»Max?«, flüstere ich in die Dunkelheit, während ich mich auf Zehenspitzen zum Bett schleiche.
Keine Antwort. Sie schläft schon ... zum Glück. Ich habe nämlich absolut keine Lust, Fragen darüber zu beantworten, was ich mit Sami draußen im Flur gemacht habe.
Das Glas stelle ich auf mein Nachtschränkchen. Ich traue mich nicht, das Teelicht auszublasen, aus Angst vor der Dunkelheit. Vorsichtig krieche ich ins Bett und ziehe die klamme Bettdecke fest um mich, um warm zu bleiben. Maxime liegt mit dem Rücken zu mir, und ich kann die Distanz zwischen uns fast spüren. Plötzlich muss ich an uns beide anfangs in der Schule denken. Maxime mit ihren strähnigen Haaren, die damals noch braun waren, und ihrem fröhlichen Lachen. Und ich mit meinem grenzenlosen Vertrauen, dass schon alles gut werden würde, solange wir nur zusammen sind.
Was ist mit uns geschehen?
Ich liege noch lange wach, frierend und ein Häufchen Elend, und starre in die Finsternis. Morgen fahren wir nach Hause, morgen fahren wir nach Hause. Ich wiederhole es unzählige Male in Gedanken, als würde ich Schäfchen zählen.
Doch ich bin mir sicher, dass ich nicht einschlafen werde.
Ich bin ganz allein. Meine Schritte hallen in der stillen Straße. Alles sieht normal aus, aber das ist es nicht. Ich komme an verlassenen Häusern vorbei. Die Fenster wirken wie tief liegende schwarze Augen ohne Leben. Ich sehe keine Vögel in den Bäumen. Keine Autos, die vorbeifahren. Keine Menschen auf der Straße.
Ich erinnere mich noch, wie die Stadt früher klang.
Das Brummen der Fahrzeuge auf dem Asphalt. Das Bimmeln einer Fahrradklingel und ein Hund, der irgendwo bellte. Gesprächsfetzen in meinen Ohren. Das ewige Stimmengewirr, auf das ich nie achtete, weil es immer da war.
Dann kam die Stille.
Und die Angst.
Aber ängstlich bin ich schon lange nicht mehr. Eher traurig über alles, was ich verloren habe.
Vor meinen Füßen endet der Weg plötzlich. Eine große Leere tut sich vor mir auf. Das ist ein Ort, den es nicht gibt. Ich fange an zu weinen und mache ein paar schwankende Schritte Richtung Straßenrand. Die Leere ist so leer, dass ich anfange, Dinge darin zu sehen. Erinnerungen von früher.
Meine Eltern, als sie noch jung waren und mich noch anlachen konnten.
Isa, die neben mir radelt, der Wind, der durch ihre Haare weht. Sie lächelt mich an. Oder ist das Maxime?
Egal. Sie sind beide verschwunden.
Vielleicht kommen sie als jemand anderes zurück. Vielleicht werde ich sie nie wiedersehen.
Dann lasse ich mich fallen.
Schweißnass schrecke ich auf. Es dauert bestimmt eine Minute, bevor mir klar wird, wo ich bin. Das Teelicht ist ausgebrannt, aber es ist nicht dunkel. Unter den Vorhängen fällt fahles Tageslicht ins Zimmer. Der Stoff bewegt sich sachte im Wind. Ich kann mich nicht erinnern, dass das Fenster gestern Abend offen stand ...
Ich will Maxime fragen, ob sie es gestern vielleicht aufgemacht hat, aber sie liegt nicht mehr neben mir. Dösig lasse ich mich ins Kissen zurückfallen. Ich überlege, mich der Kälte auszusetzen, das Fenster zu schließen und weiterzuschlafen. Aber dann treibt die Erinnerung an den vorigen Abend nach oben und verscheucht auch das letzte Restchen Schlaf.
Ich sollte lieber aufstehen und meine Sachen packen. Ich kann Sami schließlich nicht den ganzen Tag aus dem Weg gehen ...
Plötzlich höre ich von irgendwo aus dem Haus ein Geräusch. Erst halte ich es für eine Bö. Dann wird das Geräusch lauter und eindringlicher, bis kein Zweifel mehr daran besteht, was ich höre.
Es ist ein lauter, fast tierischer Schrei.
Und ich weiß augenblicklich, dass wir heute nicht nach Hause fahren.