Das hier passiert nicht wirklich. Wir rennen nicht alle zu Lizzys Zimmer, und wir hören sie nicht schreien. Bitte, lass das alles noch ein Traum sein!
Daniel reißt ihre Zimmertür auf.
»Verdammt, sie ist verletzt!«, ruft er und stürmt auf Lizzys Bett zu. »What the fuck ist hier passiert? Lizzy! Lizzy, bitte, sag was!«
Sami stellt sich neben ihn. »Das kann doch nicht wahr sein«, stammelt er.
Keuchend starre ich ins Zimmer. Das Bild ist so absurd, dass ich es kaum begreife. Lizzy sitzt aufrecht im Doppelbett. Die Vorderseite ihres T-Shirts ist dunkelrot vor Blut und klebt an ihrem Bauch. Sogar in den Haaren ist Blut. Lizzy starrt auf die Wand, ohne uns wirklich wahrzunehmen. Hinter ihr wehen die Vorhänge wie Gespenster ins Zimmer.
»Lizzy, sprich mit mir!« Daniel nimmt ihre Hand. Ihr Arm wirkt so dünn. So zerbrechlich.
Sie entzieht ihm den Arm und verbirgt ihr Gesicht in den Händen.
Ich höre schnelle Schritte auf der Treppe, und einen Moment später fegt Vincent ins Zimmer. »Leute, was ist los, ich habe euch schreien hören ...« Bei Lizzys Anblick wird er schlagartig still und weicht zurück.
Hinter ihm taucht Maxime auf. »Wir müssen ihr helfen!«, ruft sie. »Warum macht denn niemand was?«
»Maxime, bitte halt den Mund«, sagt Sami heiser. Er legt Lizzy eine Hand auf die Schulter. »Lizzy, wo tut es weh?«
Sie wiegt sich sanft hin und her, als wäre ihr nicht bewusst, dass Sami sie etwas fragt.
»Ich brauche Wasser. Und Verbandszeug«, erklärt Sami knapp.
»Ich ... ich hole welches«, sagt Daniel. Sein Gesicht ist leichenblass. »Meinst du, sie ...«
Sami schüttelt langsam den Kopf, als würde er nicht wollen, dass Daniel diese Frage stellt. »Ich habe keine Ahnung. Wir ... wir müssen nachsehen, woher das ganze Blut kommt.«
»Ich bin so schnell wie möglich wieder da.« Daniel dreht sich um und geht an Vincent vorbei zum Flur. »Hilfst du mir?«
»Äh, ja«, sagt Vincent. »Klar. Vielleicht müssen wir das Wasser erst abkochen, um es keimfrei zu machen. Das habe ich in einem Film auf Netflix gesehen.«
»Möglich«, entgegnet Daniel kurz angebunden. Dann sagt er noch etwas, aber ich kann die Worte nicht mehr verstehen, weil die beiden die Treppe hinunterpoltern.
Sami wendet sich wieder Lizzy zu. »Es wird alles gut«, sagt er leise. »Kannst du erzählen, was passiert ist?«
»Ich ... Ich ...« Lizzy stöhnt, als würde das Sprechen sie unmenschlich viel Anstrengung kosten. »Ich habe etwas gehört ... und dann ... Ich weiß es nicht.«
»War heute Nacht jemand in deinem Zimmer?«
Lizzy zuckt mit den Schultern. Sie zittert am ganzen Körper.
»Wir werden alle hier sterben.« Maxime schluchzt laut auf. »Erst Vincent und jetzt Lizzy!«
»Hier wird niemand sterben.« Es klingt freundlich, aber Samis Blick ist hart. »Weißt du, was, Maxime, wie wäre es, wenn du ein paar saubere Handtücher suchen würdest?«
Maxime blinzelt, als würde sie ihn nicht verstehen.
»Das wäre wirklich sehr lieb. Dann können wir Lizzy das Blut abwaschen, verstehst du?« Sami lächelt sie an.
»Ja«, sagt sie mit belegter Stimme und schlurft zum Flur.
Ich will mit ihr gehen, aber Sami legt mir die Hand auf den Arm und hält mich zurück.
»Anne, du musst mir helfen«, sagt er. »Ich kann das hier nicht allein.«
»Natürlich.« Ich starre auf meine Hände. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, mich zu sträuben.
»Anne«, sagt er wieder.
Als ich ihn anschaue, spüre ich eine seltsame Leere.
»Wegen gestern Abend ...«, beginnt er, und in seinen Augen sehe ich Schatten.
Irgendwie scheint das alles so lange her. »Ich habe es schon wieder vergessen«, sage ich. »Das hatte nichts zu bedeuten. Sag, was ich machen soll.«
»Okay.« Er nickt und wirkt erleichtert. »Du musst mir bei ihrem T-Shirt helfen.«
Er kniet sich neben das Bett, sodass er Lizzy auf gleicher Höhe in die Augen schauen kann. »Hör zu, Lizzy, kannst du dich vielleicht hinlegen?«
Sie murmelt etwas Unverständliches, anscheinend ein »Ja«.
Er fasst Lizzy an den Schultern und drückt sie leicht nach hinten. »Nur die Ruhe, so geht es gut.«
Lizzys Kopf sinkt ins Kissen. Sie hat noch immer diesen seltsam abwesenden Blick in den Augen.
»Vielleicht ist es ein bisschen merkwürdig, wenn ich ihr das T-Shirt ausziehe.« Er wirft mir einen hilflosen Blick zu. »Ich meine, ich bin ein Mann.«
»Ich mache das«, sage ich heiser.
Schon beim Anblick des blutdurchtränkten T-Shirts wird mir schwindelig. Worauf habe ich mich hier bloß eingelassen? Meine Hände zittern, als ich den Saum von Lizzys T-Shirt vorsichtig hochziehe. Ihre Atmung geht schnell, und ihre Finger krallen sich in meinen Arm.
»Hilf mir«, flüstert sie. »Ich habe so eine Angst ...«
»Pst, nur ruhig«, murmele ich. Aber sie steckt mich mit ihrer Panik an, und ich fühle mich immer weniger wohl. Behutsam streife ich ihr das T-Shirt über den Kopf und lege es danach über ihre Brüste, um sie zu bedecken.
»Fertig«, sage ich zu Sami.
»Danke dir, Anne.«
Seine Hand streicht über meinen Arm. Ich hasse meinen Körper, der sofort darauf reagiert und warm wird.
Sami scheint nichts zu bemerken und beugt sich über das Blut auf Lizzys Bauch.
»Das ist ja seltsam«, sagt er. Ich sehe etwas in seinen Augen. Erstaunen ... aber auch eine Spur Angst. »Da ... Da ist überhaupt keine Wunde. Nicht mal eine Schramme oder ein Schnitt.«
Lizzy beginnt zu stöhnen, als hätte sie Schmerzen.
»Und wo kommt dann das ganze Blut her?«, stammele ich.
»Keine Ahnung«, sagt er langsam. »Aber schau dir mal die Form des Flecks an.«
Es ist, als würde ich durch eine Kamera auf ein Bild starren, das ich nicht scharfstellen kann. Ganz langsam nehmen die Konturen des Flecks Form an. Und es fühlt sich an, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.
»Das ... das sieht aus wie zwei Flügel«, flüstere ich.