Stunden: 101

An alles kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nicht mehr, wie wir Daniel hochgehoben haben oder welchen Körperteil von ihm ich festgehalten habe. Ich weiß nur noch, dass wir plötzlich alle zusammen im Zimmer der Jungs standen und Daniel auf dem Bett lag. Dass Lizzy weinend eine Decke über ihn gezogen hat und »Schlaf gut« sagte. Dass überall Teelichter brannten, wodurch es aussah, als würde er zwischen Sternen liegen.

Schließlich haben wir uns zu viert ins Wohnzimmer gelegt. Sami meinte, es sei sicherer, wenn wir alle zusammenbleiben würden. Merkwürdigerweise bin ich tatsächlich eingeschlafen und erst wieder aufgeschreckt, als Sami am frühen Morgen ins Zimmer der Jungs ging. Als er zurückkam, sagte er, Daniel sei kalt und steif geworden, und wir sollten das Zimmer lieber nicht mehr betreten. Seine Augen waren pechschwarz und tränenfeucht.

Das war vor einigen Stunden. Jetzt ist es Mittag, vielleicht sogar schon Abend ... Ich habe keine Ahnung. Mit bleichen, verschlossenen Gesichtern starren wir alle vor uns hin. Wir sind Schatten unserer selbst geworden mit unseren fettigen, ungekämmten Haaren, blutunterlaufenen Augen und eingefallenen Wangen. Aber ich glaube, Lizzy ist von uns allen noch am schlechtesten dran. Seit Stunden liegt sie mit geschlossenen Augen auf der Seite, und im schwachen Licht wirkt ihre Haut aschfahl. Wenn ich nicht immer hören würde, wie sie leise ausatmet, würde ich denken, sie sei in aller Stille gestorben.

»Glaubt ihr auch, dass Vincent jetzt jeden Moment mit Hilfe hier sein kann?«, fragt Maxime. Sie redet ein wenig verwaschen und verschluckt einzelne Silben. »Ich hoffe, er bringt Wasser mit. Ich ... Ich habe so großen Durst.«

»Ich weiß nicht, ob Vincent noch kommt«, sagt Sami leise.

»Warum?« Ich kann hören, dass Maxime verzweifelt versucht, die Tränen zurückzuhalten.

»Er hätte schon vor Stunden zurück sein müssen.«

»Nein!«, stöhnt sie, als wäre sie verwundet. »Er muss zurückkommen, sonst sterben wir alle.« Sie fängt nun doch an zu weinen, mit lang gezogenen hysterischen Schluchzern. »Ich will noch nicht sterben. Oh Gott, hilf mir!«

»Pst, Maxime, nicht weinen«, sage ich. Meine Zunge ist geschwollen vor Durst, und reden tut weh. »Wir müssen weiter hoffen. Bestimmt gibt es eine logische Erklärung, warum Vincent noch nicht da ist.«

»Weil er tot ist!«, schreit sie. »Wir haben ihn ermordet, weil wir ihn weggeschickt haben. Das ist alles unsere Schuld.«

Ich sehe jetzt erst, dass sie ohne Tränen weint.

»Ob die Person auf dem Dach ihm etwas getan hat?«

Erstaunt schaue ich auf. Die Frage kommt von Lizzy. Sie sitzt plötzlich aufrecht. In ihrer Wange zittert ein kleiner Muskel, und ihre Augen sind dick und geschwollen.

»Daniel war sofort tot«, sagt sie heiser. »Er hat es nicht gespürt. Eigentlich ist es durchaus eine schöne Art zu sterben, sich das Genick zu brechen.«

»Stopp, Lizzy!«, stößt Sami tonlos aus.

»Ob er ... Ob er nach unten geschaut hat, als er fiel? Ob er gewusst hat, was passieren wird?« Sie redet einfach weiter, wie in Trance. »Ich wüsste so gern, was er als Letztes gedacht hat. An ... an wen er gedacht hat.«

»Könntest du bitte damit aufhören?«, schnauzt Sami. »Du hast sie wohl nicht mehr alle.«

Sami gehört nicht zu den Menschen, die schnell brüllen, wütend oder unfreundlich gegenüber anderen werden. Deswegen ist es umso schockierender, wenn er es doch tut.

Ich sehe, dass Lizzy die Tränen in die Augen springen. »Sorry, aber ich muss die ganze Zeit daran denken«, bringt sie keuchend heraus. »Er fehlt mir so.«

»Mir auch«, sagt Sami nach einer Weile. Er klingt wieder ruhiger. »Vielleicht verhandelt die Polizei gerade mit unserem Entführer. Und deswegen dauert es ein wenig länger.«

Ich weiß, dass er das für Lizzy und Maxime sagt, damit sie auch etwas ruhiger werden.

»Okay«, sagt Lizzy und zieht die Nase hoch. »Hätten wir nur Wasser. Und wenn es nur eine halbe Tasse wäre.«

Sami lächelt freudlos. »Mit einer halben Tasse könnten wir eine einzige Person retten. Das wäre eine schwierige Wahl, meint ihr nicht?«

Schweigend starren wir einander an. Maxime beißt sich auf die Lippe, Lizzy reibt sich die Augenwinkel, und Sami starrt mit niedergeschlagenem, leerem Blick vor sich hin.

Ich kann das nicht länger mit ansehen und verberge mein Gesicht in den Händen. Ich habe so großen Durst. Und mir ist so schrecklich kalt. Am liebsten würde ich mich hinlegen und aufgeben.

Sekundenlang bleibe ich so in der dunklen Welt meiner Hände sitzen. Das Dunkel bewegt sich, dreht sich, und ich sehe Dinge, die ich nicht mehr wusste, als würde mein Gehirn sich schon verabschieden.

Dann fängt mein Schädel an zu klopfen und zu schmerzen, und meine Gedanken kreisen. Es gibt so viele Dinge, die wir in unserem Leben vergessen ...

Schwankend stehe ich auf. »Ich ... ich gehe kurz nach oben, etwas holen.«

»Was denn?«, fragt Maxime mit geschlossenen Augen.

»Einen Pulli, mir ist kalt.«

Mit verkrampften Muskeln gehe ich in den Flur. Sie achten kaum auf mich. Als die Wohnzimmertür hinter mir zufällt, renne ich los, die Treppe hinauf.