Stunden: 48

Wir sitzen uns schweigend am Wohnzimmertisch gegenüber. Mein Herz wummert, und ich lausche auf jedes noch so leise Geräusch. Der Morgen, an dem ich mit Maxime in den Zug gestiegen bin, scheint ewig her. Vor uns auf dem Tisch steht ein Teller mit einer Banane, drei Crackern, zwei Streichwürstchen und anderthalb Scheiben Schnittkäse. Neben dem Teller steht eine Flasche Wein. Das ist alles, was wir in der Küche noch auftreiben konnten.

»Sollen wir gleich die Banane essen und den Rest für später aufbewahren?«, fragt Sami.

Daniel nickt. »Ja, das scheint mir vernünftig. Vielleicht sollten wir alles in kleine Portionen aufteilen, damit wir länger was davon haben.«

Ich habe Hunger. So großen Hunger, dass mir davon schwindelig wird. Ich versuche, das Gefühl zu ignorieren, und stelle mir vor, mein Bauch würde nicht mehr zu meinem Körper gehören. Was nicht da ist, kann man auch nicht spüren ... Aber ich denke trotzdem die ganze Zeit daran.

»Wir fahren aber doch nach Hause?«, fragt Maxime mit tränenerstickter Stimme. »Ihr ... ihr habt gestern gesagt, wir würden gehen.«

Maximes Bemerkung bleibt zwischen uns hängen. Wir starren Maxime an. Ihre Haare hängen ihr ungekämmt und strähnig ums Gesicht. In ihren Augen sehe ich Angst, aber auch eine gewisse Empörung. Als fände sie es sehr ungerecht, dass ihr so etwas passiert.

Daniel räuspert sich. »Heute Nacht hat sich die Situation bedeutend verändert, Maxime«, sagt er leise. »Lasst uns mal sortieren, was wir wissen. Ergänzt ihr bitte, wenn ich etwas vergesse?«

Er schließt für einen Moment die Augen, wodurch sich die dunklen Ringe darunter noch stärker abzeichnen. »Vor einem Tag haben wir eine Nachricht bekommen von jemandem, der sich Angel Prophecies nennt und uns warnt, wir sollten drinnen bleiben. Wir dachten alle, es wäre ein Scherz. Dann fällt der Strom aus. Ein paar Stunden später wird Vincent draußen durch etwas – oder jemanden – verletzt. Das könnte Zufall sein. Aber dann rennt Lizzy gestern Abend aus dem Haus und ... Wir wissen alle, wie das ausgegangen ist. Ich glaube, wenn wir dieses Haus jetzt verlassen, gehen wir ein großes Risiko ein.«

»Ja, das glaube ich auch«, sagt Vincent. »Das ist kein Zufall mehr.«

Sami scheint erst zu zweifeln, nickt dann aber. »Ich bin eurer Meinung. Und Lizzy hat Fieber, ich glaube, es ist sowieso nicht vernünftig, jetzt mit ihr ins Freie zu gehen. Ich habe kein Thermometer, aber ihre Stirn fühlt sich glühend heiß an.«

»Shit, das ist nicht dein Ernst.« Daniel schaut zu Lizzy. Sie hat sich tief in einen Sessel verkrochen, in eine Bettdecke gewickelt. Ihr Blick ist glasig, als wäre sie mit ihren Gedanken woanders.

»Weißt du ... woher dieses Fieber kommt?«, fragt Daniel.

»Nein, das kann einfach ein kleiner grippaler Infekt oder eine Erkältung sein.«

Aber es kann auch etwas anderes sein , lese ich in Samis besorgtem Blick. Etwas, das sie sich eingefangen hat, als sie draußen war.

Die anderen sehen es auch, und wir schweigen alle.

Sami fährt sich mit einer Hand durch die Haare. »Ich habe ihr eine Paracetamol gegeben, aber die Schachtel ist fast leer. Hat zufällig jemand noch etwas von zu Hause mitgebracht?«

Wieder tritt eine Stille ein.

»Dann sollten wir möglichst nicht alle gleichzeitig krank werden«, sagt er mit einem schwachen Lächeln in dem Versuch, die Spannung zu brechen.

Daniel steht auf und geht zum Fenster. Seine Silhouette zeichnet sich dunkel gegen den Nebel ab. Als er endlich etwas sagt, klingt seine Stimme schwer und matt. »Es passt einfach nicht.«

»Vielleicht werden wir als Geiseln gehalten«, murmelt Sami. »Die ganze Welt weiß, dass dein Pa mit seinem Medien-Imperium zu den Top 500 in diesem Land gehört und stinkreich ist.«

»Ja, das ist eine Möglichkeit, mein Vater hat Feinde genug«, sagt Daniel nachdenklich. »Aber das erklärt nicht alles. Warum zum Beispiel ist der Strom ausgefallen? Vielleicht gibt es ja einen weltweiten Blackout, und es sind noch mehr Menschen wie wir drinnen eingesperrt.«

Daniel schaut uns an.

Wir schauen ihn an.

Keiner hat Antworten.

»Aber warum sollte uns jemand bei einem Stromausfall angreifen?«, fragt Sami schließlich. »Das ist nicht logisch. Das wahrscheinlichste Szenario ist doch, dass wir hier von einem Verrückten festgehalten werden. Vielleicht macht der es für Lösegeld oder einfach so zum Spaß. Die letztere Option wäre noch ein wenig übler ...«

»Wisst ihr, woran ich gerade denken muss?«, sagt Vincent auf einmal und streckt sich. »Ich habe neulich einen Film auf Netflix gesehen, der wirklich fucking weird war. Birdbox. Der begann auch so seltsam. Alles war normal, und plötzlich, zack bumm, hat sich die Welt in eine Art Hölle verwandelt. Von einem Moment zum anderen verübten die Leute Selbstmord, weil sie Wesen sahen.«

»Wie endet der Film?«, fragt Sami.


»Schlecht.« Vincent lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Es ist sozusagen das Ende der Welt. Diese Wesen gehen nie mehr weg. Nur eine Handvoll Menschen bleibt am Leben.«

Daniel atmet hörbar ein. »Schöner Film, Vincent. Sollen wir aufhören, darüber zu reden?«

Aber es ist schon zu spät, der Film läuft in meinem Kopf weiter: Ich sehe weinende Menschen vor mir, die einer nach dem anderen Selbstmord begehen, weil die Alternative noch schlimmer ist.

»Wie sahen diese Wesen aus?«, fragt Lizzy. »Waren sie so was wie Schatten?« Sie hat noch immer diesen hohlen, leeren Blick in den Augen.

Vincent kneift die Augen zusammen, als würde er ihre Frage nicht verstehen. »Ich habe keine Ahnung«, sagt er dann. »Im Film bekommt man diese Wesen nie zu Gesicht.«

»Weil es sie nicht gibt«, sagt Daniel und seufzt. »Könnten wir jetzt bei den Fakten bleiben? Hat jemand heute Nacht etwas Merkwürdiges gehört?«

»Nein«, sagt Vincent. »Ich lag unten im Wohnzimmer, aber ich habe niemanden gehört.« Er lächelt ein wenig entschuldigend, als wollte er sagen: Tut mir leid, ich hätte euch gern weitergeholfen.

Maxime legt ihre Arme fest um sich. »Heute Morgen waren im oberen Stock Fenster offen«, sagt sie kaum hörbar. »Ich glaube, so sind sie hereingekommen.«

Eine eigenartige Stille tritt ein. Ich sehe an den Augen aller, dass wir dasselbe denken: Warum um Himmels willen redet sie über »sie« im Plural ...? Aber es sagt auch niemand: »Hör doch auf zu spinnen.«

Wie gelähmt sehen wir uns an. Absurd, wie sich plötzlich alles ändern kann. Vorgestern schien es noch der Beginn eines öden Herbsturlaubs. Jetzt fürchte ich, nie wieder nach Hause zu kommen.

Atmen, rede ich mir gut zu. Einfach weiteratmen und weiter nachdenken. Es muss einen Ausweg geben, nur siehst du ihn noch nicht.

»Wir müssen eine Liste schreiben«, sage ich plötzlich und erschrecke selbst vor mir.

»Hä?« Maxime zieht die Nase hoch und sieht mich verständnislos an.

»Eine Liste mit, äh, Dingen, an die wir uns halten können, mit Anweisungen und Regeln ...« Meine Stimme bebt, aber es gelingt mir dennoch, verhältnismäßig ruhig zu wirken.

Die jetzt eintretende Stille dauert für mein Gefühl ewig.

»Ich finde, das ist eine großartige Idee«, sagt Sami endlich. Er legt mir eine Hand auf die Schulter.

Ich erstarre unter seiner Berührung und sehe, dass ihn meine Reaktion erschreckt. Aber ich bin zu müde, um mir darüber Gedanken zu machen.

»Klasse, Anne!« Vincent grinst. »Wenigstens eine, die noch ihr Hirn einschaltet.«

»Ich stimme voll und ganz zu.« Daniel nimmt einen Stift und einen vergilbten Notizblock aus dem Bücherregal. »Willst du schreiben, Anne?«, fragt er und lächelt.

Ich nicke, weil ich nicht wüsste, wie ich mich weigern könnte. Aber ich zittere am ganzen Körper.