11

Richmond Palace, westlich von London,
nächster Tag, erste Dezemberwoche 1577

Es ist noch dunkel. Sir William Cecil hat noch nicht gefrühstückt, findet sich aber wieder einmal im Audienzsaal des Richmond Palace und erneut mit gebeugtem Knie vor Ihrer Majestät, Königin Elizabeth von England, wieder.

»Er ist was

»Geflohen«, gesteht Cecil.

»Aus Unserem Tower? Wie das?«

»Er hat ein Loch in die Mauer zwischen dem Cradle und dem Well Tower gesprengt.«

Eigentlich müsste die Königin aufgebracht sein, doch sie scheint sich ein Lächeln nicht verkneifen zu können.

»Und wie hat er das angestellt?«, verlangt sie zu erfahren.

»Ein alchemistisches Experiment, Eure Majestät, auf der Suche nach dem Griechischen Feuer. Ich muss noch ermitteln, ob es als gelungen oder gescheitert zu bewerten ist.«

»Aha. Opfer?«

»Ein Schwan.«

»Ein Schwan?«, wiederholt die Königin.

Jetzt lässt sie sich auf der äußersten Kante ihres Throns nieder, als wäre er eine Holzbank in irgendeinem Flur, und schaut gedankenverloren zum Fenster hinaus.

Cecil kniet stumm da, den Blick auf die Stufen vor ihr geheftet.

Gott sei Dank sind wir allein, denkt er, ohne einen Zeugen meiner Blamage.

»Und wo ist er jetzt?«, fragt die Königin.

»Sein Aufenthaltsort ist unbekannt.«

»Findet ihn. Wir brauchen ihn hier an Unserer Seite.«

»Aber … Eure Majestät …«

»Lord Burghley, es ist jetzt einen Monat her, dass Alice Rutherford umgebracht wurde, und immer noch fehlt von ihren Mördern jede Spur. Sie könnten genauso gut Phantome sein. Mir ist bewusst, dass Ihr Eure eigenen Methoden habt und dass Master Walsingham an jedem Faden des Spionagenetzes zieht, das er und Ihr um Unser Reich gesponnen habt. Dennoch treiben bis heute immer noch mehr als ein Dutzend Männer draußen im Lande ihr Unwesen, alle mit Hakenbüchsen bewaffnet und bereit, ja, sogar darauf aus und – soviel Wir wissen – auch in der Lage, Uns zu töten. Ihr hattet einen Monat Zeit, und bis heute hat es keine einzige Verhaftung gegeben, keinen einzigen Verdächtigen. Wir wissen nicht einmal, wie das alles organisiert wurde, wie es dazu kam. Allmählich beschleicht Uns der Eindruck, Ihr seid bereit, Anschläge auf Unser Leben hinzunehmen.«

Aufgeregt wedelt Cecil mit seinen zitternden kleinen Händen.

»Eure Majestät«, beginnt er noch einmal, »nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Wir tun alles, was uns möglich ist. Wir folgen jeder Spur, jedes Dickicht wird durchkämmt. Es gibt nichts, was ein Mensch noch tun könnte. Es ist nur so, dass …«

»Es ist nur so, dass Ihr eine neue Methode braucht, um die Kerle, die diese abscheuliche Tat begangen haben, zu stellen. Deshalb befehlen Wir Euch nun, John Dee aufzusuchen. Ihr müsst ihn zurate ziehen.«

»Aber … Eure Majestät …«

»Wir wissen, was Ihr als Nächstes sagen werdet, Lord Burghley. Ihr sagt es ja immer, sobald sein Name fällt. Und Wir stimmen mit Euch darin überein, dass einige seiner Methoden unorthodox sind. Doch er hat oft genug bewiesen, dass seine Herangehensweise, die Männern wie Euch und Sir Christopher Hatton ein Gräuel ist, tatsächlich zum Erfolg führen kann. War nicht er es, der Euch versichert hat, dass Wir in der Nacht, als auf Uns geschossen wurde, gar nicht gestorben sind? Sir Christopher Hatton hat es Uns so berichtet.«

Hatton? Mein Gott, denkt Cecil. Diese Schlange hat sich hinter meinem Rücken Privataudienzen bei der Königin erschlichen! Vielleicht hat er in den letzten Wochen sogar an ihrem Bett gesessen. Warum hat mir niemand etwas davon gesagt? Womöglich hat er sie mit Pflanzen aus seinem eigenen Garten gesund gepflegt? Mit speziellen Tinkturen? Suppen? Aufgüssen? Damit muss Schluss sein. Ich muss unbedingt mit Lettice Knollys darüber sprechen.

»Er schien in der Tat etwas zu ahnen«, räumt Cecil ein. »Er hat geglaubt, der ungeschliffene Tisch sei eine Art provisorischer Wahrsagekristall.«

»Sehr Ihr? Habt Ihr etwa eine solche Gabe, Lordschatzmeister?«

Cecil gesteht, dass dies nicht der Fall ist.

»Habt Ihr überhaupt einen Wahrsagekristall?«

»Ich habe einen geschliffenen Tisch. Eigentlich sogar zwei oder drei, Eure Majestät.«

Er besitzt sogar noch mehr in seinen vielen Häusern.

»Aber in Eurem seht Ihr nur die Spiegelung Eures Gesichts, Lordschatzmeister, in der Regel beim Essen. Dee hingegen sieht die Wahrheit. Das ist der Grund, warum Wir ihn ›Unsere Augen‹ nennen.«

Cecil neigt den Kopf.

»Macht Euch also auf die Suche, und wenn Ihr ihn gefunden habt, ermittelt Ihr mit seiner Hilfe, wer auf Uns geschossen hat. Stellt die Kerle, die Unsere Ehrendame und den Kutscher ermordet haben.«

Cecil verbeugt sich so tief, wie es seine reichlich gepolsterten alten Knochen erlauben, und verlässt rückwärts den Audienzsaal. Draußen wird er von Walsingham in Empfang genommen, der schon auf ihn gewartet hat.

»Du siehst ja völlig durchfroren aus, Francis.«

»Eine weite Reise«, erklärt Walsingham seufzend.

Dann erzählt er dem anderen von Anthony Jenkinson und seinem türkischen Kaufmann.

»Endlich ein Fortschritt!«, ruft Cecil erfreut. »Und solltest du mir jetzt noch sagen, dass du die Kerle, die auf Ihre Majestät geschossen haben, nicht nur gefangen hast, sondern auch dafür gesorgt hast, dass sie gestreckt, gehängt, durch die Mangel gedreht und ausgeweidet werden – dafür, dass ihre Leichen gevierteilt, gepökelt und in Teer getaucht worden sind und jetzt darauf warten, an verschiedene Stadttore genagelt zu werden, damit die Krähen sich daran laben können –, dann würde ich dich küssen.«

»Nicht ganz«, gibt Walsingham zu und weicht einen Schritt zurück. »Von ihnen fehlt immer noch jede Spur. Sie scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben.«

Cecil stöhnt. »Nun gut, Francis. Ihre Majestät wünscht, dass Dr. Dee kommt und uns weiterhilft. Aber der hat sich erst kürzlich einen Fluchtweg aus dem Tower frei gesprengt, und die einzige Spur, die ich habe, ist die Anzeige eines aufgebrachten Goldschmieds aus Cheapside, der mit Gold betrogen wurde, das sich über Nacht grün verfärbt hat. Weißt du zufällig, wo er steckt?«

Walsingham schüttelt den Kopf. »So merkwürdig es ist, ich befinde mich gerade ebenfalls in einer Lage, in der ich ihn brauche.«

»Großer Gott im Himmel, warum?«

Walsingham tritt von einem Bein aufs andere, was er nur tut, wenn er nicht mehr weiterweiß.

»Aus einem bestimmten Grund, den ich mit dir erörtern muss. Hättest du einen Augenblick Zeit?«

Cecil versteht, dass die Angelegenheit diskret behandelt werden muss, und neigt den Kopf.

»Im Garten?«, schlägt er vor.

Es ist eisig kalt, aber ein Stück vom Fluss entfernt lässt es sich im fahlen Sonnenschein aushalten. An den Eiben hängen glitzernde Tropfen, und die Steine darunter sind dunkel. Während sie im windgeschützten Innenhof auf und ab schreiten, über ihnen die Privatgemächer der Königin, berichtet Walsingham Cecil von Beales Plan.

Seinen Worten folgt Stille. Im Weitergehen denkt Cecil scharf nach. Jetzt ist nur noch das Klappern ihrer Sohlen auf den Steinfliesen zu hören, während aus ihren Nasen und Mündern Atemwolken steigen.

»Die Vorteile liegen auf der Hand«, sagt Cecil schließlich. »Aber die Sache ist mit Gefahren befrachtet.«

»Wohl eher überfrachtet.«

»Ja. Aber …«

Wieder nachdenkliches Schweigen.

»Wir könnten das Risiko aufteilen«, regt Cecil an.

Walsinghams Blick bohrt sich in Cecils Augen.

»Sprich weiter«, fordert er ihn auf.

»Wie gern magst du Robert Beale?«, fragt der andere.

»Sehr«, antwortet Walsingham.

»Schade.«

Vier Schritte weiter. Cecil wartet darauf, dass Walsingham ein Lichtlein aufgeht.

»Oh«, entfährt es Walsingham. »Aber es war sein Vorschlag. Seine Idee.«

Cecil nickt.

»Und wenn er sie weiterverfolgen will, dann …«

Cecil zuckt mit den Schultern.

»Du hast ja wohl nichts schriftlich festgehalten, oder?«, fragt er. »Nichts, was deinen Anteil daran beweist?«

»Meinen Anteil woran

Cecil gestattet sich den Anflug eines Lächelns.

»Setz einen Mann auf ihn an, damit er ihn beobachtet. Einen, dem du vertraust. Der darauf achtet, dass die Sache nicht den Rahmen sprengt.«

Walsingham nickt.

»Zu guter Letzt könntest du ihm eine Warnung zukommen lassen«, setzt Cecil nach. »Ihn wissen lassen, dass der Plan auf keinen Fall ans Licht kommen oder deine Person auch nur im Entferntesten damit in Zusammenhang gebracht werden darf – weil dir sonst wirklich keine andere Wahl bleibt, als ihn hinauszuwerfen, mit einer Frist von höchstens einem Tag. Mach ihm klar, dass du ihn dann nicht mehr schonen könntest und ihn die volle Wucht des Zorns Ihrer Majestät treffen würde, ausgeführt durch deine Hand.«

Walsingham nickt. Immerhin bringt er den Anstand auf, betreten dreinzuschauen.

»Tatsächlich gibt es sogar eine Möglichkeit, die ganze Sache mit etwas Nützlichem zu verbinden«, schickt Cecil hinterher. »Zumindest wäre es ein Balsam zur Linderung der Schmerzen, falls das Unternehmen scheitert und wir Robert Beale verlieren.«

»Ja?«

»Hast du nicht Dee als Lehrer vorgeschlagen?«

Walsingham hebt den Kopf, und ein Lächeln erhellt sein Gesicht.

»Danke, Sir William. Ein kluger Rat, wie immer. Ich gehe ihn sofort suchen. Hoffentlich ist er nicht mit irgendeinem geheimnisvollen Experiment in Mortlake beschäftigt.«