt Daniel. »Was macht der Kerl plötzlich vor unserem Haus? Das ist, milde ausgedrückt, ziemlich merkwürdig.«

»Mir doch egal«, sagt Lizzy verzweifelt. »Aber er verblutet vielleicht, wenn wir ihn hier liegen lassen.«

»Lizzy hat recht, wir müssen ihm helfen.« Sami stellt sich neben Lizzy. »Wenn du ihn unter den Achseln packst, nehme ich seine Beine.« Er macht Anstalten, hinauszugehen.

»Meine Güte, lass, ich mach schon.« Daniel schiebt Sami zur Seite und tritt selbst über die Schwelle. »Nimm du ihn bei den Armen, er ist viel zu schwer für Lizzy.«

Aus dem dunklen Flur heraus wirkt Daniel wie ein Schemen im dichten weißen Nebel. Feine Wassertropfen kleben an seinem Pullover, und ein Nebelfetzen windet sich um seine Beine. Es hat etwas Unnatürliches, als würde er nicht mehr zu uns gehören.

Jetzt hör schon auf, Anne, das ergibt keinen Sinn.

Neben mir bricht Maxime in Tränen aus. »Sagt, dass Daniel reinkommen soll. Jetzt.«

Ich fasse nach ihrer Hand und spüre, wie sie zittert. »Sie werden dem Jungen helfen, alles wird gut.«

»Aber diese Na-Nachricht«, schluchzt sie. »Wir dürfen nicht raus, sonst passiert gleich etwas Schlimmes.«

»Natürlich nicht«, sagt Lizzy, aber das Selbstvertrauen ist aus ihrer Stimme verschwunden.

Daniel fasst den Jungen an den Fußknöcheln. »Wir bringen dich ins Haus.« Und zu Sami sagt er: »Bei drei heben wir ihn hoch. Eins, zwei ... drei!«

Behutsam heben Daniel und Sami den Jungen hoch. Der stöhnt, und dann fällt sein Kopf schlaff zur Seite. Das letzte bisschen Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen.

»Macht Platz!«, ruft Daniel, während er mit Sami durch den Flur stolpert. Das halten sie nicht lange durch, vermute ich.

Keuchend erreichen sie das Wohnzimmer. Lizzy, Maxime und ich eilen zu ihnen und helfen so gut wir können, den Jungen vorsichtig aufs Sofa zu legen.

»Alle Abstand halten«, sagt Daniel scharf.

Wir tun, was er sagt, und starren auf den Jungen in den auberginefarbenen Kissen.

»Seine Schulter ... Was ist da passiert?«, stammelt Maxime.

»Keine Ahnung«, sagt Daniel.

»Hu... Hu...« Der Junge stöhnt etwas Unverständliches. Seine Augen bewegen sich unter geschlossenen Lidern hin und her, und sein Atem geht schnell, als wäre er in Panik.

»Kannst du das noch mal wiederholen?«, fragt Daniel.

»Etwas ...«, flüstert er. »Draußen ...«

Es wird still.

Sami räuspert sich. »Lasst uns erst mal schauen, wo das Blut herkommt«, sagt er heiser. »Anne und Maxime, würdet ihr mir helfen, ihm Jacke und Pullover auszuziehen? In seinem Pulli ist ein Loch, den sollten wir gleich entsorgen. Lizzy, du holst eine Schüssel mit heißem Wasser und Geschirrtücher aus der Küche. Und Daniel, du schaust nach, ob du irgendwo in diesem Haus noch ein funktionierendes Telefon auftreiben kannst, und suchst ein paar saubere Klamotten für den Jungen zusammen.«