Eine Woche ist vergangen, seit Dr. Dee in den Tower gesperrt wurde, und der heutige Tag ist einer von der Art, auf die London sich anscheinend spezialisiert hat: ein feuchter, von Kohlenstaub verdunkelter Himmel und ein Ostwind, der direkt von Moskau herüberzuwehen scheint.
Dee steht an der Südmauer des Well Tower und wünscht sich eine Fellkappe – egal von welchem Tier, ob Katze oder Ratte – und einen gefütterten Mantel, wie ihn der Vogt der Festung trägt, der ihn aus sicherem Abstand von den Zinnen des Lanthorn Tower aus im Auge hat. Dennoch sollte ihnen allen mit Gottes Segen und ein bisschen Glück bald warm genug werden.
»Ich bin bereit, wenn Ihr es seid, Doktor!«, ruft Roger Cooke von seinem Platz am Blasebalg herüber.
Bekleidet mit einer Schmiedeschürze aus gefettetem Leder und einem aus der Waffenkammer geborgten Stahlhelm mit Visier, verharrt er dort in einer Entfernung von etwa fünfzehn Schritt. Trotz seiner Ausstattung hat er sichtlich Angst, und das kann Dee durchaus nachvollziehen, denn was sie hier unternehmen, ist ihr erster großer Versuch, das Geheimnis des Griechischen Feuers zu lüften. Vorangegangen ist eine Serie von Experimenten auf gut Glück, bei denen nacheinander jedes einzelne von Cornelius de Lannoys herrlichen Glasgefäßen und noch viele weitere Gegenstände kaputtgingen, darunter ein Eichentisch (verbrannt) und zwei Glasfenster (in tausend Teile zertrümmert). Der Konstabler des Tower, ein anständiger Mann, hat ihm nichts davon übel genommen, und dafür ist Dee ihm dankbar.
Seine letzten Aufenthalte im Tower hat Dee hinter Schloss und Riegel verbracht. Übermäßig ungemütlich waren sie zwar nicht, aber auch nicht unbedingt vergnüglich.
Dieses Mal verhält es sich ganz anders: Solange er nicht versucht, die Ringmauer zu überwinden und zu fliehen, steht es ihm frei, über das ganze Gelände zu spazieren und auf den erlauchten Spuren der hohen Damen und Herren zu wandeln, denen hier in früheren Jahren sämtliche Annehmlichkeiten eines Königspalasts zuteilwurden, anstatt der sonst in diesen Verliesen üblichen Qualen. Die Kerker dünsten allerdings einen gewissen Geruch aus, und so meidet Dee geflissentlich den Hof vor der Kapelle, auf dem bekanntermaßen die Mutter der Königin und viele andere ihr Ende fanden.
»Danke, Master Cooke. Ja, sehr gerne, wenn Ihr einen Augenblick Zeit habt«, flötet Dee jetzt.
Cooke beginnt zu pumpen. Die Blasebälge, alle von Dee entworfen, erfordern eine enorme Anstrengung; dazu machen sie ungefähr so viel Lärm wie zehn Schwäne, die beim Abflug Wasser aufwirbeln. Doch dafür sind sie extrem wirkungsvoll. Sie pressen eine riesige Luftmenge durch eine Röhre aus fest vernähtem Leder und von dort hinunter in einen Lederbeutel, der sich oberhalb eines Fasses mit verdickten Wänden befindet. Das Fass wiederum ist mit dem Ergebnis ihres neuesten – und hoffentlich – letzten Versuchs, ein Griechisches Feuer zu erzeugen, gefüllt und nahezu versiegelt. Nur von einem Loch obendrauf führt ein weiterer Schlauch etwa zehn Yards an der äußeren Mauer des Towers entlang. Ganz oben ist er mit zwei Eisenbügeln am Wehrgang vernietet. Wenn sich der Lederbeutel aufbläht und sein Inhalt sich in das Fass ergießt, wird dieser nach oben und weiter durch den zweiten Schlauch gepresst, der nach wenigen Yards zwischen zwei Zinnen hinaus ins Freie führt. Die Halterung, die hierfür benötigt wird – Dee hat sie nach dem Vorbild des Stativs für Hakenbüchsen konstruieren lassen –, ragt aus der Mauer heraus. Auf diese Weise können die Mauern auch dann nicht in Brand geraten, wenn die Flüssigkeit nicht in einem kräftigen Strahl herausschießt, sondern lediglich tröpfelt. Am Ende des Schlauchs ist eine Düse angebracht, die, so glaubt Dee, in einer zukünftigen Version im Sinne einer besseren Durchflussregelung noch verengt werden muss. Unten, etwa dreißig Fuß jenseits des Grabens, befindet sich auf halbem Weg zum Fluss ein großer Sandhaufen, auf dem ein kaputter Eimer und ein toter Hund liegen.
Unterdessen pumpt Cooke munter weiter. Das Leder knallt und donnert immer lauter, in der Röhre rauscht und gurgelt es, das Fass erbebt in seiner Halterung, und der zweite Schlauch versteift sich. Jetzt tritt Dee in Erscheinung, mit einem Stab bewaffnet, an dessen Ende – wie bei den Geräten der Laternenanzünder – eine brennende Zündschnur hängt. Als er ihn über die Brustwehr direkt an den Ausgang der Düse hält, schießt aus dieser plötzlich die Flüssigkeit, die er schon jetzt Griechisches Feuer nennt.
Mit einem lauten Wuff wie von einem riesigen Hund fangen die Dämpfe Feuer, und für einen kurzen Moment tanzen Flammen in der Luft. Einen Wimpernschlag danach explodiert die Flüssigkeit mit einem ohrenbetäubenden Brüllen. Ein Wirbel aus Feuer macht einen gewaltigen Satz über den Graben und prallt in unmittelbarer Nähe der Sandfläche und des Hundekadavers auf. Selbst auf dem Wasser brennt es weiter, und es hört auch nicht auf, als es auf die Steinmauer zwischen dem Graben und dem Fluss spritzt. Dabei erinnert der rauchende gelbe Strahl, der aus der Burgmauer hervorschießt, alle Männer im Umkreis unwillkürlich daran, wie sie zum ersten Mal an einem kalten Tag von einer Mauer herunterpinkelten. Es ist in der Tat ein beeindruckender Anblick, und Dee hört den Jubel all derer, die herbeigeströmt sind, um sich das Spektakel anzuschauen. Denn, bei Gott, genau das ist es: ein Spektakel.
Doch dann erlischt die Flamme, dafür fängt jetzt der zweite Schlauch Feuer. Mit schier unglaublicher Geschwindigkeit rasen die Flammen auf das mit der Flüssigkeit gefüllte Fass zu.
Cooke und Dee sehen es gleichzeitig, werfen alles beiseite, was sie in der Hand haben, und rennen los, der eine westwärts auf der Mauerbrüstung, der andere ostwärts. Dee schafft es gerade noch zur Biegung und duckt sich, als die Flammen die Flüssigkeit erreichen. Cooke hat nicht so viel Glück.
In der feuchten Luft ist die Explosion verblüffend laut – wie der Untergang der Welt, so wird es der Konstabler des Towers später erzählen. Mit einem kurzen, aber ohrenbetäubenden Knall, der bestimmt im ganzen Abendland, wenn nicht sogar darüber hinaus, zu hören ist, geht der Inhalt des Fasses in die Luft. In wilder Flucht flattern sämtliche Tauben auf, Holz- und Eisensplitter fliegen in alle Richtungen.
Cooke, der den weiteren Weg hat und dazu durch das Gewicht des Helms und zweier Schmiedeschürzen – eine vorne, eine hinten – beeinträchtigt ist, wird rücklings auf den Boden des Wehrgangs geschleudert, bevor er hinter dem Cradle Tower Deckung suchen kann.
Die Flammen breiten sich nun über die ganze Mauer aus, erreichen jeden Spritzer, der sich bei der Explosion ergossen hat, und finden so immer neue Nahrung. Schwarzer Rauch steigt in den grauen Himmel.
Der Konstabler und seine Wachmänner brüllen Befehle, damit ihre Gehilfen die Flammen mit Sand und Eimern voller Urin, die getrennt vom Kot in einer Ecke stehen, löschen. Das gelingt tatsächlich, allerdings um den Preis, dass es an allen Ecken und Enden brutzelt und zischt. Ein fauliger Gestank lässt die Männer reihenweise würgen.
Cooke liegt benommen am Boden, als die Flammen sich den Wehrgang entlang auf ihn zu wälzen. Und Dee kann nichts für ihn tun, da ihm das Feuer den Weg versperrt und sich überdies ein klaffendes Loch aufgetan hat, über das kein Mensch springen könnte.
Cooke mag ein Einfaltspinsel und Tollpatsch sein, doch er ist immer noch ein Christenmensch und hat seinen Nutzen. Kurz, Dee möchte ihn nicht verlieren, vor allem nicht auf diese Weise: bei einem Unfall, den er selbst herbeigeführt hat. Also jagt er die Treppe hinunter und über den Hof hinüber zum Cradle Tower, um dort die Stufen hinaufzupoltern. Er erreicht den Wehrgang just in dem Moment, da die Flammen gerade zum ersten Mal verstohlen an den Sohlen von Cookes Stiefeln lecken.
Dee packt ihn an den Schulterriemen seiner Lederschürze und zerrt ihn mit sich. Cookes Sohlen glimmen schon, und seine Fußspitzen ziehen eine glühende Spur, die ihn bis zur Türöffnung verfolgt, wo sie schließlich in der Dunkelheit erlischt.
»Cooke? Cooke!«
Dee kann sehen, dass aus Cookes hinterer Schürze knapp unterhalb des rechten Schulterblatts ein schwarzer Gegenstand ragt und Blut das Leder befleckt. Doch immerhin lebt er offensichtlich, denn er bewegt sich und stöhnt.
Dee zieht die Scherbe heraus – sie ist heiß wie das Höllenfeuer – und schleudert sie in die Dunkelheit, wo sie mit einem Klirren aufprallt.
»Tja«, sagt er, an Cooke gewandt. »Gar nicht so übel. Hier und dort noch ein bisschen nachjustieren, aber ansonsten gar nicht so schlecht.«
Der Konstabler zeigt sich weniger erfreut.
»Ihr habt meinen Wehrgang zerstört! Seht nur!«
Mitten im Wehrgang klafft ein rauchendes Loch, und ringsherum sind die Mauern vernarbt und verrußt. Doch der eigentliche Schaden scheint unten angerichtet worden zu sein: Ein Kran, der normalerweise zum Entladen von Booten benutzt wird, brennt fröhlich vor sich hin. Der Sand hingegen ist mitsamt dem toten Hund und dem kaputten Eimer verschont geblieben.
»Aber es hat funktioniert, oder?«, vergewissert sich Dee.
»So wie beabsichtigt?«, fragt der Burgvogt zurück.
Er ist ein eleganter kleiner Mann mit sorgfältig gepflegtem Bart und lederartiger Haut wie ein Schiffskapitän, der es gewohnt ist, mit zusammengekniffenen Augen über endlos weites Wasser zu starren, in dem sich grell das Sonnenlicht spiegelt. Tatsächlich war er genau das.
Nun hat er seinen Umhang abgelegt, sodass ein sehr dunkler blauer Kammgarnanzug zum Vorschein kommt, und steht zusammen mit den anderen im Hauptgemach des Bell Tower vor dem Kaminfeuer.
»Nicht ganz«, gibt Dee gezwungenermaßen zu. »Irgendetwas hat nicht gestimmt. Bei der Zufuhr vielleicht? Oder der Mischung? Mehr Kiefernharz, weniger Alkohol? Mehr Talg vielleicht? Auf jeden Fall werden wir neue Pferde benötigen.«
Der Burgvogt kann Dees Fragen nicht beantworten.
»Und wie geht es Eurem Mann?«, fragt er stattdessen zurück und genehmigt sich einen Schluck aus dem Zinnbecher, ohne Dee etwas anzubieten.
»Cooke? Dem geht es gut.«
»Als ich ihn zuletzt gesehen habe, rauchten seine Stiefel.«
»Berufsrisiko«, murmelt Dee. »Hört zu, ich will nicht länger bleiben, als Ihr mich hier haben wollt, und es tut mir weiß Gott leid, dass ich einen Teil von Eurem Wehrgang in die Luft gejagt und ein paar Sachen hinter Eurer Mauer verbrannt …«
»Für die Ihr noch die Rechnung bekommen werdet.«
»Für die ich noch … Einen Moment, die solltet Ihr Hatton schicken. Er ist der Mann, der mich beauftragt hat, diesen ganzen Unsinn hier zu veranstalten.«
»Er hat Euch aber nicht damit beauftragt, den Kran abzufackeln, oder? Genauso wenig hat er Euch befohlen, diesen Turm – einen königlichen Palast, vergesst das nur nicht – mit Euren widerwärtigen Dünsten zu verpesten oder uns die Ohren mit Euren infernalischen Explosionen zuzudröhnen.«
»Edler Herr«, erwidert Dee, um einen vernünftigen Ton bemüht, »ich versuche lediglich, eine Substanz zu erschaffen, die man nur aus Mythen und Legenden kennt, vom Hörensagen. Ganze Tage habe ich über jedem einzelnen Buch gebrütet, in dem davon auch nur am Rande die Rede ist, aber es gibt nur sehr wenige schriftliche Zeugnisse und mit Sicherheit kein Rezept oder einen Wegweiser. Deshalb muss ich mich gewissermaßen ganz allein durch fünf oder sechs Jahrhunderte der Dunkelheit und der willentlichen Verschleierung vorantasten. Da darf ich doch vielleicht hoffen, dass Ihr versteht, warum ich meinen Weg nicht kartografisch erfassen kann und wieso Irrtümer unvermeidlich sind. Ebenso erhoffe ich Euer Verständnis dafür, dass ich nicht für unabsichtlich entstandenen Schaden oder den einen oder anderen Unglücksfall verantwortlich gemacht werden kann.«
Der Vogt seufzt. Beide wissen, dass sie gemeinsam eine Lösung finden müssen, und in einer Geste der Versöhnung schenkt er Dee schließlich ein Glas gewürzten Wein ein.
»Seit Euren ersten Anstrengungen habt Ihr es weit gebracht, Dr. Dee, das muss Euch der Neid lassen.«
»Danke, hoher Herr, und ich hoffe, noch weiterzukommen. Allerdings glaube ich, dass uns ein bestimmtes Element fehlt.«
»Und welches wäre das? Lord Burghley hat mich beauftragt, Euch mit allem auszustatten, was Ihr benötigt.«
»Burghley? Was hat er damit zu tun? Ich dachte, Hatton wäre derjenige, der mich hierher befohlen hat.«
»Sir Christopher ist die Verantwortung für die Organisation der Feierlichkeiten zum Geburtstag Ihrer Majestät übertragen worden. An seiner Stelle nimmt jetzt Lord Burghley regen Anteil an Euren … Unternehmungen.«
Dee lacht auf. Natürlich: Hatton, der Partyplaner. Nur ist er sich nicht so sicher, ob es ihm gefällt, dass nun Burghley an der Sache mit dem Griechischen Feuer beteiligt sein soll. Alles in allem stellt sich Burghley bei der Verwirklichung praktischer Dinge recht geschickt an. Vielleicht würde es ihm sogar gelingen, jene bestimmte Zutat zu entdecken, die Dee ihm eigentlich vorenthalten möchte.
»Nun«, sagt er gedehnt. »Das könnte schwierig werden. Ich glaube nicht, dass die Substanz, die ich brauche, in diesem Land existiert – und auch nicht im übrigen Abendland.«
Der Burgvogt starrt ihn erschrocken an. »Worum handelt es sich genau, und wo gibt es sie?«
»Es ist eine Art Erz, das nur in flüssiger Form existiert. Und es heißt, in bestimmten Teilen von Persien würden Tropfen davon aus der Erde sickern.«
»Persien?«
Dee nickt.
»Und wie heißt das flüssige Erz?«
»In den Schriften wird es ‚dickes Wasser‹ genannt. Und im Buch der Makkabäer steht, dass es bei Opferungen benutzt wird, weil es sich entzündet, sobald die Sonne darauf scheint. Das stimmt mit dem überein, was in anderen Büchern darüber gesagt wird. Aber was den Namen betrifft, ist das alles, was ich gefunden habe.«
»Also … Wie kann ich dann Lord Burghley danach fragen?«
»Er wird einen Perser auftreiben müssen«, meint Dee.
»Und wo genau können wir im Abendland einen Perser auftreiben?«
Dee lächelt.
Eben, denkt er.