Stunden: 30

Ich weiß nicht, wie lange wir schon im Wohnzimmer sitzen. Vielleicht dreißig Minuten, vielleicht eine Stunde oder sogar zwei. Das Warten macht mich noch unruhiger, als ich schon war. Sami und Daniel reden in gedämpftem Ton miteinander. Ich kann die Worte nicht verstehen, aber sie klingen angespannt.

»... etwas gesehen ...«, fange ich auf, als Daniel die Stimme hebt.

»... keine Ahnung ...«

Dann beugen sie sich vor, und ich verstehe wieder nichts.

Ich probiere, Samis Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, auf der Suche nach einem Lächeln oder etwas Beruhigendem, aber er ist vollständig ins Gespräch mit Daniel vertieft.

Ich beiße mir auf die Lippe und schlinge die Arme um meinen Körper. Seitdem die Heizung nicht mehr funktioniert, ist es hier drinnen eiskalt geworden. Die Kälte hängt überall: in der Luft, an den Fenstern mit dem Kondenswasser, im Bodenbelag. Maxime und Lizzy haben eine Bettdecke von oben geholt, unter der sie jetzt gemeinsam in einer Zimmerecke kauern. Maxime hält Lizzys Hand. Als ich versuche, Blickkontakt mit ihr herzustellen, starrt sie mit leerem Blick an mir vorbei. Lizzy lehnt mit geschlossenen Augen an der Wand.

Plötzlich setzt sie sich auf. »Ssst«, zischt sie. »Hört ihr das auch? Es ... Es klingt, als würde jemand durch den Flur schlurfen.«

Wir lauschen alle. Außer unserem eigenen Atem höre ich nichts. Ist Lizzy verrückt geworden? Aber dann wird mir ein Geräusch hinter mir bewusst. Leises Knarren ... Mit einem Ruck drehe ich den Kopf.

Der Junge auf dem Sofa hat sich aufgerichtet. Seine Haare sind verstrubbelt, und er schaut uns an, als wären wir Gespenster.

»Du bist wach!« Sami springt auf. Mit wenigen Schritten ist er bei dem Jungen. »Geht es denn?«, fragt er leise, aber unverkennbar angespannt.

Der Junge erstarrt kurz und sagt dann heiser: »Ich ... ich habe Durst.«

»Ich hole ein Glas Wasser«, bietet Lizzy an. Sie eilt in die Küche.

»Wie heißt du?«, fragt Sami freundlich.

»Vincent.« Seine Atmung ist mühsam. »Vincent ... Jansen.«

Lizzy kommt mit einem großen Glas Wasser zurück. »Bitte«, sagt sie ein wenig atemlos und reicht dem Jungen das Glas.

Er trinkt gierig. Ich mustere ihn aufmerksam: dunkelblonde Haare, die sich im Nacken in alle Richtungen kräuseln, lange schwarze Wimpern, dunkelbraune Augen mit einem freundlichen, sanften Blick. Bestimmt halten ihn alle Mädchen an der Schule für eine Art Golden-Retriever-Boy, den man wegen seiner liebenswürdigen Ausstrahlung einfach nett finden muss.

»Danke schön«, sagt er, als das Glas leer ist. »Wer seid ihr eigentlich?«

Reihum nennen wir ihm unsere Namen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sie auf Anhieb behält, aber er scheint schon allein dadurch beruhigt, dass wir einfach Namen haben.

Daniel setzt sich auf die Sofalehne. »Du hast uns einen gewaltigen Schrecken eingejagt, Vincent. Aber lass uns beim Wichtigsten anfangen: Wie fühlst du dich?«

»Ein wenig müde ... und schwindelig.« Vincent versucht, seinen Arm zu bewegen, und verzieht dabei das Gesicht vor Schmerz. »Meine Schulter will nicht so richtig. Aber sonst geht es schon.«

»Wir glauben, dass du von etwas getroffen wurdest. Oder dass dich ein Tier angegriffen hat oder so etwas«, sagt Daniel langsam. »Kannst du dich an irgendwas erinnern?«

Unruhig rutscht Vincent auf dem Sofa hin und her, er scheint sich unter unseren forschenden Blicken nicht besonders wohlzufühlen. »Ich ... ich weiß noch, dass ich Joggen war. Das mache ich jedes Wochenende, ich ... ich wohne hier in der Nähe, ein Stückchen oberhalb von Riethoven.«

Eine Regung huscht über sein Gesicht. Etwas Grüblerisches, vielleicht sogar Angst.


»Es war irre still, als ich durch das Dorf rannte. Als wären alle in Urlaub.«

Er macht eine kurze Pause.

Ich muss an die verlassenen Straßen denken, durch die Maxime und ich gestern kamen, und starre aus dem Fenster. Aber außer dem Nebel und meinem eigenen blassen Spiegelbild ist dort nichts zu sehen. Ich schaue wieder zu Vincent und versuche, das Gefühl steigender innerer Unruhe zu unterdrücken.

»Im Wald fand ich es eigentlich ganz entspannend, dass keine anderen Leute unterwegs waren«, fährt er fort. »Ich hatte meine AirPods in den Ohren und hörte ein langweiliges englisches Buch, das ich für die Schule lesen muss.« Um seinen Mund spielt ein kleines Lächeln. »Ich mache dieses Jahr meinen Abschluss, aber ich bin ziemlich schlecht vorbereitet. Ich ... Ich glaube, vor lauter Nebel bin ich im Wald falsch abgebogen.« Vincent spricht vorsichtig, als wäre er sich seiner Geschichte nicht ganz sicher. »Denn auf einmal war ich auf einer Lichtung, auf der ich noch nie gewesen bin. Der Nebel war so dick geworden, dass ich meine eigenen Schuhe kaum noch sehen konnte. Und dann ... sah ich plötzlich etwas.«

»Was?«, fragt Maxime erschrocken.

»Einen Schatten zwischen den Bäumen«, flüstert er. »Er hatte Ähnlichkeit mit einem Mann, aber er war riesig.«

Etwas an seinen Worten, an der Art, wie er sie ausspricht, lässt mich erschaudern. Vage nehme ich wahr, dass Daniel neben mir die Stirn runzelt.

Wieder folgt eine kurze Stille, in der alle Vincents Gesicht anstieren. »Und ... Und dann spürte ich auf einmal etwas Hartes an meiner Schulter. Erst nach einigen Sekunden fing es an wehzutun und mir wurde schwindelig ... Ich fühlte Blut und geriet in Panik. Und da entdeckte ich eure Hütte im Nebel. Ich lief darauf zu ... und dann muss ich das Bewusstsein verloren haben, denke ich, denn den Rest weiß ich nicht mehr.«

Ich halte die Sofalehne fest und habe das seltsame Gefühl, dass ab jetzt alles anders werden wird. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, und mir ist leicht schwindelig.

»Ich will nach Hause«, sagt Maxime leise. »Das ist alles nicht mehr lustig.«

»Ich glaube, niemand findet das noch lustig«, sagt Daniel tonlos. »Aber lasst uns bitte Ruhe bewahren.«

Daniel hat recht, denke ich – es ist nicht sinnvoll, jetzt in Panik zu geraten. Ich hole tief Luft und versuche, mich wieder in den Griff zu bekommen.

»Sorry«, sagt Vincent. »Ich wollte euch nicht in Schwierigkeiten bringen.«

Daniel lacht freudlos. »Ich fürchte, wir stecken schon mittendrin.«

In knappen Worten erzählt Daniel von unserem Urlaub in diesem Naturhäuschen, der Stromstörung, der merkwürdigen Nachricht auf Instagram.

»Es könnte genauso gut umgekehrt sein«, beendet Daniel seine Zusammenfassung. »Vielleicht hat dich etwas oder jemand im Nebel für einen von uns gehalten.«

»Meine Güte«, sagt Vincent heiser. Sein blasses Gesicht scheint noch mehr Farbe verloren zu haben, und in seinem Blick sehe ich Panik.

»Ich habe eine Idee!«, sagt Lizzy plötzlich mit leuchtenden Augen. »Dass wir nicht früher daran gedacht haben! Hast du auch so eine Nachricht auf Insta bekommen?«

»Nein ... oder vielleicht ja doch«, stammelt Vincent. »Ich habe keine Ahnung. Ich kann aber schnell nachsehen. Könnte mir jemand mein Handy aus meiner Trainingsjacke bringen?«

»Glänzende Idee, Lizzy!«, ruft Sami und lacht. »Wenn Vincents Handy noch Saft hat, können wir auch jemanden anrufen!«