Mit bleichen, verschlossenen Gesichtern starren wir vor uns hin. Wir sagen nur das Allernotwendigste, wie: »Hat auch jemand die Haustür zugemacht?« Oder: »Wie viel Paracetamol haben wir noch?«
Angespannt lausche ich den Geräuschen außerhalb der Hütte. Aber es herrscht Totenstille. Keine raschelnden Zweige, keine klappernden Fensterläden. Sogar die Vögel schweigen. Ich betrachte die Gänsehaut auf meinen Armen. Hunderte kleine hochstehende Härchen, als würden sie etwas spüren, was ich nicht höre.
Wir stehen alle unter Schock.
Als wir dem Jungen den Pullover ausgezogen hatten und die Wunde auf seiner Schulter zum Vorschein kam, wurde mir kurz schwarz vor Augen. Seine rechte Schulter war mit einer dicken Schicht aus geronnenem Blut bedeckt.
»Er verblutet!«, schrie Maxime.
»Er wird nicht sterben, die Blutung hat bereits aufgehört«, widersprach Sami mit unsicherer Stimme und schob die Ärmel seines Pullovers hoch. »Ich werde versuchen, die Wunde zu säubern.«
Lizzy zog Maxime an sich. »Nicht hinschauen«, flüsterte sie und schirmte Maximes Augen mit ihren Händen ab. Und zu uns: »Was ist mit dem Jungen passiert? Ich ... ich habe noch nie so viel Blut gesehen.«
»Keine Ahnung«, murmelte Sami. Mit einem feuchten Geschirrtuch begann er vorsichtig, das Blut abzutupfen. Jedes Mal, wenn er das Tuch in der Schüssel auswusch, färbte sich das Wasser stärker, wie bei einem Pinsel. Es gelang ihm sogar, eine Art Verband aus Geschirrtüchern auf der Schulter des Jungen anzulegen.
»Mehr kann ich nicht für ihn tun«, sagte Sami mit rauer Stimme und stand steif auf. »Die gute Nachricht ist, dass es weniger schlimm ist, als es scheint. Die Wunde ist oberflächlich und kleiner, als man auf den ersten Blick meint. Und soweit ich sehen kann, steckt auch keine Kugel oder ein spitzer Gegenstand darin.« Er seufzte und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Nur die Form der Wunde ist total seltsam. Die Ränder sind ausgefranst, als wäre seine Haut dort einfach abgeschabt worden.«
»Von was denn?«, fragte Daniel scharf.
Sami zuckte mit den Achseln.
Es gab mehr Fragen als Antworten.
»Ich glaube, es wäre sehr vernünftig, wenn sich ein richtiger Arzt die Wunde anschauen würde«, sagte Sami.
Daniel schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Wir können nirgendwo anrufen. Alle Akkus sind leer.«
»Und wenn einer von uns ins Dorf läuft, um Hilfe zu holen?«
Die Frage blieb im Raum hängen.
»Ich glaube, wir müssen warten, bis er zu sich kommt und uns erzählen kann, was genau passiert ist«, sagte Daniel langsam. »Einverstanden?«
Sami nickte. »Okay, aber was machen wir, wenn sich seine Situation verschlechtert?«
Daniel atmete tief ein und aus. »Dann gehen wir ins Dorf.«
Schweigend saßen wir nebeneinander und lauschten den schweren Atemzügen des Jungen auf dem Sofa. Ich dachte immer wieder: Vielleicht stirbt er jetzt. Was machen wir dann? Aber jedes Mal, wenn ich das dachte, bewegte sich seine Brust wieder auf und nieder.
»Ich habe Hunger«, sagte Lizzy nach einer Weile. »Gehen wir noch zum Supermarkt?«
Niemand reagierte.
Zwischen uns hatte sich etwas verändert. Wir konnten unsere Angst nicht mehr weglachen. Sie umgab uns fast spürbar.
»Wir holen gleich was zu essen aus der Küche«, sagte Daniel. »Kommt schon, Leute, zieht nicht so ein Gesicht. Bestimmt gibt es eine logische Erklärung. Das ist nicht das Ende der Welt.«
Wir alle glaubten Daniel. Wahrscheinlich hatten wir da noch einen Funken Hoffnung, dass alles wieder gut würde. Was waren wir naiv ...