18

Whitehall Palace,
zweite Januarwoche 1578

Weihnachten, Neujahr und auch der Dreikönigstag sind vorüber, als Master Francis Walsingham an einem sonnigen Tag zum ersten Mal wieder in der Öffentlichkeit unterwegs ist. Begleitet von Robert Beale schreitet er zum Zollhaus am Wool Quay hinunter, um dort in ein Boot zu steigen, das ihn zum Palast bringen soll. Das ist eine Fahrt, die er schon zahllose Male unternommen hat, aber da die letzte bereits eine ganze Weile her ist, bemerkt er die Veränderungen nicht nur an Robert Beale, der mit den dunklen Ringen unter den Augen reichlich erschöpft wirkt, sondern auch diejenigen längs des Weges.

»Ich sehe, dass sie endlich den Zahn gezogen haben«, stellt er fest und deutet auf die Lücke in der Häuserreihe auf der London Bridge, kurz bevor das Boot unter einem Bogen hindurchgleitet.

Die Gezeiten wechseln gerade, als sie den Palast erreichen, wo sie von einem Diener in Empfang genommen werden, der sie zu Mistress Frommmond führen soll. Anders als gedacht, treffen sie Jane allerdings nicht in den Gemächern der Königin an, sondern in einem der Gärten, wo sie im Schein der fahlen Wintersonne auf einem Hocker sitzt. Sie ist dick in Pelze und Decken gehüllt, alles Leihgaben von Ihrer Majestät und Lettice Knollys, die, wie Jane ihnen erzählt, begonnen hat, sie wie eine ihrer eigenen Töchter zu behandeln.

»Vergebt mir, hohe Herren«, entschuldigt sie sich. »Ich musste dringend an die frische Luft.«

Wenn sie ausatmet, schweben dünne Wolken aus ihrem Mund, zart wie Schleier aus Gaze. Und obwohl sie sehr blass ist und fast einem ätherischen Wesen gleicht, sind ihre Augen alles andere als trüb, sondern rein wie flüssiger Honig bei Sonnenlicht. Bei ihrem Anblick stellt Walsingham sich vor, wie es wäre, neben ihr aufzuwachen. Vielleicht liegt das an ihren Lippen. Sie sind immer etwas rissig, und das weckt in ihm den Wunsch, sie zu küssen.

Die Narbe an ihrer Wange, denkt er, heilt wirklich ganz ordentlich, auch wenn sie nie völlig verschwinden wird.

Grüße werden ausgetauscht und Gott für ihre Rettung gedankt. Sie bedankt sich auch bei ihnen, nicht ohne sich nach Dr. Dee zu erkundigen.

Walsingham empfindet eine gewisse Genugtuung, als er ihr versichert, dass Dee wiederhergestellt ist und sich gerade im Auftrag der Königin auf der Isle of Sheppey befindet.

»Oh«, murmelt sie enttäuscht. »Ich hätte ihm gerne persönlich gedankt.«

Walsingham lässt zwei weitere Hocker und einen Tisch heranschaffen, und als das Gewünschte gebracht wird, setzen sie sich alle.

Beale kramt aus seiner Tasche Gegenstände hervor, von denen er behauptet, Mistress Frommond habe ihn gebeten, sie aus dem Boot zu bergen. All diesen Objekten haftet der unverkennbare Gestank des Kielraums an, und Walsingham ist erleichtert, dass sie sich im Freien befinden. Die Gegenstände an sich interessieren ihn nicht, vielmehr ist er gespannt darauf zu erfahren, warum diese Gegenstände Mistress Frommond so am Herzen liegen.

»Darf ich fragen, warum Ihr das alles so unbedingt haben wolltet?«, erkundigt sich nun auch Beale. »Das mit dem Amulett kann ich gut verstehen, wenn der Mann Euch etwas bedeutet. Aber ein schmutziger Handschuh?«

»Der Handschuh hat Alice Rutherford gehört«, erklärt sie.

»Ein Erinnerungsstück also?« Walsingham lehnt sich zurück. »Nun, warum nicht …?«

»Ich habe ihn im Wald entdeckt«, fährt Jane Frommond fort. »Zwischen der Straße, auf der Alice’ Leiche gefunden wurde, und dem Boot.«

Walsingham beugt sich vor und betrachtet den Handschuh von Neuem.

»Wie ist er dorthin gelangt?«, fragt er.

Beale dreht und wendet ihn neugierig hin und her.

»Das weiß ich nicht«, erwidert Jane. »Aber er wurde auf der Toilette für den Zweck der Säuberung benutzt.«

Also fürs Arschabwischen. Beale legt den Handschuh hastig auf den Tisch.

Lange nimmt Walsingham das Kleidungsstück der Toten in Augenschein. Schließlich ergreift er es und breitet es auf dem Tisch aus. Einer der Finger ist umgestülpt. Der Zeigefinger.

»Habt Ihr den Handschuh in genau diesem Zustand gefunden?«, will er wissen.

Die Ehrendame nickt.

»Darf ich Euch beide bitten, den linken Handschuh abzustreifen?«

Beale und Jane Frommond kommen der Aufforderung nach, und Walsingham beobachtet sie dabei. Bei Beale sitzen die Handschuhe lockerer, und das Material ist nicht so kostbar wie bei denen von Jane, die von ähnlich hoher Qualität sind wie Alice Rutherfords Handschuhe, mit ihrem Gelbton aber eine auffallend andere Farbe aufweisen. Bei der jungen Frau dauert es etwas länger, weil sie den Handschuh Finger für Finger herunterzupfen muss.

Als beide fertig sind, liegen drei linke Handschuhe ausgebreitet vor Walsingham auf dem Tisch. Warum nur ist bei Alice Rutherfords Zeigefinger das Leder vollständig nach innen gestülpt? Das kann sie doch nur mit Absicht getan haben.

»Ein Code?«, fragt er.

Einen Moment lang herrscht nachdenkliches Schweigen, dann gibt Jane Frommond einen Laut von sich – halb seufzt sie, halb schnappt sie nach Luft.

»Oh, aber ja«, sagt sie. »Schaut: Fünf Kutschen, fünf Finger.«

Darauf erwidert Walsingham nichts, sondern blickt sie nur eindringlich an.

Jane greift nach Alice’ rotem Handschuh und hält ihn an der Spitze des Daumens hoch.

»Die Kutsche der Königin war die zweite«, ergänzt sie.

Walsingham schweigt. Er überlegt fieberhaft: Ist das denkbar? Alice erfährt, in welcher Kutsche die Königin reisen wird, stülpt den entsprechenden Finger ihres Handschuhs nach innen und lässt ihn aus dem Fenster fallen. Am Straßenrand wartet ein mit einem guten Pferd ausgestatteter Mann, hebt ihn auf, entschlüsselt den zuvor vereinbarten Code und reitet sofort los, um seinen im Boot wartenden Spießgesellen Bescheid zu sagen. Seine Komplizen brechen sogleich auf, eilen durch den Wald und postieren sich am Straßenrand, wobei sie genau wissen, auf welche Kutsche sie schießen müssen. In der Zwischenzeit überkommt einen von ihnen – denjenigen mit dem Handschuh – ein dringendes Bedürfnis. Er geht, gegen einen Baum gelehnt, in die Hocke und erleichtert sich. Der Handschuh kommt ihm dabei gut zupass. Danach lässt er ihn einfach im Wald liegen – bis ihn Dee und Jane entdecken.

Beale schüttelt den Kopf. Es ist dieser Aspekt, der ihn am meisten zu stören scheint. Und in der Tat hat es etwas Entwürdigendes. Es ist, als hätten sie Alice bewusst und in voller Absicht beleidigt und das Risiko, das sie einging, wenn sie die Bande tatsächlich über das Nahen der Königin in Kenntnis setzte, nicht gewürdigt.

»Aber dann wiederum … warum hat sie die Bande überhaupt wissen lassen, dass die Königin unterwegs war?«, überlegt er laut.

Mit einem Mal zittert an Janes Augenlid eine Träne. Walsingham weiß, wann man besser spricht und wann besser schweigt, und in diesem Fall bleibt er stumm.

Nach einer Weile deutet Jane auf das Amulett.

»Das ist der Vater von Alice’ Kind«, verrät sie.

Beales Augen weiten sich. Walsingham hat versäumt ihm mitzuteilen, dass Alice schwanger war.

»Und wie heißt er?«

»Sein Name ist Jan Saelminck«, klärt ihn Jane Frommond auf. »Ein Holländer, der einem Alchemisten als Assistent diente. An dessen Namen kann ich mich nicht erinnern, aber er war einmal im Tower eingekerkert.«

»De Lannoy?«, spekuliert Walsingham. »Cornelius de Lannoy?«

Jane nickt. Jetzt sind ihre Augen wieder trocken. Sie öffnet den Mund, als wollte sie etwas fragen, verscheucht den Gedanken dann aber wohl.

»Na ja«, sagt sie. »Das ist der Grund, warum ich ursprünglich zu Euch wollte, Master Walsingham. Ich wollte, dass Ihr Bescheid wisst.«

Walsingham atmet tief durch. »Woher wusstet Ihr, dass er der Vater ist?«

»Nun, eigentlich habe ich keine Ahnung. Niemand kann es wissen. Aber dann habe ich das Amulett entdeckt; es war in Alice’ Kleider eingenäht. Hier, im Palast, nachdem sie sie umgebracht hatten.«

Nachdem er das weiß, scheint Walsingham die Vermutung, dass Jan Saelminck der verschollene Vater sein könnte, durchaus logisch zu sein, aber …

Nun berichtet Jane Frommond von ihrer Begegnung mit Marcus Teerlinc, Levina Teerlincs Sohn.

»Die Porträt-Malerin?«

»Ja. Saelminck hat bei ihr zwei Amulette in Auftrag gegeben: ein Bildnis von sich selbst und eines von Alice. Bloß als es ans Zahlen ging, wollte er Teerlinc nur für eines entlohnen. Er wollte Alice das Porträt von sich schenken, das von ihr interessierte ihn nicht.«

»Also hat er sie nicht so geliebt wie sie ihn?«

»Ich spekuliere hier nur«, gibt sie zu. »Aber die Quittung für das Amulett ist auf Holländisch ausgestellt worden, und Marcus hat gesagt, dass seine Mutter und Saelminck immer Niederländisch miteinander sprachen. Und dann ist Mistress Teerlinc in jener Nacht gestorben, bevor ein Priester geholt werden konnte.«

»Glaubt Ihr, dass er sie umgebracht hat? Mit Gift vielleicht?«

»Ach, ich weiß nicht. Hier ist doch alles ungewiss. Selbst die Tatsache, dass John … Dr. Dee das Amulett erkannt hat. Ist das wirklich Jan Saelminck? Oder nur jemand, der ihm ähnlich sieht?«

Beale hebt die Augenbrauen und wechselt einen kurzen Blick mit Walsingham.

Oh Gott, denkt Walsingham, Beales Intrige mit Ness Overbury.

Er hat sich immer noch nicht dazu aufraffen können, Arthur Gregorys Berichte zu lesen. Er ist der Mann, der Beale überwachen sollte – für den Fall, dass sein Vorhaben den Rahmen sprengt, und überhaupt, weil man schließlich nicht vorsichtig genug sein kann.

»Aber das … legt ja den Schluss nahe, dass er sie schon vor Monaten verführt hat.«

»Vor mindestens einem Jahr«, meint Mistress Frommond. »Seht Euch das Datum an.«

1576.

Walsingham nimmt das Amulett genauer in Augenschein. Nun, da er es näher betrachtet, erkennt er, dass der Junge ein Abzeichen auf der Kappe trägt. Auf den ersten Blick wirkt es wie ein gewöhnliches Pilgeremblem, aber dann fällt ihm ein Detail auf, das ihm den Atem raubt.

»Robert«, sagt er, »schaut Euch das bitte genau an.«

Er reicht das Amulett weiter an Beale, der sich mit zusammengekniffenen Augen darüber beugt. Im nächsten Moment richtet er sich wieder auf und starrt Walsingham entsetzt an.

»Mein Gott«, ächzt er. »Die Schwarze Madonna.«

Damit werden Walsinghams schlimmste Befürchtungen bestätigt. Es überläuft ihn eiskalt.

»Die Schwarze Madonna?«, fragt Jane Frommond.

»Die Gilde der Schwarzen Madonna«, berichtigt Beale. »Seht Ihr das Abzeichen? An der Kappe? Auf den ersten Blick sieht es aus wie irgendein beliebiges Abzeichen, das jeder Pilger kaufen kann, um zu zeigen, dass er in Canterbury war oder in der Kathedrale von Santiago de Compostela, aber in Wirklichkeit ist es anders. Es wird nur an Mitglieder einer bestimmten Gilde ausgegeben, und zwar an den Kreis der Verehrer der Schwarzen Madonna in Halle, einer Stadt in Flandern.«

Jane Frommond mustert ihn stirnrunzelnd.

»Das sind die … pff …« Beale schüttelt den Kopf. Er findet keine Worte, um das Ausmaß des Irrsinns zu erklären, dem sich diese Leute verschrieben haben.

Walsingham ergeht es genauso.

»Das sind Eiferer«, ächzt er. »Gefährliche Fanatiker. Schlimmer als die Inquisition, weil sie außerhalb der Gesetze auftreten. Nicht einmal Bloody Mary würde sie in England dulden.«

»Und dann erst der Eid, den sie leisten«, setzt Beale nach, »die Feinde ihres Idols mit Feuer auszumerzen oder selbst in den Flammen zu sterben. Wie die Märtyrer früherer Zeiten.«

Jane erbleicht.

»Sollte Ihre Majestät jemals in ihre Fänge geraten, würden sie keine Gnade kennen. Das ist ein Todesurteil.«

»Wie viele sind es?«, erkundigt sich Jane zögernd.

»Das weiß niemand. Oh Gott, natürlich, das ist die Erklärung: Die Männer in dem Boot – das waren Mitglieder der Gilde.«

Walsingham nickt.

»Nun gut, aber es hat doch bisher keine weiteren Anschläge auf Ihre Majestät gegeben, oder?«, fragt Jane.

Davon geht auch Walsingham aus.

»Dann ist er – Saelminck – vielleicht heimgekehrt, zurück nach Halle? Oder ist er möglicherweise schon tot?«

Beale ist nicht so zuversichtlich.

»Nein«, sagt er und deutet auf das Amulett. »Oder vielleicht doch, aber haltet Euch nur das Datum vor Augen. Das war von langer Hand geplant. Sie haben über ein Jahr gewartet, bis sie zugeschlagen haben. Da wurde nichts dem Zufall überlassen. Sie wollten auf Nummer sicher gehen.«

Beale hat recht, denkt Walsingham. Saelminck wird irgendwo in Deckung gegangen sein. Bestimmt plant er aus seinem Versteck heraus schon wieder etwas Neues. Ein Mann wie er wird nie aufgeben.

Himmelherrgott, was soll er jetzt bloß Ihrer Majestät sagen?

»Aber warum hat er so lange gewartet?«, fragt Mistress Frommond.

Im ersten Augenblick will Walsingham sie daran erinnern, dass auch er selbst nicht gerade unfähig ist. Versuche, die Königin zu erschießen, sind allein schon deshalb kein Kinderspiel, weil er, Walsingham, dafür sorgt, dass sie keines sind. Aber vielleicht gibt es ja eine einfachere Erklärung.

»Womöglich war Alice nicht dazu bereit, das zu tun, was er von ihr verlangte«, spekuliert er. »Früher, meine ich. Oder vielleicht hat Saelminck sie erst darum gebeten, als er wusste, dass sie innerlich zerstört war – nachdem er sie zerstört hatte.«

»Aber selbst in diesem Fall … vielleicht hat sie die Königin erst verraten, nachdem Ihre Majestät ihr mit dem Tower gedroht hatte«, überlegt Jane. »Erst danach gab Alice ihm den Handschuh.«

Wieder mustern sie das Beweisstück, das verdrehte Überbleibsel einer toten Liebe, eines toten Mädchens und ihres toten Kindes.

Herrgott!

»Könnte Saelminck vielleicht der Mann gewesen sein, den Dee in dem Boot auf dem Fluss Lea erschlagen hat?«, fragt Beale. »Dee soll ihn ja entsetzlich zugerichtet haben.«

Walsingham hört eine Ahnung von Hoffnung in Beales Worten mitschwingen, doch Jane schüttelt den Kopf.

»Dann hätte er doch ganz bestimmt etwas gesagt. Wenn John ihn von früher gekannt hätte, dann hätte er doch … ich meine, in dem Moment, als der Mann aus der Kajüte kam, hätte er doch bestimmt …«

Sie fasst sich ans Genick. Die blauen Flecken sind fast verschwunden, doch die Narbe ist geblieben. Sie erschauert, was allerdings auch an der Kälte liegen könnte, da die Sonne hinter dem Stall versunken ist und sie jetzt im Schatten sitzen.

Plötzlich sieht Mistress Frommond so erschöpft aus, wie Walsingham sich fühlt. Gleichwohl ist ihm nicht entgangen, mit welcher Leichtigkeit sie Dees Vornamen verwendet. Nun, schließlich waren sie tagelang zusammen eingesperrt. Das muss also nichts bedeuten. Dennoch …

»Es ist wirklich ein Glück für uns alle, dass Ihr das Amulett entdeckt habt«, lobt Walsingham sie.

Jane sieht das genauso.

»Vor allem, weil ich nicht die Einzige war, die nach Alice’ Tod danach gesucht hat«, erwidert sie.

Sie berichtet ihnen von den Fingerspuren auf dem verstaubten Schrankkoffer und ihrer Entdeckung, dass Alice’ Taschen nach ihrem Tod durchwühlt wurden.

Jetzt ist Walsingham aufs Äußerste beunruhigt. Er hat das Gefühl, als würde ein gefangener Vogel in seiner Brust umherflattern.

»Und nichts hat gefehlt? Nichts war gestohlen worden?«

»Mir ist nichts aufgefallen. Es waren ein paar Münzen darin, auch Ringe; das war alles noch da. Es könnte aber sein, dass jemand etwas ganz Bestimmtes gesucht hat. Etwas, was versteckt war, vielleicht so etwas wie dieses Porträt.«

»Warum habt Ihr uns das nicht früher gesagt?«, fragt Beale.

Darüber muss Jane nachdenken.

»Master Walsingham, Ihr selbst habt mir gesagt – und zwar auf der Stufe dort drüben –, dass Ihr unter anderen Umständen vielleicht die Muße hättet, den Namen des Vaters von Alice’ Kind zu ermitteln, aber jetzt einfach keine Zeit dafür habt. Und außerdem: Wie hätte ich wissen können, dass er … dass Jan Saelminck möglicherweise etwas mit Alice’ Tod zu tun hat? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, bis ich ihren Handschuh im Wald entdeckt und erkannt habe, wozu er benutzt worden war. Aber da … na ja, da war es schon zu spät.«

Walsingham spürt, wie ihm die Situation entgleitet. Er stellt sich vor, wie Saelminck sich Zugang zum Palast verschafft und die Habseligkeiten einer Hofdame der Königin durchforstet, als wäre das eine Selbstverständlichkeit.

»Seid Ihr Euch da ganz sicher? Ihr sagt, dass Saelminck nach Alice’ Tod im Palast war? Genau hier? Und er konnte in den Privatgemächern Ihrer Majestät in aller Seelenruhe nach etwas Bestimmtem suchen?«

Mistress Frommond nickt.

»Oder jemand anders in seinem Namen«, ergänzt sie.

Herrgott, das ist ja noch schlimmer! Saelminck selbst oder irgendein Dreckskerl von der Gilde der Schwarzen Madonna! Und dieses Gesindel schnüffelt im Palast herum!

Walsingham spürt, wie sich schon wieder Schweißtropfen auf seiner Stirn bilden. Er steht abrupt auf.

»Verdoppelt die Wachen, Robert«, befiehlt er Beale. »Riegelt den Palast ab. Ihr müsst herausfinden, wer hier alles kommt und geht. Um der Liebe Christi willen, findet heraus, wer gekommen und wer gegangen ist

Beale fertigt eilig eine Notiz an.

»Sofort, Robert!«, schickt Walsingham hinterher.

Beale gibt ein vielsagendes Hüsteln von sich und erinnert ihn so an das Täuschungsmanöver mit der falschen Königin.

»Dafür ist jetzt keine Zeit, Robert«, fertigt Walsingham seinen Untergebenen ab.

Doch Beale lässt sich nicht so leicht abspeisen. »Mit Verlaub, Sir, gerade jetzt ist der richtige Zeitpunkt.«

Für einen Moment bringt Beales Hartnäckigkeit Walsingham aus dem Konzept. Ein solches Verhalten grenzt ja an Gehorsamsverweigerung! Aber, bei Gott, vielleicht hat Beale am Ende doch recht. Vielleicht ist Walsingham in dieser Angelegenheit mit Blindheit geschlagen und sollte einfach nachgeben.

»Na schön.« Er seufzt. »Ich werde mich persönlich darum kümmern.«

»Meine Herren, ich überlasse Euch gerne Euren weiteren Erörterungen.« Damit beginnt Mistress Frommond, ihre Sachen einzusammeln, nur den Handschuh und das Amulett fasst sie nicht an. »Ich hoffe, ich muss das nie wiedersehen.«

So verstaut Walsingham die zwei Gegenstände in seiner eigenen Tasche, entschuldigt sich und überlässt es Beale, Jane Frommond für seinen Plan zu erwärmen. Er selbst will nichts damit zu tun haben, und überdies hat er genug anderes zu erledigen.

Eilig verlässt er den Raum und hastet weiter zu Sir William Cecils Kontor. Dort trifft er den Minister in einem äußerst betrübten Zustand an. Und Cecil blickt sogar noch kummervoller drein, als Walsingham ihm von der Gilde der Schwarzen Madonna berichtet.

»Diese Dreckskerle?« Cecil presst sich beide Hände an die Wangen. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«

Dann wendet er sich ab und starrt ins Kaminfeuer.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragt er nach einer Weile.

»Was können wir tun, das wir nicht schon längst tun?«

»Aber sie könnten immer noch im Lande sein. Ein Feind im Inneren! Als ob wir nicht auch so schon genug von der Sorte hätten.«

»Und diese Kerle sind bewaffnet und gefährlich.«

»Ja, dieser vermaledeite Eid. Wie lautet er gleich wieder? Mit Feuer …?«

»… die Feinde Ihrer Heiligkeit auszumerzen, der Mutter Gottes … oder so ähnlich. Beale kennt ihn auswendig.«

»Das klingt ja so, als ob jeder außerhalb der Gilde ein Feind der Mutter Christi wäre!«

Walsingham zuckt mit den Schultern. Aber ihm ist klar: Cecil hat messerscharf erkannt, wie dumm die Rhetorik zwischen Katholiken und Protestanten in diesem Krieg ist.

Schweigen macht sich breit.

Schließlich stößt Cecil einen tiefen Seufzer aus und eröffnet Walsingham, dass Parma marschiert. Damit meint er, dass die Armee des Herzogs von Parma eine Offensive begonnen hat und auf dem Vormarsch ist.

»Zwanzigtausend Soldaten, alle zur Schlacht gegen die Rebellen bereit – und wir wissen ja, wie das immer endet.« Er reibt sich die Augen. »Vielleicht hatte Hatton ja doch recht. Stell dir nur vor, wir hätten Truppen dorthin entsandt! Sie wären bloß ein Kontingent von vielen gewesen, und das in einem Kuddelmuddel aus so gut wie allen Ländern und aller Glaubensrichtungen.«

Es scheint dunkler zu werden.

»Oh, soll sie doch der Teufel holen!«, stöhnt Cecil. »Wenn das so weitergeht, haben wir spätestens an Ostern den Herzog von Parma und seine Söldner bei uns in Westminster. Darum ist diese Sache hier umso wichtiger.«

Er klopft mit den Knöcheln auf seine Abschrift des von Jenkinson übersetzten Gedichts und beginnt, daraus vorzulesen:

»Von der Liebe heißt es:

Das Herz ward eines Tages gefangen von einem Prinzen.

Doch lange schon ist meines

im Bann von Englands Juwel mit dem zweifachen Zepter,

und auf jeder Seite mag der Weise

die heil’ge, die himmlische Ziffer seh’n …«

Er blickt auf.

»Es ist die letzte Zeile, über die ich einen Zugang finde. Da spricht der Dichter von einem Juwel – vergessen wir für einen Moment das mit dem zweifachen Zepter –, in dem der Weise die heilige, die himmlische Ziffer erkennen kann. Hier ist vermutlich schlicht von einem Sachverständigen die Rede.«

»Ja«, stimmt ihm Walsingham zu, während er für sich denkt: So weit nichts Neues.

»Aber was ist nun die heilige, die himmlische Ziffer?«

»Das wollte ich von dir hören.«

Cecil zieht eine säuerliche Miene. Dann gräbt er in seinen Akten, bis er das Dokument findet, das er Walsingham zeigen möchte. Es ist eine Auflistung der Geschenke, die die Königin am letzten Neujahrstag machte und erhielt. Erfasst sind darauf der Gegenstand, der Name des Gebers und der geschätzte Wert. Wie Walsingham daraus ersehen kann, bekam Cecil eine Tasse mit Deckel, die etwa drei Pfund kostete. Seinerseits schenkte er der Königin zwanzig Pfund in Gold. Die zwei Gläser mit grünem Ingwer, die Walsingham ihr schenkte, werden hingegen nicht erwähnt. Von Hatton bekam sie ein goldenes Kreuz, gespickt mit Diamanten und Perlen, sowie ein Medaillon mit einem Bild von einem Mann mit Hund auf der Vorderseite und einem Gedicht auf der Rückseite. Es ist dieses Gedicht, das Walsingham auf die Idee bringt, dass sie Hatton herbeizitieren sollten, damit er sich Jenkinsons Verse näher anschaut.

»Nur weil er die Gaillarde besonders gut tanzen kann, glaubst du, dass er auch Gedichte besser versteht?«

Walsingham weiß nicht, warum, aber doch, ja, das glaubt er.

Zerstreut kaut Cecil am schon angenagten Kiel seiner Feder herum, ehe er eine kurze Notiz anfertigt.

»Gut, dann schicke ich ihm eben eine Abschrift. Aber das ist nicht der Grund, warum ich dir die Liste zeigen wollte. Mir geht es vielmehr um das hier.«

Er zeigt auf einen Vermerk:

»Von Doctor John Dee: Wahrsagekristall, 7 Pfund, 6 Schilling.«

»Wusstest du, dass Dee Ihrer Majestät zu Neujahr einen Wahrsagekristall geschenkt hat?«, fragt Cecil.

»Ich wusste gar nicht, dass er einen besessen hat.«

»Jetzt nicht mehr, wenn er denn wirklich einen hatte. Master Bowes, ein Goldschmied in der Lombard Street, beantragt jedenfalls die Rückgabe seines Eigentums mit der Begründung, dass Dee es für acht Pfundmünzen in Gold erworben hat, die sich zwei Tage später als Katzengold entpuppt haben. Wie auch immer, Bowes beharrt deshalb darauf, dass der Wahrsagekristall nie in Dees Eigentum übergegangen ist und er also auch nie berechtigt war, ihn zu verschenken, nicht einmal an die Königin. Ich verstehe sein Argument, kann ihm aber nur viel Glück bei seinem Anliegen wünschen.«

»Das ist doch wohl nicht zufällig das in dem Gedicht erwähnte Juwel?«

Cecil seufzt. »Ich habe gehofft, du würdest sagen, dass es das tatsächlich ist. Sein Wert wurde mit sieben Pfund und sechs Schilling bemessen.«

»Na so etwas!« Walsingham lacht.

»Wissen wir von irgendwelchen anderen Wahrsagekristallen?«

»Wir könnten ja den von Dee benutzen, um es herauszufinden.«

»Mir ist nicht nach Scherzen zumute, Francis.«

Eine Weile noch rätseln sie über die Bedeutung des Gedichts, ohne zu einem eindeutigen Ergebnis zu gelangen. Wie auch bei Saelmincks Identität bleibt es, wie Mistress Frommond sagen würde, bei Spekulationen.

»Glaubst du, dass das etwas ist, was es nur im Osmanischen Reich gibt?«, fragt Cecil.

»Auf diese Weise einen Preis zu bestimmen? Oder diese Verse zu schreiben?«

»Beides.«

»Das kann ich nicht sagen. Ich bin kein Ottomane.«

Jetzt zeigt Cecil sich enttäuscht. »Ich denke, dass wir Jenkinson ausquetschen müssen. Er muss uns alles darüber sagen. Und uns verraten, wer dieser Mann ist.«

»Im Tower?«

»Im Tower.«

Nach der Besprechung wandert Walsingham zum Fluss hinunter und grübelt darüber nach, wo sich ein Wahrsagekristall auftreiben ließe, der dem Wert von hundertfünfzig Tonnen, egal welcher Substanz, nahekäme. Er ist so tief in seine Gedanken versunken, dass er seinen Namen erst hört, als zum dritten Mal nach ihm gerufen wird.

»Master Walsingham! Sir!«

Neben sich bemerkt er einen ihm unbekannten kleinen Mann, der eine ausgeblichene Anwaltsrobe trägt. Unter seinem Arm klemmen zusammengerollte Dokumente.

»Thomas Penyngton«, stellt er sich vor. »Ich bin Gerichtsschreiber am Court of Sewers, dem Wasseramt.«

Er will den Hut abnehmen und merkt erst jetzt, dass er keinen aufgesetzt hat.

»Ihr seid genau der Mann, den ich brauche«, erwidert Walsingham.

Der andere blickt ihn irritiert an. Vielleicht hat das noch nie jemand zu ihm gesagt.

»Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht, als ich hörte, dass Ihr mich sucht«, erklärt Penyngton.

Eine der Rollen unter seinem Arm verrutscht. Er will sie fester packen, doch daraufhin entwischt ihm prompt die nächste.

Wie eine Maus, denkt Walsingham und sagt sich, dass der Mann wahrscheinlich bei sich zu Hause, wo man ihn liebt und akzeptiert, am glücklichsten ist.

Eilig schiebt er seine Gedanken beiseite und erkundigt sich nach den Arbeiten am Fluss Lea, insbesondere nach dem Bau der Schleuse unterhalb von Enfield. Schließlich ist Mister Penyngtons Behörde für alles zuständig, was mit fließenden Gewässern und Kanalisation zu tun hat.

»Ah, dann wollt Ihr mit Master Honrighe sprechen. Garrett Honrighe. Er ist Landvermesser. Und weil er Holländer ist, interessiert er sich sehr für Wasser. Oder vielmehr für die Vermeidung von Wasser. Sein größtes Interesse ist es, trocken zu bleiben, würde ich sagen.«

Walsingham fragt sich, ob dieser Honrighe wohl auch ein Mitglied der Gilde der Schwarzen Madonna ist. Nicht dass einer wie Penyngton darüber Bescheid wissen würde, es sei denn, Honrighe trüge das verräterische Abzeichen. Er erkundigt sich danach.

»Nein, Sir«, antwortet Penyngton. »Kein Abzeichen oder sonst etwas dieser Art. Er ist gut, aber immer sehr schlicht gekleidet. Wie Ihr, Sir, wenn ich das so sagen darf, ohne Euch zu nahezutreten.«

»Beaufsichtigt er auch den Bau?«, will Walsingham wissen.

»Nein, Sir. Er hat ihn ausschließlich entworfen. Für die Umsetzung der Pläne sind die Arbeiter und Ingenieure zuständig. Warum? Gibt es ein Problem mit der Schleuse?«

»Nein, nichts dergleichen«, versichert ihm Walsingham. »Ich wüsste nur gerne den Namen ihres Erbauers, das ist alles.«

»Habt Ihr vor, eine eigene Schleuse bauen zu lassen? Ist es das? Ich kenne Lord Burghley …«

»Ich brauche nur seinen Namen.«

Hektisch beginnt Penyngton, die Rollen unter seinem Arm zu durchwühlen, sodass Walsingham ihm anbietet, diejenigen zu halten, die er schon aussortiert hat. Die vorletzte verspricht endlich, die gesuchte zu sein, und er entrollt sie. Die Schrift ist ein unbeholfenes Gekritzel, aber den Namen findet Penyngton fast auf Anhieb.

»Genau«, murmelt er. »Ich erinnere mich, wie überrascht ich damals war. Es ist nämlich ein Mann namens Henk Poos.«

Damit kann Walsingham freilich rein gar nichts anfangen.

»Warum wart Ihr überrascht?«, fragt er unwillkürlich.

»Nun ja …« Penyngton scheint sich mehr und mehr für sein Thema zu erwärmen. Als ginge es um einen unerhörten Skandal, beugt er sich zu Walsinghams Ohr und flüstert: »Master Honrighe ist ein Holländer aus der Provinz Westfriesland, die praktisch im Meer liegt und aus der die besten Wasserbauingenieure stammen; Henk Poos dagegen ist ein Flame.«

»Und was ist daran so überraschend?«

Es scheint Penyngton zu verwirren, dass ein Mensch derart begriffsstutzig sein kann.

»Die Flamen verstehen sich hervorragend auf Tuchwaren und Holz, Sir, aber nicht auf Wasser! Und da ist noch etwas: Mir ist schon beim ersten Treffen mit den beiden aufgefallen, dass sie sich nicht ausstehen können. Richtige Streithähne waren das! Und als wir uns zusammengesetzt haben, um die Einzelheiten zu erörtern, war ich schon drauf und dran, ihnen zu sagen, dass ich den Auftrag anderweitig vergeben muss. Das hätte ich auch getan, wenn Master Honrighe nicht so hartnäckig gewesen wäre.«

»Ihr kennt also diesen Henk Poos persönlich? Den Mann, der die Schleuse baut?«

»Allerdings, Sir, ein äußerst ungewöhnlicher Gentleman in unserem Gewerbe. Denn genau das ist er: ein Gentleman. Ein vornehmer Herr, so wie Ihr.«

Walsingham greift in seine Tasche und zieht Mistress Teerlincs Amulett hervor.

»Ist er das?«, erkundigt er sich. »Ist das Henk Poos?«

Penyngton neigt sich näher über das Porträt.

»Oh! Ja, Sir. Das ist er! Wie aus dem Gesicht geschnitten!«