Stunden: 49

Eine Stunde später sind wir fertig. Meine Finger sind ganz verkrampft vom Schreiben. Wir haben alles bestimmt hundertmal durchgesprochen. Schließlich haben wir das Blatt mit den Regeln an der Wand über dem Tisch aufgehängt. Es fühlte sich erleichternd an, auch wenn es ziemlich einfache Abmachungen waren. Aber es gibt uns das Gefühl, ein bisschen Kontrolle zurückzugewinnen.

   

Ich weiß immer noch nicht, warum Daniel Letzteres dabeihaben wollte, vielleicht, weil er befürchtete, wir würden sonst alle nach draußen rennen, wie Lizzy. Als der Zettel an der Wand hing, haben wir alle unsere Namen daruntergekritzelt, als würden wir einen Vertrag unterzeichnen. Doch als ich ihn mir aus der Ferne betrachtete, wirkte er eher wie ein Abschiedsbrief. Sami, Daniel, Lizzy, Maxime, Vincent und Anne waren hier  ...

»Sie werden uns schon suchen kommen, wenn wir Samstag nicht wieder zurück sind«, sagt Sami und zieht auch den letzten Vorhang im Wohnzimmer zu. Die Welt auf der anderen Seite der Scheibe verschwindet. Wir spüren dadurch fast noch deutlicher, dass wir wirklich auf uns angewiesen sind. Im Dämmerlicht sitzen wir auf dem Wohnzimmerboden, Schulter an Schulter, und lauschen.

Es ist still draußen. Je länger wir horchen, desto lauter scheint die Stille zu werden.

»Dürfen wir nicht wenigstens hin und wieder aus dem Fenster schauen?«, durchbricht Maxime das Schweigen. »Nur ein paar Minuten?«

»Wir gehen keine Risiken ein, wir machen einfach genau, was in dieser Nachricht stand«, sagt Daniel. »Sami hat recht, das Ganze wird höchstens ein paar Tage dauern. Es gibt genügend Leute, die wissen, dass wir hier sind – unsere Eltern, der Vermieter. Und vielleicht werden sie ja auch vorher unruhig, weil wir nicht erreichbar sind und auf keine einzige Nachricht reagieren.«

»Vielleicht hocken sie ja auch zu Hause, wenn es ein Blackout ist«, sagt Vincent. »Oder diese Nachricht war wirklich eine Notmeldung, und es hat eine Katastrophe gegeben.«

»Meine Eltern ...« Maxime beginnt zu weinen. Dicke Tränen kullern über ihre Wangen. »Vielleicht ist ihnen etwas passiert.« Sie kneift in meinen Arm.

Ich versuche, sie beruhigend anzulächeln. »Pst, ganz ruhig«, sage ich. Eigentlich weiß ich nicht, warum ich das sage, denn mittlerweile muss ich mich anstrengen, meine eigene Angst im Griff zu behalten.

»Kommt schon, Leute«, sagt Daniel und seufzt. »Das bringt doch nichts. Solange wir nicht sicher wissen, dass auch andere Menschen festsitzen, gehen wir nicht davon aus. Reißt euch zusammen.«

Er wendet sich an Sami und Vincent. »Lasst uns mal hochgehen und schauen, ob wir diese verschlossene Tür aufkriegen. Vielleicht finden wir etwas, womit wir die Fenster verbarrikadieren können.«

»Gute Idee.« Vincent rappelt sich vom Boden auf. »Ich nehme ein paar Kerzchen mit, sonst sehen wir nichts.«

Auch Sami steht auf. »Liegt hier irgendwo Werkzeug in der Hütte? Das brauchen wir vermutlich.«

»Im Schrank unter der Treppe habe ich eine Werkzeugkiste gesehen, glaube ich«, sagt Daniel. »Komm, wir schauen mal, ob was Brauchbares drin ist.«

Im schwachen Schein der Teelichter gehen sie zum Flur.

»Ich habe Hunger«, jammert Maxime, als sie verschwunden sind. »Mein Bauch tut weh, und mir ist schwindelig. Ich habe gestern Abend viel weniger Chips gegessen als ihr, weil ihr schon fast alles aufgegessen hattet.«

Erstaunt sehe ich sie an. Ist das ihr Ernst?

In ihren vom Weinen geschwollenen Augen steht die blanke Panik.

»Kopf hoch, Max«, sage ich freundlich und nehme ihre Hand. »Ich versuche, nicht an den Hunger zu denken, sondern an etwas anderes. Das hilft echt.«

»Bei mir nicht.« Maxime schnieft. »Mir ist einfach schlecht vor Hunger.«

»Weißt du was?« Ich stehe auf. »Ich mache dir einen Tee. Dann hast du was Warmes im Bauch.«

Sie zuckt mit den Schultern.

»Lizzy, willst du auch Tee?«, frage ich.

»Ja, gern«, sagt sie, ohne mich anzuschauen. Ihr scheint es durch das Paracetamol etwas besser zu gehen.

Seufzend nehme ich den Teller mit dem Essen, um ihn in die Küche zu bringen. Ich habe das Gefühl, dass Lizzy und Maxime beide kurz vor einem Zusammenbruch stehen.

Als ich fünf Minuten später mit einer Kanne Tee und drei Bechern zurückkomme, sehe ich, wie Maxime und Lizzy miteinander tuscheln. Maximes Kopf schießt hoch, als sie mich bemerkt.

»Wir dachten schon, du würdest nicht mehr zurückkommen«, sagt sie langsam.

Einen Augenblick weiß ich nicht, was ich antworten soll, und runzele die Stirn.

»Warum guckst du jetzt so böse?«

»Ich gucke nicht böse. Ich denke nach.« Jetzt werfe ich ihr wirklich einen verärgerten Blick zu. »Ich war in der Küche und habe darauf gewartet, dass das Teewasser kocht.«

»Und das dauerte fünf Minuten?«

»Ja.«

Ich höre ein Poltern oben, gefolgt von einem Schlag, und schaue mit einem schrägen Blick in Richtung Flur. Vermutlich sind es die Jungs beim Versuch, die Tür aufzubrechen.

»Weißt du, Lizzy und ich haben uns eine neue Regel überlegt.«

Ihr Blick ist distanziert. »Wir glauben, es ist besser, immer zu zweit in die Küche zu gehen.«

Ich bin fassungslos und spüre, wie meine Wangen rot werden. »Glaubst du vielleicht, ich hätte alle Cracker allein aufgegessen?«, frage ich mit rauer Stimme. »Das würde ich wirklich nie tun, das weißt du.«

»Nein, wie kommst du denn jetzt darauf? Wir dachten einfach, es sei eine gute Idee, alles in diesem Haus gemeinsam zu machen, das ist viel sicherer.« Sie sagt es übertrieben freundlich.

Lizzy nickt und sitzt mit gesenktem Kopf neben Maxime.

»Prima, wie ihr wollt.« Es fühlt sich idiotisch an, sich wegen ein paar Crackern zu streiten. »Dann gehen wir in Zukunft ...«

Ein lauter Schrei ertönt, gefolgt von Daniels Rufen: »Kommt schnell nach oben. Beeilt euch!«