Stunden: 35

Der restliche Abend verläuft weniger schlimm als befürchtet. Im Schein der Teelichter leeren wir die letzte Tüte Paprikachips. Ich merke, dass ich Hunger habe und mich beherrschen muss, um die Tüte nicht noch auszulecken. Vincent scheint sich immer besser zu fühlen. Er erzählt ohne Punkt und Komma, hauptsächlich witzige Storys über die Schule, die Leute aus seiner Klasse und die vielen Male, in denen er rausgeschickt wurde, weil er beim Abschreiben erwischt wurde. Ich kenne keinen einzigen der Menschen, von denen er spricht, aber es tut gut, mal wieder lachen zu können. Unsere Angst rückt allmählich in den Hintergrund wie eine Erinnerung, die zwar noch da ist, an die man aber nicht mehr wirklich denkt.

Auf Maximes Frage, ob wir nicht lieber ein paar Chips für morgen aufbewahren sollten, sagt Lizzy entschieden: »Du meinst, einen Lebensmittelvorrat anlegen? Auf keinen Fall, morgen früh sind wir hier weg!«

Lizzy verkündet als Erste, dass sie schlafen geht. Unter ihren Augen sind dunkle Ringe, und sie sagt, sie hätte Kopfschmerzen. Maxime steht auch sofort auf, als würde sie mit Lizzy ein Zimmer teilen und nicht mit mir. »Ich komme mit und leg mich auch hin, okay?«

Lizzy nickt, aber sie scheint mit ihren Gedanken nicht bei der Sache.

»Wartet«, sagt Sami und lässt vorsichtig ein Teelicht in ein Glas fallen. »Nehmt das mit, dann müsst ihr nicht im Dunkeln nach oben.«

»Danke«, murmelt Maxime und geht mit Lizzy Richtung Flur. Ich schaue ihnen hinterher, bis die Finsternis sie verschluckt. Ganz kurz verspüre ich den Drang, ihnen nachzulaufen, Maximes Hand zu nehmen und sie zu bitten, bei mir zu bleiben. Aber damit würde ich mich wirklich lächerlich machen ...

»Ich habe Lust auf eine Kippe«, sagt Vincent. »Zum Glück ist mir die Schachtel nicht aus der Jacke gefallen. Stört es jemanden?«

Bevor wir antworten können, hat er die Zigarette schon angezündet. Genussvoll nimmt er einen Zug und streckt sich auf dem Sofa aus. »Göttlich.« Eine graue Rauchschwade kringelt sich in Richtung Decke. »Haben wir noch etwas zu trinken?«

»Ich glaube, du bist wieder fit genug, um dir selbst ein Glas Wasser aus der Küche zu holen«, antwortet Daniel mit einem schwachen Lächeln.

Vincent setzt sich auf. »Ich hatte eigentlich an etwas Stärkeres gedacht ... Wein, Bier, Wodka, was Gemixtes.« Er zwinkert uns zu. »Um zu feiern, dass alles gut ausgegangen ist.«

»In der Küche steht noch eine Flasche Wein, aber wir sollten heute Nacht lieber einen klaren Kopf behalten, meinst du nicht auch?« An Daniels Stirnrunzeln ist abzulesen, dass er sich ärgert.

Vincent guckt einen Moment erstaunt und antwortet dann: »Ja, ja, klar, du hast völlig recht. Dummer Vorschlag von mir. Ich bin bloß so erleichtert, dass ich noch lebe!«

»Wir auch.« Sami grinst und steht auf. »Aber sei ein bisschen vorsichtig, Mann, die Wunde sollte sich nicht entzünden.«

»Ja, Herr Doktor«, erwidert Vincent brav.

»Tut mir leid, Jungs, aber ich bin müde«, sagt Sami. »Ich hau mich aufs Ohr. Bleibt ihr hier sitzen?«

»Nein, ich gehe auch schlafen«, sage ich schnell. Ich fühle mich nicht ganz wohl als einziges Mädchen bei Daniel und Vincent. Ich habe das Gefühl, dass sie sich nicht ganz grün sind, wahrscheinlich sind sie zu verschieden.

»Ich werde dich sicher nach oben geleiten«, verspricht Sami. »Kommen Sie nur mit, Jungfrau Anne. Wenn wir einem Drachen begegnen, werde ich ihn mit bloßen Händen töten.« Er lächelt mir zu. Ich weiß, ich sollte nichts dahinter suchen, aber mein Herz schlägt wieder einen Purzelbaum.

Im schwachen Schein des Teelichts gehen wir die Treppe hinauf. Die Stufen knarren bei jedem Schritt. Die Dunkelheit um uns herum ist so schwarz und dicht, dass ich keine Einzelheiten ausmachen kann. Ich bin froh, dass Sami mich begleitet, denn ich fühle mich nicht sicher in diesem Haus.

Keuchend steige ich die letzte Stufe hoch. Sami lässt den Schein der kleinen Kerze im Glas über den Treppenabsatz wandern. Das Licht malt blassgelbe Kreise an Wände und Decke. Da ist niemand. Doch der Raum bleibt unheimlich düster.

»Irgendwas ist mit diesem Haus«, murmelt Sami. »Bald glaube ich noch wirklich, dass irgendwo Drachen sind.« Er seufzt tief. Seine Schultern zucken, und für einen kurzen Moment glaube ich, er weint. Aber dann wird mir klar, dass er lacht.

»Wie tief kann man sinken?«, fragt er glucksend.

Ich starre ihn an und fange auch an zu lachen. Ich kann es nicht mehr aufhalten. Es klingt hysterisch, als würde ich ersticken. Es ist, als würde sich alle Anspannung des Tages lösen.

Sami hält einen Zeigefinger vor den Mund. »Pst!«, sagt er. »Lizzy und Maxime schlafen schon.«

»Oh, ja«, flüstere ich und pruste erneut los.

Wiehernd vor Lachen schauen wir uns an. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so einen Lachanfall hatte.

Sami wischt sich mit der freien Hand die Tränen aus den Augenwinkeln. »Fast schade, dass wir morgen nach Hause fahren«, sagt er und kommt einen Schritt näher.

In dem Raum zwischen uns ist fast nur noch zartgelbes Licht.

»Weißt du, Anne«, sagt Sami. »Ich werde dich vermissen.«

Er nimmt meine Hand, und plötzlich sehnt sich mein ganzer Körper danach, von ihm berührt zu werden.

»Als Daniel und ich euch gestern Nachmittag die Tür geöffnet haben, wusste ich gleich, dass ich dich mag. Von allen Mädchen hier bist du am meisten real. «

Ich weiß nicht, was ich antworten soll, und kann ihn nur noch anstarren.

Er kommt noch einen Schritt näher. Dann stehen wir so nahe beieinander, dass ich seinen warmen Atem auf meinen Wangen fühlen kann.

»Anne ...«, sagt er langsam.

Es ist, als würde die restliche Hütte verschwinden, als würde alles stillstehen, auch mein Herz.

Er beugt den Kopf.

Sobald er mit seinen Lippen meine berührt, spüre ich eine merkwürdige Wärme im ganzen Körper. Er küsst mich sehr behutsam. So leicht, als hätte er Sorge, mir wehzutun. Ich vergesse, dass mein Kopf voll trauriger Bilder steckt, voller Schuldgefühle und verlorener Träume.

Zum ersten Mal in all den Monaten finde ich mich selbst wieder.

Ich drücke mich fester an ihn, und meine Hände gleiten über seinen Rücken. Ich möchte in ihn kriechen, ihn nie wieder loslassen. Ich lasse meine Zunge in seinen Mund gleiten und suche nach seiner.

Er löst sich von mir. »Shit«, flucht er. »Anne, es tut mir leid.« Er holt tief Luft. Seine Augen glänzen schwarz und undurchdringlich.

Erschrocken schaue ich ihn an. »Was ist?«

»Ich hätte dich nicht küssen dürfen.« Ich höre sowohl Sehnsucht als auch Verzweiflung in seiner Stimme. »Ich ... ich kann dir nicht geben, worauf du hoffst.«

Die Worte fühlen sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Im Dunkeln spüre ich, wie meine Wangen prickeln.

»Ich schaffe das alles gerade so. Dich zu küssen, macht alles noch viel schlimmer.«

Im schwachen Lichtschein sehe ich seinen gequälten Blick und habe Angst, auf der Stelle in Ohnmacht zu fallen vor lauter Scham.

»Sorry, so meinte ich das nicht. Ich finde dich echt nett, Anne.«

Ich verschränke dir Arme, und es schaudert mich. Wie konnte ich nur so dumm sein? Wie konnte ich auch nur eine Sekunde lang denken, er wäre auch in mich verliebt?

»Geh ruhig zuerst ins Bad«, murmelt er. »Ich gehe nach dir.«

Ich nicke, denn ich kann im Augenblick nichts herausbringen.

»Nimm das mit.« Er reicht mir das Teelicht.

Wieder nicke ich, während ich mir die kalten Hände am Glas wärme.

Fast wirkt es, als wollte er noch etwas sagen, aber dann dreht er sich um und entfernt sich von mir. Die Finsternis umschließt ihn langsam, als würde er sich nach und nach auflösen.

Er ist nur noch ein vager Umriss, als er auf Höhe seines Zimmers sagt: »Du kannst mich immer rufen, wenn heute Nacht etwas ist. Schlaf gut, Anne.«

Seine Zimmertür fällt leise hinter ihm zu.

Wenn der glaubt, dass ich jemals noch mit ihm rede, dann versteht er wirklich nichts. Er wäre der Letzte, den ich rufen würde.