Stunden: 31

Gerade als ich denke, schlimmer kann es gar nicht werden, wird alles noch ein wenig schlimmer. Natürlich finden wir Vincents Handy nicht. Wahrscheinlich ist es ihm im Wald aus der Jackentasche gefallen oder so etwas. Ich hätte wissen müssen, dass es so enden würde. In der Realität gibt es nie ein Happy End. Nicht mit Isa und auch nicht jetzt.

Wir starren uns niedergeschlagen an.

»Okay, was machen wir nun?«, fragt Lizzy. »Wie lautet Plan B?«

Daniel verschränkt die Arme. »Plan B ist, dass wir hierbleiben, bis wir mehr wissen.«

Die Worte bleiben zwischen uns hängen. Mit seiner Bemerkung ruft Daniel unbeabsichtigt mehr Fragen auf als Antworten. Was, wenn das alles ist, was wir erfahren werden? Wie lange müssen wir dann hierbleiben?

»Komm schon.« Lizzy seufzt. »Das ist doch nicht dein Ernst? Ich bin für Plan C.«

Daniels Mund verzieht sich zu einem schwachen Lächeln. »Du machst mich neugierig. Wie lautet Plan C?«

Lizzy erwidert sein Lächeln nicht. »Wir packen unsere Sachen und gehen einfach nach Hause. Wir sind zu sechst, was kann da schon passieren?«

»Ich weiß nicht«, sagt Sami zögerlich. »Solange wir nicht wissen, wer Vincent angegriffen hat, habe ich keine große Lust, so als Zielscheibe durch den Wald zu laufen.«

»Herrgott noch mal, wir können aber doch auch nicht ewig hier hocken bleiben und nichts tun!« Lizzy steht auf. »Ich will hier weg. WEG!!!!!«

Daniel geht zu ihr. »Lizzy, niemand spricht hier von ewig, es geht höchstens um eine weitere Nacht. Wenn wir nachher wieder Strom haben, können wir die Polizei anrufen.«

»Hör bloß auf!« Sie weicht zurück.

»Du bist erschrocken«, sagt Daniel ruhig. »Das sind wir alle, und das ist logisch. Aber wir werden keine übereilten Entscheidungen treffen.«

»Oh, puh, ich habe ja so eine Angst!« Sie verdreht die Augen. »Mir reicht es jetzt echt mit dem ganzen hysterischen Getue. Was haltet ihr von folgendem Szenario? Vincent joggt durch den Wald, Vincent kommt vom Weg ab, Vincent wird aus Versehen von einem Jäger getroffen, ein Streifschuss oder so was, Vincent fühlt sich nicht so gut und legt sich vor unsere Haustür, und jetzt glauben wir auf einmal, irgendein Psychopath will uns alle erschießen. Kommt schon, wie alt seid ihr?«

Es passiert so plötzlich, dass wir kaum Gelegenheit haben zu reagieren. Lizzy dreht sich um und schlüpft in den Flur.

»Was ihr macht, weiß ich nicht, aber ich gehe jetzt raus, frische Luft schnappen!«, hören wir sie rufen. »Wer hat Lust, mitzugehen?«

»Lizzy, beherrsch dich!« Daniel folgt ihr in den Flur.

Wir stehen alle auf und laufen hinter Daniel und Lizzy her, um nichts zu verpassen. Vincent macht das Schlusslicht, und ich höre ihn vor Anstrengung keuchen.

»Lass uns in Ruhe darüber reden«, sagt Daniel. Im letzten Rest Tageslicht ist er nur ein Schemen.

»Ich habe genug geredet«, entgegnet Lizzy an der Haustür. »Sei froh, dass ich mich freiwillig opfere, um die Situation draußen zu prüfen. Ich werde alle Schatten grüßen, denen ich begegne. Und reagier nicht so mürrisch, du bist schließlich nicht der Chef mit all deinen Regeln.«

»Bitte, Liz«, fleht Maxime. »Bleib hier. Wer weiß, vielleicht passiert dir was!«

Lizzy stellt sich taub. »Auf geht's.«

Daniel atmet tief aus, als hätte er immer schon gewusst, dass Lizzy das irgendwann tun würde. »Du gehst ein großes Risiko ein. Und nicht nur für dich selbst. Hast du darüber mal nachgedacht?«

Einen Moment scheint sie zu zögern. Dann sagt sie kichernd: »Komm schon, das glaubst du doch selbst nicht?«

Ein lautes Klicken.

Sie drückt die Türklinke nach unten.

Die Haustür schwenkt laut knarrend auf.

»Nicht, Lizzy!«

Daniel schreit ihren Namen. Vielleicht schockiert mich das am allermeisten. Daniel hat sich die ganze Zeit, in der wir hier sind, noch nicht so gehen lassen.

»Wow, draußen ist es so schön«, sagt Lizzy leise, als wäre sie in einer anderen Welt. Der Nebel ist dunkelgrau durch das weichende Tageslicht. Gleich wird es ganz dunkel sein. Und dann verwandelt sich der Wald in ein schwarzes Loch, in dem alles und jeder verschwinden kann. Ich balle die Hände zu Fäusten und bete, dass Lizzy schnell wieder reinkommt.

»Juhu!«, ruft sie und läuft in die Dämmerung. »Das ist so toll! Freiheit!«

Sie dreht sich im Kreis, die Arme hoch erhoben. Es hat etwas Besessenes. Etwas Herausforderndes.

»Kommt ihr auch raus?« Ihre Stimme klingt gedämpft im Nebel. »Es ist wirklich okay hier.«

Nebelschwaden treiben wie Rauch in den Flur. Es ist, als würde der Wald in Flammen stehen, nur dass es nicht nach brennendem Holz riecht.

Schweigend stehen wir nebeneinander. Lizzy läuft über das Gras, erst noch ganz nah, dann immer weiter entfernt. Und dann sehen wir sie nicht mehr.

»Fuck!«, sagt Sami. »Sie wird doch nicht ...«

»Ich weiß es nicht«, sagt Daniel.

Maxime fängt an zu weinen.

»Pssst«, flüstere ich. »Sie kommt bestimmt zurück. Sie lässt uns hier nicht allein.«

Aber ich habe keine Ahnung, warum ich das sage, denn eigentlich glaube ich eher, dass Lizzy sich einfach aus dem Staub gemacht hat. Sie wirkte jedenfalls entschlossen.

Ich weiß nicht, wie lange wir so nebeneinander auf der Türschwelle stehen. Es fühlt sich an wie eine Viertelstunde, es könnten aber auch nur wenige Minuten sein.

Plötzlich schreit jemand draußen: »Neeeeeiiiin, bitte nicht, ich will noch nicht steeerben!«

Maxime kreischt auf, und Daniel schnauzt sie an, sie solle sich zusammenreißen.

Dann hören wir Lizzy ganz laut lachen. »Das war ein Scherz!« Sie kommt aus dem Nebel zum Vorschein. »Eure Gesichter – einfach umwerfend!«

Sami atmet aus. »Sehr witzig.«

»Thanks«, antwortet Lizzy und geht ins Haus. Ein Schleier aus Wassertröpfchen glitzert auf ihren Haaren und der Kleidung – als wäre sie in einem Spinnennetz aus Nebel gefangen.

»Ich habe eine Runde ums Haus gedreht. Alles sah völlig normal aus.« Sie feixt. »Das ist einfach ein Wald aus Bäumen, nichts Besonderes. Wir können heimgehen.«

Die Haustür fällt hinter ihr ins Schloss, wodurch es fast vollständig dunkel wird.

»Lasst uns bis morgen früh warten«, sagt Daniel.

»Wenn dich das glücklich macht, von mir aus«, brummt Lizzy. »Es ist jetzt sowieso zu dunkel, um ins Dorf zu gehen. Man sieht echt nichts mehr.«

»Ist dir wirklich nichts aufgefallen?«, fragt Maxime.

»Nö«, sagt Lizzy, und wir kehren ins Wohnzimmer zurück. »Und ich wurde auch nicht angeschossen, überfallen oder von Aliens verspeist. Ich sagte doch, dass nichts ist!«

Sie läuft zum Tisch und zündet die Teelichter an. Das Licht der kleinen Kerzen legt dunkle Schatten auf unsere Gesichter.

»Also sind alle damit einverstanden?«, fragt sie. »Morgen gehen wir nach Hause?«

Daniel räuspert sich. »Lasst uns abstimmen. Wer ist dafür?«

Alle Hände gehen hoch. Erst Lizzys, dann Vincents, dann folgen Sami, Maxime und ich, und schließlich hebt auch Daniel die Hand.

»Fein«, sagt Sami. »Morgen sind wir zu Hause. Und in ein paar Tagen lachen wir darüber, glaubt mir.«

Er hat recht, denke ich. Morgen sind wir zu Hause. Ich sollte das in Gedanken ständig wiederholen.

Aber im Augenblick herrscht in meinem Kopf ein einziges Chaos.

Und ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.