III. Kontexte

1. Historische, sozialgeschichtliche und kulturelle Voraussetzungen

Bedeutung der Reichsgründung für die Genese des deutschen Naturalismus

Bei der Genese des deutschen Naturalismus spielt ein nationales historisches Ereignis eine nicht zu unterschätzende Rolle: die Reichsgründung. Nach dem militärischen Sieg über Frankreich im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 wurde der preußische König Wilhelm I. 1871 zum deutschen Kaiser gekrönt und wenig später eine Verfassung verabschiedet, die den Zusammenschluss von insgesamt 25 Einzelstaaten zum deutschen Reich besiegelte. Damit war Deutschland zum ersten Mal in seiner Geschichte eine nationale politische Einheit und nicht einfach nur eine Ansammlung einer Vielzahl von regionalen Fürstentümern. Sowohl die ökonomischen als auch die mentalitätsgeschichtlichen Auswirkungen waren von enormer Tragweite. So lösten die Reparationszahlungen, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg leisten musste, in Deutschland ein starkes Wirtschaftswachstum aus und trieben die Industrialisierung des Landes machtvoll voran. Zwar erlitt die überhitzte Konjunktur bereits 1873 einen ernsthaften Einbruch in Form eines Börsenkrachs, doch konnten auch in den folgenden Jahren weiter hohe ökonomische Steigerungsraten verzeichnet werden. Diese Phase eines rasanten Wirtschaftsaufschwungs, der viele Firmen und Fabriken, Geschäfts- und Wohngebäude entstehen ließ und darüber hinaus die Infrastruktur des Landes durchgreifend modernisierte, ging unter dem Begriff ‚Gründerzeit‘ in die Geschichte ein.

Kennzeichen der Gründerzeit-Kunst

Obwohl die beiden Jahrzehnte nach der Reichsgründung ein Zeitraum sich verschärfender gesellschaftlicher Spannungen waren, fand die sog. soziale Frage lange keinen Eingang in die Literatur. Die Kunst der Gründerzeit diente in erster Linie der Repräsentation; ihre Aufgabe war es, materielle Prosperität in eine pompöse Formensprache zu übersetzen. Am deutlichsten greifbar ist diese Tendenz wohl im Bereich der Architektur: Großdimensionierte Repräsentationsbauten mit zahlreichen ornamentalen bzw. mythologisierenden Schmuckelementen, die Auskunft über das Geltungsbedürfnis der wohlhabenden, nicht selten neureichen bürgerlichen Schichten geben, dominierten nun das Erscheinungsbild der Städte. Allerdings entstand auf diese Weise kein eigenständiger künstlerischer Stil, vielmehr wurden heterogene Gestaltungselemente aus verschiedenen Zeiten und Kulturen eklektisch miteinander kombiniert. Die kulturelle Tradition diente im Wesentlichen als Fassade, um die mit der forcierten Industrialisierung einhergehenden Modernisierungserscheinungen zu kaschieren. Die damit verbundene Degradierung des Vergangenen zum beliebig verfügbaren Formenreservoir entspricht dabei der dominierenden Stilhaltung des 19. Jahrhunderts, dem Historismus.

Eine vergleichbare Situation bestand auch im Bereich der Literatur. Die beherrschenden Autoren der Zeit lebten meist in großbürgerlichem Ambiente, verkehrten mit den wohlhabenden Honoratioren ihrer Zeit und unterhielten im Allgemeinen auch gute Kontakte zu den jeweiligen Höfen. Ihre Texte bereiteten überliefertes, von seiner Verbindlichkeit befreites Bildungsgut auf und arrangierten es in wohlproportionierten, an die deutsche Klassik angelehnten Formen. Neben dieser Repräsentationsliteratur für die gutbürgerlichen Schichten gab es für die weniger gut situierten Lesergruppen die trivialisierte Massenliteratur der sog. Familienblätter. Die bekannteste Zeitschrift dieses Publikationstyps war die Gartenlaube, deren Titel nachgerade programmatisch jenen Ort aufruft, der als Inkarnation einer behaglich bürgerlichen Rückzugsposition jenseits des Politisch-Ökonomischen verstanden werden muss. Die hier abgedruckten Texte dienten in erster Linie der Erbauung und Zerstreuung; sie boten einen idyllischen Gegenpol zu den Entfremdungserfahrungen des großstädtischen Lebens und degradierten Literatur zu einem Vehikel der Kompensation.

Kernelemente des naturalistischen Literaturprogramms

Kunst diente in der Gründerzeit also vornehmlich dem Selbstdarstellungs- und Zerstreuungsbedürfnis der Bourgeosie sowie jener sozialen Schichten, die sich an Adel und Bürgertum orientierten. Dergestalt auf bestimmte Ausdrucksziele festgelegt, war sie dazu gezwungen, immer weitere Bereiche aktueller Lebenswirklichkeit auszublenden. Weder allgemeine Begleitphänomene der zunehmend voranschreitenden Industrialisierung (wie die einsetzende Massenproduktion von Lebensmitteln und Konsumgütern, die Entstehung von Metropolen bei gleichzeitiger Veränderung der überkommenen urbanen Strukturen, die Herausbildung einer eigenen Schicht von – oftmals proletarisierten – Industriearbeitern) und Technisierung (wie das Aufkommen neuer Verkehrsmittel und Kommunikationstechniken oder die Veränderung der herkömmlichen Tages- und Jahreszyklen durch die Ausbreitung der künstlichen Beleuchtung) noch spezifisch moderne, meist an den Lebensraum der Großstadt gekoppelte Erfahrungen (wie wachsende Kriminalität, Prostitution und Alkoholismus) fanden in nennenswertem Maß Eingang in die zeitgenössische Literatur, so dass diese von der nachwachsenden Generation von Autoren als überholt, rückwärtsgewandt und verlogen empfunden wurde. Zugleich schälten sich so die Umrisse eines eigenen Schreibkonzepts heraus: Die künftige Literatur sollte realitätsnah sein, indem sie sich allen Erscheinungen der Lebenswirklichkeit öffnet und keinen Erfahrungsbereich tabuisiert, sie sollte gegenwartsorientiert sein und die Fixierung auf historische Stoffe und Themengebiete vermeiden, und sie sollte ‚wahrhaftig‘ sein, indem sie sich nicht länger an vorgegebenen ästhetischen Gestaltungsnormen ausrichtet, sondern nach neuen und unreglementierten Ausdrucksmustern sucht. Diese drei Elemente sind es denn auch, die den Kern des naturalistischen Literaturprogramms bilden.

Nationalistische Komponente des Frühnaturalismus

Allerdings tritt zumindest in der Anfangsphase noch ein weiterer Aspekt hinzu. Der deutsche Naturalismus ist nämlich von seinem Initialimpuls her eine gesamtkulturelle Regenerationsbewegung, die sich einerseits gegen die von der „Generation der Väter“ (Nöhbauer 1956, 52) zu verantwortende Fassadenkultur der Gründerzeit richtet, die ihr Selbstverständnis und ihre Legitimation andererseits aber gerade aus dem Faktum der Reichsgründung bezieht, die ja allererst den Anstoß für die dann einsetzende künstlerische Degeneration der siebziger Jahre gegeben hat. Im Grunde klagten die jungen Schriftsteller nur ein, was die Propagandisten des Kaiserreichs unermüdlich verbreiteten: das Versprechen, dass der Einigung auf politischem Gebiet und dem ökonomischen Aufschwung zwangsläufig auch eine neue kulturelle Blüte folgen werde. Allerdings erfüllten sich diese Verheißungen nicht. Und so war es denn auch vor allem die nachhaltige Enttäuschung über die geweckten, aber nicht eingelösten Hoffnungen, die den Unmut der Heranwachsenden erregte und den Treibsatz ihres Protestes gegen die als hohl empfundene Kultur der Gründerzeit bildete. Trotz der forciert nationalistischen Selbstdarstellung des Staates im Politischen und der behaupteten Zugewandtheit zur Zukunft war die etablierte Kultur der Gründerzeit in Deutschland nach wie vor vergangenheitsbezogen und stark am Ausland orientiert. Am deutlichsten lässt sich dies an den Spielplänen der Theater erkennen, die neben ‚klassischen‘ Repertoirestücken vor allem Salondramen und Konversationslustspiele zeitgenössischer französischer Bühnenautoren (Émile Augier, Alexandre Dumas d.J., Victorien Sardou) zeigten.

So tat sich mit der Zeit gleich ein zweifacher Gegensatz auf: zwischen der immer stärker um sich greifenden Modernisierung der Lebenswelt und der ästhetischen Zurückgebliebenheit der kulturellen Ausdrucksformen auf der einen und zwischen dem Anspruch der deutschen Nation, auch kulturell eine führende Rolle in Europa zu spielen, sowie der Realität, die dieser Prätention nicht gerecht wurde, auf der anderen Seite. Dem nun wollten die Naturalisten nicht nur eine strikt gegenwartsorientierte, sondern auch eine dezidiert nationale Dichtung entgegensetzen. Aus dem damit einhergehenden Abwehrimpuls gegen fremdkulturelle Einflüsse erklärt sich im Übrigen der heute befremdlich anmutende nationalistische Ton ihrer Äußerungen. So verkündet etwa Hermann Conradi: „Der Geist, der uns treibt zu singen und zu sagen, […] ist der Geist wiedererwachter Nationalität.“ (Arent [Hrsg.] 1885, III) Ihm sekundiert Conrad Alberti, der betont: „Wir vertreten […] eine völlig selbständige und eigenartige Bewegung […] deren erstes und höchstes Prinzip die Nationalität ist!!“ (Alberti 1888, 1041)

Hoffnungen auf kulturelle Regeneration

Die nachwachsende Generation von Autoren, die sich als „Geisteskinder der Jahre 1870/71“ (Fritsche 1885/86, 16) begriffen, formierte sich also anfangs als Widerstandsbewegung gegen die von Nietzsche schon 1873 konstatierte „Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ‚deutschen Reiches‘“ (Nietzsche 1972, 156). Wilhelm Bölsche wollte die naturalistische Bewegung deshalb in einem „entwicklungsgeschichtlichen Sinn“ verstanden wissen als Bezeichnung für die Bestrebungen einer „Generation mehr oder minder gleichaltriger junger Leute, mit denen in den Jahrzehnten seit 1870 ein entscheidender Umschwung in unserem ganzen dichterischen Leben eingetreten ist“ (Bölsche 1890, 95). Das euphorisch begrüßte Ereignis der Reichsgründung und den damit verbundenen Aufstieg Deutschlands zu einer der europäischen Zentralmächte verband diese Generation „mit den überschwänglichen Hoffnungen einer neuen Kultur“, die „strahlender als die Schönheitswelt von Althellas“ (Conrad 1902, 86) sein sollte.

Reaktionen auf die Merkantilisierung der Kunst

Diese Wunschphantasie ist freilich ihrerseits ein Produkt der mit der Entfesselung der ökonomischen Produktion einhergehenden verschärften Merkantilisierung der Literatur. Denn schon für die siebziger Jahre gilt ja: „l’unification des états allemands […] mit le marché de la culture en régime de libre-échange“ (Jelavich 1979, 39). Von den Verlagen gedruckt bzw. von den Theatern gespielt wurden – mit Ausnahme der für das eigene Selbstverständnis wichtigen sog. Klassiker – fast ausschließlich solche Schriftsteller, deren Texte kommerziellen Erfolg versprachen, während sperrige Autoren allenfalls ein Nischendasein fristeten und literarische Debütanten die Publikation eines eigenen Werks oftmals aus eigener Tasche finanzieren mussten. Und so kann das Programm des deutschen Frühnaturalismus auch als Antwort gesehen werden auf die „Tatsache, daß […] der Markt zur hauptsächlichen kulturellen Regulierungsinstanz geworden war“ (Lenman 1994, 58). Direkter Reflex auf diese ernüchternde Einsicht war die Forderung nach einer staatsmäzenatischen Förderung der Kunst. Im Bestreben, das deutsche Kaiserreich zu einem Kulturstaat weiterzuentwickeln, forderten beispielsweise die Brüder Hart von Kanzler Bismarck die Einrichtung eines eigenen „Reichsamts für Literatur, Theater, Wissenschaft und Künste“ (Hart/Hart 1882–84, H. 2, 7), das den künstlerischen Nachwuchs durch Alimentierung fördern und die Theater subventionieren sollte. Andere Autoren zeigten sich in dieser Hinsicht eher skeptisch. So lehnte etwa Bleibtreu jede „Staatssubvention“ (Bleibtreu 1885, 331) der Literatur entschieden ab. Ganz ähnlich zog Arno Holz derartige Erwartungen ins Lächerliche und äußerte sich abfällig über die „sonderbaren Schwärmer, Käuze, Broschürenschreiber, die sich lärmend“ an die Regierung „herandrängen und von ihr die Verwirklichung unserer Ideale fordern“ (Holz 1890, 165). Besondere Hoffnungen richteten sich auf den 1888 stattfindenden Thronwechsel, erwartete man doch vom „jungen, geistvollen Kaiser“ (Conrad 1888, 724) Wilhelm II. „das Heil der nationalen Kunst“ (Alberti 1890, 792).

Wiederbelebung des Geniebegriffs

Auch wenn nicht alle Vertreter des Naturalismus an das „Trugbild vom ‚sozialen Kaisertum‘“ (Sollmann 1982, 129) glaubten, teilten sie doch sämtliche die Überzeugung von der überragenden Bedeutung der Kunst für die Gegenwart, die sie von materialistischen Tendenzen bedroht sahen. So begriff Conradi die Künstler ausdrücklich als „Hüter und Heger, Führer und Tröster, Pfadfinder und Wegeleiter, Ärzte und Priester der Menschen“ (Arent [Hrsg.] 1885, III), und selbst Bleibtreu verlangte „Achtung vor der modernen […] Priesterschaft der Schriftsteller“ (Bleibtreu 1885, 334). Zweifellos ist hier die „selbsterhöhende Regeneration eines historischen Dichterideals“ (Sollmann 1982, 132) zu erkennen, das historisch auf die Theoreme der Geniebewegung zurückgeführt werden kann. Die Brüder Hart hatten schon 1884 erklärt: „nur das Genie […] kann […] den Sturmgeist“ wiederbringen, „der alles Kleinliche niederwirft“ (Hart/Hart 1882–84, H. 6, 74). Dementsprechend hatte dann Conradi in Anknüpfung daran eine „schrankenlose, unbedingte Ausbildung“ der „künstlerischen Individualität“ (Arent [Hrsg.] 1885, III) als Gegenmittel gegen jede Art von ästhetischer Epigonalität propagiert. Dieses unbedingte Vertrauen in die Authentizität subjektiven Ausdrucksbestrebens muss erstaunen angesichts des deterministischen Weltbilds, dem die meisten Naturalisten anhingen. Es wird aber verständlich, wenn man es als funktionales Element im Kampf gegen Formkonventionen begreift.

Versuch einer Neubegründung der Literatur

Die Restituierung eines im Grunde bereits obsolet gewordenen Schriftstellerideals dient im Wesentlichen dem Versuch einer „Selbstbehauptung der Literatur“ und will zu einer „Rückgewinnung der Eingriffsmöglichkeiten der Literatur in alle gesellschaftlichen Belange“ (Voigt 1983, 25) beitragen. Damit ist das Bemühen um eine durchgreifende Regeneration der Kultur als Antwort auf den Bedeutungsverlust der Kunst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu werten. „In ihrer Genese war die naturalistische Revolte eine Opposition gegen den Kultur- und Kunstverfall seit den Gründerjahren, mit der die Erfahrung eines elementaren Funktionsverlustes des bürgerlichen Künstlers und Intellektuellen einherging.“ (Fähnders 1987, 9) Als deutlich wurde, dass der Staat nicht als Sachwalter künstlerischer Belange auftreten würde, entwickelten die jungen Autoren ein gegen die offizielle Repräsentationskultur wie gegen die Kommerzkunst gleichermaßen gerichtetes ästhetisches Erneuerungsprogramm, das Positionen des europäischen Naturalismus aufnahm. Der deutsche Naturalismus stellt demnach eine Reaktion dar auf die den Fortbestand der literarischen Kultur existentiell gefährdende dreifache Bedrohung, die sich in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts abzuzeichnen begann: Erstens sahen die Schriftsteller die angestammte Bedeutung der Literatur durch die tendenziell kunstfeindliche Haltung des Besitzbürgertums infrage gestellt, dessen einseitige Betonung des Ökonomisch-Materiellen die Kunst an den Rand drängte und ihr nurmehr eine dekorative bzw. unterhaltende Funktion zuwies. Zweitens beraubte die ständig dominanter werdende Naturwissenschaft, welche die Deutungskompetenz für immer weitere Bereiche der Erfahrungswirklichkeit beanspruchte, die Literatur ihrer angestammten Rolle. Indem der universale Geltungsanspruch der Wissenschaft die weitere Existenzberechtigung der Kunst infrage stellte, stürzte er sie in eine regelrechte „Legitimationskrise“ (Scheuer 1984, 14). Dazu kommt drittens die mediengeschichtliche Herausforderung, die durch die Erfindung technischer Bild- und Tonaufzeichnungsapparaturen gegeben war. Die Literatur verlor demnach durch mehrere Faktoren gleichzeitig an Terrain. Im Zuge dieser potenzierten Krisenerfahrung entwickelten die Autoren der jungen Generation schließlich ein ästhetisch-kulturelles Programm, das auf den Funktionsverlust der Kunst in der zeitgenössischen Gegenwart antwortete. Die Führungsrolle der Literatur ließ sich jedenfalls nur dann wieder beanspruchen, wenn es gelang, ihr erneut zu gesellschaftlicher Bedeutung zu verhelfen, mithin „Dichtung […] auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Objektivierung gegen die literarische Tradition neu zu konturieren“ (Sollmann 1982, 130) und ihr angesichts der Medienkonkurrenz weitere Ausdrucksdimensionen zu erobern. Vor die Wahl gestellt, entweder sozial funktionslos zu werden und sich auf eine Nische des Ästhetischen zurückzuziehen oder auf die Herausforderung der Wissenschaft und der neuen medialen Erfindungen zu reagieren, begann die Literatur, sich neu zu definieren und geeignete Anpassungsstrategien zu entwickeln.

2. Naturwissenschaftliche und soziologische Denkkonzepte

Das 19. Jahrhundert als Wendepunkt der Wissensgeschichte

Das 19. Jahrhundert markiert insofern einen Wendepunkt in der Wissensgeschichte, als hier erstmals die Natur- und Sozialwissenschaften herausragende Geltung erlangten und zu gesellschaftlichen Leitdisziplinen avancierten, die das Selbstverständnis des modernen Menschen nachhaltig prägen. Allerdings dauerte es eine geraume Weile, bis die entsprechenden Deutungsmodelle Eingang in die intellektuellen Debatten der Zeit fanden. Eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung neuen Gedankenguts spielten Intellektuelle, welche die neuartigen Wissensbestände und Denkstrukturen publikumswirksam popularisierten. Vielfach läßt sich gar nicht mehr genau feststellen, auf welchen Wegen zeitgenössische Wissenschaftstheoreme in die öffentlichen Debatten gelangten. Insofern kann es hier nur darum gehen, einige jener Personen vorzustellen, die im Bewusstsein der Zeit eine Schlüsselrolle spielen – unabhängig davon, ob sie nun selbst Diskursbegründer waren oder nicht. In jedem Fall aber – und dies ist einzig von Bedeutung – fungierten sie als Stichwortgeber.

Zur Rolle des Positivismus: Auguste Comte

Zu den wichtigsten Voraussetzungen der naturalistischen Ästhetik gehört zunächst der von dem französischen Philosophen Auguste Comte begründete Positivismus in seiner Doppelfunktion als wissenschaftliche Verfahrensweise und als epistemologisches Basisprinzip. In seinem sechsbändigen Grundlagenwerk Cours de philosophie positive (1830–42) verwirft Comte für den gesamten Bereich der Wissenschaft die bis dahin allgemein als Instrument zur Gewinnung von Erkenntnis akzeptierte und vor allem von der idealistischen Philosophie legitimierte spekulative Methode und lehnt darüber hinaus die Heranziehung metaphysischer Erklärungsprinzipien ab, von denen aus auf dem Weg der Deduktion Ergebnisse gewonnen werden. Stattdessen lässt er nur zwei Erkenntnismodi zu: die minutiöse Beobachtung und das kontrollierte Experiment. Das Credo des Positivismus lautet denn auch: Jegliche Wissenschaft hat vom ‚positiv‘, d.h. tatsächlich Gegebenen auszugehen, und ihre Erkenntnisse müssen stets durch genaue Beobachtung überprüfbar sein. Dahinter steckt die Grundannahme, dass alle Vorgänge festen und unveränderlichen Gesetzen unterworfen seien. Diese Gesetzmäßigkeiten nun nach und nach vollständig aufzuspüren, ist das Ziel des philosophischen Positivismus. Auf Grund des gesetzmäßig geregelten Ablaufs aller Dinge bilden die daraus resultierenden Tatsachen einen festen Bezugspunkt für die Wissenschaft. Mit anderen Worten: Der Positivismus unterstellt eine einheitliche, der Analyse zugängliche Ebene empirisch verifizierbarer Faktizität.

„Soziale Physik“

Comtes Theorie enthält freilich keine deterministische Komponente. Vielmehr lässt Comte sich von dem Grundsatz leiten: „voir pour savoir, savoir pour prévoir, prévoir pour prévenir“. Diese Überzeugung leitet vor allem sein Système de politique positive, ou traité de sociologie (1851–54), eine jener Schriften, die ihn zur Gründungsfigur der Soziologie haben werden lassen. Soziale Phänomene werden von Comte – anders als dann von den meisten Vertretern des Naturalismus – nicht als unumstößliche Gegebenheiten angesehen, sondern als Zustände, die durch den Menschen veränderbar sind, und zwar gerade wegen der ihnen zugrunde liegenden Gesetze. Was Comte anstrebt, ist eine „soziale Physik“, die den Menschen als Basiseinheit der Gesellschaft begreift und die Beziehungen zu seinen Mitmenschen in einer Weise untersucht, wie es der Naturwissenschaftler etwa mit den Elementen tut. Dabei leitet ihn die Überzeugung, dass gesellschaftliche Missstände abgeschafft werden können, sobald die Gesetze des menschlichen Soziallebens erkannt sind.

Um die Überlegenheit der positivistischen Wissenschaft über alle anderen Erkenntnisformen zu beweisen, entwirft Comte ein Dreistadienmodell, das die Entwicklung des Wissens nachzeichnen will. Danach habe als erstes das theologische Deutungsmuster geherrscht, das alle Erscheinungen als Verkörperung göttlicher Instanzen verstanden und sich durch die Verehrung dieser Götter bzw. deren Fetischen ausgezeichnet habe. Diesem sei dann ein metaphysisches Erklärungsschema gefolgt, das den Ablauf von Ereignissen mithilfe von Ideen zu verstehen versucht und seinen Höhepunkt in der Geistphilosophie des deutschen Idealismus erreicht habe. In der nachidealistischen Phase nun werde nicht mehr nach dem ‚Warum‘ der Erscheinungen gefragt, sondern lediglich nach dem ‚Wie‘. Der Positivismus beschäftige sich deshalb mit den Dingen selbst und bemühe sich darum, die Gesetzmäßigkeiten aufzufinden, welche die Wirklichkeit bestimmen. Nach Theologie und Metaphysik sei mittlerweile das dritte und letzte Stadium erreicht, das der Wissenschaft.

Weitere Vertreter des Positivismus: John Stuart Mill, Claude Bernard, Henry Thomas Buckle

Für die weitere Entwicklung des Positivismus und seine Anwendung in einzelnen Wissenschaftsbereichen spielen insgesamt vier Personen eine wichtige Rolle: John Stuart Mill, Claude Bernard, Henry Thomas Buckle und Hippolyte Taine. Mill untermauerte Comtes Annahme, dass die Erfahrung die einzig legitime Erkenntnisquelle sei und erklärte in seinem System of Logic (1843;dt. 1849) die Induktion zur eigentlichen wissenschaftlichen Methode. Jeder Form von spekulativem Denken, das von bloßen Setzungen ausgeht und nicht durch die Empirie gedeckt ist, erteilte er dabei eine strikte Absage. Dass er auf den Thesen Comtes aufbaut, zeigt vor allem sein 1865 erschienenes Buch Auguste Comte and Positivism, aber auch der Rückgriff auf den Begriff des ‚Gesetzes‘ weist ihn klar als dessen Nachfolger aus. Bernard, einer der Begründer der modernen Physiologie, wandte die Grundsätze Mills und Comtes dann auf die Medizin an. Seine Schriften Introduction à l’étude de la médecine expérimentale (1865) und La science expérimentale (1878), in denen er den kontrolliert angestellten Versuch zum entscheidenden Prüfstein wissenschaftlicher Erkenntnis erklärte, wurden wenig später zum zentralen Bezugspunkt von Émile Zolas Konzept des „roman expérimental“. Buckle wiederum weitete die positivistische Methode auf die Geschichtswissenschaft aus, und nahm zugleich an, dass der Verlauf der Historie determiniert sei. Die Annahme einer Vorsehung oder des freien Willens lehnte er ab und setzte an deren Stelle eine Reihe von empirisch bestimmbaren Faktoren; so heißt es etwa in seiner History of Civilization in England (1857/61; dt. 1860/61) generalisierend: „Man is affected by four classes of physical agents; namely, climate, food, soil, and the general aspect of nature.“ (Buckle 1857/61, Bd. 1, 39)

Hippolyte Taine

Auf die Ästhetik übertragen wurden die Annahmen des Positivismus schließlich durch Hippolyte Taine, einen Schüler Auguste Comtes. Nach seiner Ansicht muss die gesamte bisherige, auf Spekulation beruhende Kunsttheorie durch eine positivistische ersetzt werden. Das bedeutet etwa für die Literaturgeschichtsschreibung, dass mit einem Mal ethnologische, historische und soziologische Fragestellungen Aktualität erlangen. In seiner Histoire de la littérature anglaise (1863; dt. 1878) benennt Taine – ähnlich wie vor ihm Buckle – eine Reihe von grundlegenden Faktoren, die jedes Individuum bestimmen. Bei ihm sind es allerdings nur drei, und diese drei erscheinen greifbarer als bei seinem englischen Kollegen; es sind „la race, le milieu et le moment“ (Taine 1863, Bd. 1, XXIIf.).

‚Race‘ meint die angeborenen und vererbten Eigenschaften, wie sie sich in Temperament und Körperstruktur manifestieren. Es handelt sich um eine uralte biologische Prägung überindividueller Art, um eine mächtige physisch-physiologische und psychologische Konstante, die sich in allen Prozessen sozialen und kulturellen Wandels durchhält. – ‚Milieu‘ […] bezeichnet klimatische und geographische Bedingungen ebenso wie politische und soziale Verhältnisse, Tatbestände, die […] das Resultat langer geschichtlicher Prozesse sind. […] – ‚Moment‘ schließlich zielt auf speziellere geschichtliche Kausalität, z.B. diejenige, die bewirkt hat, daß sich die Tragödien Corneilles und Voltaires, trotz ihrer geschichtlichen Nähe und gattungshistorischen Verwandtschaft, als höchst unterschiedliche kulturelle Erscheinungen darstellen. (Mennemeier 1985, 29)

Von diesen drei Grundkräften ist nach Taine der Mensch geprägt. Das bedeutet, dass ein Forscher, der die Literatur eines bestimmten Landes darstellen will, dessen Autoren in ihrer Epoche zu zeigen, ihrer biologischen Abstammung sowie den klimatischen Faktoren, unter denen sie leben, nachzugehen hat und ihr soziokulturelles Umfeld genauestens untersuchen muss. Eine solche Betrachtungsweise bildet natürlich einen scharfen Kontrast zur bisherigen Praxis der Literaturgeschichtsschreibung, die entweder vom Konzept des autochthonen Autors ausgegangen ist oder eine abstrakte Entwicklungsgeschichte des ‚Geistes‘ postuliert hat. Zusammengefasst und systematisch dargestellt finden sich Taines Thesen in seiner Philosophie de l’art (1865;dt. 1866). Taine ist es im Übrigen auch, der den Begriff ‚naturaliste‘ zum ästhetischen Programmwort gemacht hat.

Wilhelm Scherer

In Deutschland verbreitet wurden die Denkmuster Comtes, Buckles und Taines u.a. von dem einflussreichen – von 1877 bis zu seinem Tod 1886 in Berlin lehrenden – Germanisten Wilhelm Scherer, dem wohl prominentesten Vertreter eines literaturwissenschaftlichen Positivismus. In der Vorrede seines Buchs Zur Geschichte der deutschen Sprache (1868) schreibt er etwa:

[…] wir glauben mit Buckle dass der Determinismus, das demokratische Dogma vom unfreien Willen, […] der Eckstein aller wahren Erfassung der Geschichte sei. Wir glauben mit Buckle dass die Ziele der historischen Wissenschaft mit denen der Naturwissenschaft insofern verwandt seien, als wir die Erkenntniss der Geistesmächte suchen um sie zu beherrschen, wie mithilfe der Naturwissenschaften die physischen Kräfte in menschlichen Dienst gezwungen werden. (Scherer 1868, VIIIf.)

In Anlehnung an Taine postulierte Scherer, es gebe drei wesentliche Faktoren, die ein menschliches Individuum formten; diese nannte er das „Ererbte“, das „Erlebte“ und das „Erlernte“ und prägte damit eine Begriffstrias, welche zum Standardbestand der Literaturwissenschaft um 1900 wurde. Weil er ein ‚modernes‘, nüchternes Wissenschaftsverständnis vertrat, wirkte er als Anziehungspunkt für zahlreiche junge Männer, die in Berlin studierten. Darunter waren auch einige Intellektuelle aus dem Umfeld des Naturalismus. Zu nennen wären hier vor allem die Theaterkritiker und Regisseure Otto Brahm und Paul Schlenther, die sich explizit zu seinen „Schülern“ (Brahm 1913/15, Bd. 2, 296) zählten, aber auch Max Halbe.

Der sog. Entwicklungsgedanke: Herbert Spencer

Neben den Positivismus als bestimmendes Denkmuster der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tritt der sog. Entwicklungsgedanke. Dessen wichtigster Vertreter ist anfangs der englische Philosoph Herbert Spencer, der in seinem Aufsatz The Development Hypothesis (1852) das Prinzip der Evolution zum umfassenden Charakteristikum des Kosmos erklärt hat. Sowohl Natur wie Kultur seien einem übergreifenden, von Naturgesetzen gesteuerten Entwicklungsprozess unterworfen. Dabei spielt im Bereich organischen Lebens der Faktor der Anpassung an gegebene Umstände eine entscheidende Rolle. Spencer prägt in diesem Zusammenhang bereits die Formel „survival of the fittest“. Sein Entwicklungskonzept besitzt für die deutschen Naturalisten vor allem deshalb eine herausgehobene Rolle, weil Spencer keinen Unterschied mehr macht zwischen Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaft. Stattdessen nimmt er an, dass die fundamentalen Entwicklungsgesetze in allen Bereichen der Wissenschaft gleichermaßen gelten.

Das Konzept der biologischen Evolution: Charles Darwin

Wesentlich bekannter als Spencers Theoreme sind freilich die Ergebnisse von Charles Darwin geworden, die den eher abstrakten Hypothesen seines Vorgängers ein konkretes biologisches Fundament verliehen. Darwin konnte in seiner Abhandlung On the Origin of Species (1859;dt. 1860) zeigen, dass der von Spencer postulierte Evolutionsprozess im Bereich organischen Lebens von zwei Faktoren bestimmt ist: Mutation und Selektion. Durch das Zusammenwirken beider komme es zur heutigen Vielfalt der Arten. Darwin griff darüber hinaus die von Alfred Russel Wallace und Spencer formulierte Denkfigur vom Überleben des Tüchtigsten bzw. am besten Angepassten zurück und postulierte, dass sich auf Grund des Mangels an Ressourcen alle Lebewesen in einem „Kampf ums Dasein“ befänden. In Deutschland verbreitet und popularisiert wurden die Ergebnisse von Darwins Forschungen dann von Ernst Haeckel. Auf der 38. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Stettin (1863) fasste er die wichtigsten Ergebnisse der Evolutionstheorie – Darwin zitierend – folgendermaßen zusammen:

„Alle verschiedenen Thiere und Pflanzen, die heute noch leben, sowie alle Organismen, die überhaupt jemals auf der Erde gelebt haben, sind nicht, wie wir anzunehmen von früher Jugend gewohnt sind, jedes für sich, in seiner Art selbstständig erschaffen worden, sondern haben sich trotz ihrer außerordentlichen Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit im Laufe vieler Millionen Jahre aus einigen wenigen, vielleicht sogar aus einer einzigen Stammform, […] allmählich entwickelt.“ Was uns Menschen selbst betrifft, so hätten wir also consequenter Weise, als die höchst organisirten Wirbelthiere, unsere uralten gemeinsamen Vorfahren in affenähnlichen Säugethieren, weiterhin in känguruhartigen Beutelthieren, noch weiter hinauf […] in eidechsenartigen Reptilien, und endlich in noch früherer Zeit […] in niedrig organisirten Fischen zu suchen. (Haeckel 1902, Bd. 1, 3f.)

Bruch mit der Metaphysik

Damit war nicht nur der Bruch mit der gesamten christlich-theologischen Tradition vollzogen, sondern auch jede Art von Metaphysik verabschiedet. Der Wegfall zweier zentraler Weltdeutungsmodelle schuf natürlich ein Vakuum, das aber die Wissenschaft allmählich auszufüllen begann. Dadurch, dass sie mit einem Mal die einzige Methode zu sein schien, die wirkliche Erkenntnismöglichkeiten und damit einen Zugang zur ‚Wahrheit‘ bot, rückte sie nach und nach auch in die Rolle einer modernen und säkularen Heilslehre, was im Übrigen von Comte bereits intendiert war. So erklärte etwa Rudolf Virchow schon 1865 nüchtern: „Es ist die Wissenschaft für uns zur Religion geworden.“ (Virchow 1865, 18)

Degeneration und „Entartung“

Deszendenz- und Evolutionstheorie fanden schon bald Eingang in andere Wissenschaftszweige und stießen in den unterschiedlichsten Disziplinen weitere Forschungen an. Der Psychiater Bénédict Augustin Morel übertrug in seinem Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espéce humaine (1857) den bis dahin vorwiegend auf die Entwicklungsgeschichte von Kulturen angewandten Begriff der „Entartung“ auf pathologische Phänomene. Er ging davon aus, dass bestimmte Verhaltensweisen wie Alkoholkonsum oder von der Norm abweichende Sexualpraktiken vererbbar seien, und bezeichnete die dadurch bedingte, von einer Generation zur nächsten fortschreitende Verschlechterung des physischen und psychischen Gesundheitszustandes als „Degeneration“. Noch einflussreicher waren die Theoreme des italienischen Arztes Cesare Lombroso. In seinen Schriften Genio e follia (1864;dt. 1887) und L’uomo delinquente (1876;dt. 1887) postulierte er eine Verbindung von „Entartung“ und krimineller Disposition einerseits bzw. von „Entartung“ und Genie andererseits. Der Kriminelle wird von ihm als besonderer Menschentyp beschrieben, der zwischen den Geisteskranken und den sog. Primitiven stehe. Genialität wiederum ist für ihn nichts anderes als eine Art permanenter psychischer Ausnahmezustand, der sich biologisch nicht grundsätzlich von der kriminellen Devianz unterscheide. Morels und Lombrosos medizinisch-psychiatrische Thesen auf die Entwicklung der Kunst übertragen hat dann der Kulturkritiker Max Nordau in seinem vielgelesenen Buch Entartung (1892/93), in dem der Naturalismus und die übrigen modernen Literaturströmungen pauschal als „Kundgebungen der Entartung und Hysterie“ (Nordau [1892/93], Bd. 1, 79) abqualifiziert werden.

In den achtziger Jahren hatten sich die genannten Ansätze von den Intentionen ihren Urheber soweit entfernt und verselbständigt, dass sie zu frei flottierenden Schlagworten mit meist unscharfem Bedeutungsgehalt geworden waren. Vormals getrennte Termini gingen dabei überraschende neue Verbindungen ein, so dass ein kaum mehr entwirrbares, reichlich synkretistisch anmutendes Diskursgeflecht entstand, das zunehmend Distinktionsfunktionen übernahm. Wer nämlich daran partizipierte und mit den wichtigsten Denkfiguren und Leitbegriffen vertraut war, wies sich automatisch als ‚modern‘ aus. So erklärt sich nicht zuletzt die Wahl zugkräftiger Titel für literarische und publizistische Texte wie Der Kampf um’s Dasein der Literatur (Karl Bleibtreu;1888), Wer ist der Stärkere? (Conrad Alberti; 1888) oder einfach nur Der Kampf ums Dasein (Conrad Alberti;1889–97), die freilich weniger etwas über die konkrete Rezeption Spencers und Darwins im deutschen Naturalismus aussagen als vielmehr Einblick in das Ensemble plakativer Kennformeln geben, die bei der Selbstverständigung von Intellektuellen eine wichtige Rolle spielten.

Ihren deutlichsten Niederschlag fand die Auseinandersetzung mit den Postulaten der Wissenschaft wohl in Wilhelm Bölsches Schrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887), welche die Erkenntnisse der Wissenschaft auf die Kunsttheorie übertragen und so eine Art Handlungsanleitung für eine Literatur im Geist des Naturalismus vorlegen will. Mit der Aufsatzsammlung Natur und Kunst. Beiträge zur Untersuchung ihres gegenseitigen Verhältnisses (1890) legte einige Jahre später dann auch Conrad Alberti den Entwurf einer naturalistischen Ästhetik vor, die sich auf die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft gründet.

3. Medienkonkurrenz und Intermedialität: Literatur vs. Foto- bzw. Fonografie

Konkurrenz zwischen Wissenschaft und Kunst

Zweifellos haben die Künste durch den Siegeszug der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert an Terrain verloren. Während die gesellschaftliche Bedeutung des sozialen Subsystems Wissenschaft zunahm, verringerte sich die des Systems Kunst. Der Ausgriff der Wissenschaft auf neue Regionen der Wirklichkeit und die gleichzeitige Vertiefung der Erkenntnisse im Bereich bereits erschlossener Phänomene nahm der Kunst Darstellungsfelder, die sie zuvor für sich reklamieren konnte, so dass zwischen beiden Sphären zunehmend ein Konkurrenzverhältnis entstand. Angesichts solcher Umstände wäre es nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn der latente Verdrängungswettbewerb zwischen Wissenschaft und Kunst aufseiten der Letzteren mehr oder minder heftige Abwehrreaktionen hervorgerufen hätte. Interessanterweise begriffen die naturalistischen Autoren die Dominanz der Naturwissenschaft aber als produktive Herausforderung. Der Naturalismus kann geradezu als Versuch gesehen werden, die damit verbundene Aufgabe mithilfe eines Programms zur „Szientifizierung der Kunst“ (Borchmeyer 1980, 166) zu bewältigen.

Entwicklungsgeschichte der Foto- und Fonografie

Die Literatur war indes noch von anderer Seite einem starken Legitimationsdruck ausgesetzt. So wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts diverse Erfindungen gemacht, die sehr bald die Entwicklung technischer Aufzeichnungsapparaturen ermöglichten. Dazu gehört zunächst die Fotografie, die sich seit ihren Frühformen bei Nicéphore Niepce und Louis Daguerre rasch weiterentwickelte und spätestens mit der Entwicklung des Rollfilms durch George Eastman und der Einführung der Kodak-Kamera im Jahr 1888 zu einer technisch ausgereiften und für die Anwendung durch Laien geeigneten Form gelangte. Verfahren zur Aufnahme und Speicherung von akustischen Signalen wurden erst etwas später entdeckt. Eine Pionierrolle kommt hier Thomas Alva Edison zu, der 1877 mit dem Fonografen das erste Gerät erfand, mit dem man auf mechanischem Wege Schallwellen aufzeichnen und wiedergeben konnte. Sein Verfahren wurde 1887 von Emil Berliner verbessert, der das erste Grammofon baute, den mechanischen Vorläufer des Plattenspielers. Damit gab es in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre technische Apparaturen, die sowohl Bilder als auch Töne und Sprache weitgehend naturgetreu konservieren konnten, was einer mediengeschichtlichen Revolution gleichkam. Während bisher die Herstellung eines Abbilds der Realität weitgehend Angelegenheit der Künste war, lieferte nun die Technik entsprechende Reproduktionen, die in ihrer Qualität und Detailtreue bildende Kunst und Literatur in den Schatten zu stellen drohten.

Problematik des Mimesis-Konzepts

Die Auswirkungen, die diese technisch-medialen Umwälzungen für die Ästhetik insgesamt und das Selbstverständnis der Künstler im speziellen hatten, sind kaum zu überschätzen. Am wohl einschneidendsten wirkte sich die Verunsicherung aus, die dadurch entstand, dass mit einem Mal das Prinzip der Mimesis als wichtigster Legitimationsgrund der Kunst in Frage gestellt wurde. Mimesis als Herstellung eines in Ähnlichkeitsrelation zu seinem Vorbild stehenden Abbildes bzw. einer anschaulichen, aber nachgeordneten Repräsentation war ja seit der Antike (Platon, Aristoteles) eines der fraglos anerkannten und ästhetisch festgeschriebenen Funktionselemente der Literatur. Wenn aber nun die Realität mit einem Mal technisch reproduziert werden konnte, welche Aufgaben hatten dann noch die Künste? Immerhin hatte es in der Literatur bereits um 1800 einen ersten Vorstoß gegeben, sich von den Vorgaben der Nachahmungspoetik zu lösen. Die Romantik nämlich emanzipierte sich vom Mimesisgedanken dadurch, dass sie die Abbildung der Wirklichkeit durch die künstlerische Darstellung von Fantasiewelten ersetzte, was einesteils den Realitätsbezug lockerte und andernteils die Selbstbezüglichkeit ästhetischen Ausdrucks vorantrieb. Allerdings vermochte dieses Lösungsmodell für die Generation der um das Jahr 1860 geborenen Autoren noch keine Strahlkraft zu entwickeln, weil es ein bereits durchgespieltes und abgelebt wirkendes Modell von Kunst lediglich fortzuschreiben schien. Angesichts der veränderten Rolle der Literatur in der modernen Welt konnte nur ein Lösungsansatz überzeugen, der den wissenschaftlichen Forderungen nach Realitätsnähe und Verzicht auf Spekulation entsprach.

Zum Diskurs der fotografischen Abbildung

Die eigentliche Bedrohung der Dignität künstlerischen Ausdrucks, die sich durch die mediengeschichtliche Konkurrenz mit den neuen Bildaufzeichnungstechniken ergab, wurde aber zunächst einmal dadurch abgewendet, dass man eine argumentative Verteidigungsstrategie aufbaute. Die Naturalisten übernahmen kurzerhand die von den Vertretern des Poetischen Realismus entwickelte Denkfigur, wonach die „Photographie als mechanische Reproduktion‘“ (Plumpe 1990, 14) verstanden und dementsprechend „der Poesie die Aufgabe“ zugewiesen wurde, „das ‚Wesen‘ des Wirklichen kontraphänomenal zur Anschauung zu bringen“ (Plumpe 1990, 14). Das Ergebnis war, dass die Fotografie als Sujet in den literarischen Texten des Naturalismus ebensowenig eine nennenswerte Rolle spielt wie zuvor im Poetischen Realismus. Selbst dort, wo die neue Reproduktionstechnik thematisiert wird, geht es nicht um ihre mediale Funktion, sondern allenfalls um ihren dubiosen sozialen Status. So ist zwar die Figur des Hjalmar Ekdal in Ibsens Drama Wildente von Beruf Photograph, allerdings führt der Autor anhand ihrer vorrangig die „Lebensuntüchtigkeit eines Pseudokünstlers“ vor, der von der Illusion gefangen ist, „vom ungeliebten handwerklichen Kleingewerbe wieder in die höheren geistigen Sphären der Kunst und der Wissenschaft aufzusteigen“ (Koppen 1987, 67). Da das fotografische Gewerbe im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bereits zu einem ökonomisch geprägten Berufszweig geworden war, weckte es natürlich Vorbehalte gegenüber der merkantilen Verwertung von Kunst, was einer Auseinandersetzung mit der medialen Rolle technischer Bildaufzeichnung eher hinderlich war.

Trotz aller Reserviertheit gegenüber dem Konkurrenzmedium stellten die zeitgenössischen Schriftsteller aber immer wieder Bezüge zwischen den Kunstprogrammen des Realismus bzw. Naturalismus und der Fotografie her. So betonte Karl Bleibtreu, dass „nur der zum Realisten tauglich“ sei, „der die Gabe des technischen Sehens […] besitzt“:

Diese Gabe wird ihn auch befähigen, die seelischen Vorgänge in ihren intimsten Verschlingungen mit dem Mikroskop psychologischer Forschung zu verfolgen und, wie ein beliebiges mechanisches Gescheniss der Aussenwelt, mit sinnlich greifbarer Gestaltung zu photographiren. (Bleibtreu 1973, 31)

Medientheoretische Ansätze

Dass die naturalistischen Autoren sich nachhaltig an der Fotografie orientierten, hängt nicht zuletzt mit der Vorbildwirkung Zolas zusammen, der diese Aufzeichnungstechnik zum metaphorischen Modell für seine eigenen Darstellungsabsichten gewählt hat. Er folgt darin seinem Gewährsmann, dem Mediziner Claude Bernard, der in seiner Introduction à l’étude de la médecine expérimentale erklärt hatte: „Der Beobachter muß der Photograph der Vorgänge sein, seine Beobachtung muß genau die Natur wiedergeben.“ (Bernard 1961, 41) Zur zentralen Bezugsgröße für die Ästhetik der deutschen Naturalisten wurde die Photographie freilich erst im ‚konsequenten‘ Naturalismus, wo sich dann aber auch genuine Ansätze einer eigenständigen Medientheorie feststellen lassen. Die fotografische Technik muss hier jedenfalls immer mitgedacht werden, wenn von Termini wie ‚Nachahmung‘, ‚Wiedergabe‘ oder ‚Reproduktion‘ die Rede ist.

Auswirkungen auf die künstlerische Darstellung

Formal hat die Auseinandersetzung mit der Medienkonkurrenz vor allem Rückwirkungen auf die Art und Weise der literarischen Darstellung gehabt. So wie im fotografischen Bild immer nur ein „scharf umrissener Sektor der Wirklichkeit herausgegriffen wird“ (Koppen 1987, 68), so gehen auch die naturalistischen Autoren zunehmend dazu über, nurmehr Realitäts- ‚Ausschnitte‘ darzustellen. In diesem Punkt jedenfalls konvergierte die von Zola in seiner Theorie des Experimentalromans geforderte genaue Festlegung der Rahmenbedingungen mit der mediengeschichtlich bedingten Veränderung der Sehgewohnheiten und Darstellungspräferenzen. Auch zwischen dem Phänomen der sog. Momentfotografie, die einen Bewegungsvorgang in einzelne Standbilder zerlegt und so seine Ablaufstadien erkennbar werden lässt, und der von der Literatur der späten achtziger und frühen neunziger Jahre neuentwickelten Darstellungstechnik des ‚Sekundenstils‘ bestehen offenkundige Parallelen. Letztlich spielte die Fotografie als visuelles Aufzeichnungsverfahren indes eine wesentliche stärkere Rolle im Diskurs der bildenden Kunst, wo ja eine ganz unmittelbare mediale Konkurrenzsituation gegeben war. Für die Literatur scheint mehr die Speicherung von akustischen Signalen, wie sie durch die Erfindung des Fonografen und später der Schallplatte möglich wurde, ein Moment der Herausforderung gewesen zu sein. Jedenfalls ist es auffällig, mit welcher Akribie die Autoren des ‚konsequenten‘ Naturalismus an die Nachbildung mündlicher Rede sowie von Tönen und Geräuschen gegangen sind.

Veränderung der Wahrnehmung

Alles in allem reagiert die Literatur des Naturalismus eher indirekt auf die Entwicklung technischer Bild- und Tonaufzeichnungsapparaturen. Dies hängt damit zusammen, dass die tiefgreifende Veränderung der Medienlandschaft, wie sie sich im späten 19. Jahrhundert ereignete, ihrerseits im Kontext allgemeiner mentalitätsgeschichtlicher Umbruchprozesse stattfand. In Gang gesetzt wurden sie u.a. durch Neuerungen in Verkehrs- (Eisenbahn) und Kommunikationstechnik (Telegraf), welche die durch die Verzeitlichung der Wissensbestände bewirkte Akzeleration aller Erfahrungsbereiche machtvoll vorantrieben. Berthold Litzmann geht sicher nicht fehl, wenn er das Aufkommen naturalistischer Ästhetik in den Zusammenhang des von der allumfassenden Temporalisierung induzierten Wandels der Verarbeitung von Sinnesreizen stellt:

Wer hatte vor vierzig Jahren eine Ahnung davon, mit welcher Geschwindigkeit das ganze moderne Verkehrsleben mit seiner alle Nerven anspannenden und reizenden hemmungslosen Unruhe das Nervensystem der heranwachsenden Generationen in einen Zustand dauernder Überreizung, einer Hyperästhesie in Bezug auf alle psychischen Einwirkungen versetzen würde […]. Die Fülle von wechselnden sinnlichen Eindrücken, die ohne große Mühe ein Mensch unserer Tage in sich aufnehmen kann und aufnimmt, ist im Vergleich zu dem verhältnismäßig spärlichen Vorrat, mit dem der Durchschnitt noch bis in die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts sich begnügte, überwältigend.

Diese Masse der Eindrücke wirkt aber auch belebend, anregend auf die Schärfe und Genauigkeit der Beobachtung.

Der moderne Mensch […] wird dadurch, daß ihm, im Gegensatz grade zu der bisherigen Entwickelung der modernen Kultur, viel mehr und viel mannigfaltigere Eindrücke durch Auge und Ohr in natura vermittelt werden, nicht nur durchweg das Charakteristische der sinnlichen Erscheinungen viel schneller und schärfer fassen und festhalten […], sondern er wird auch, wenn er diese Eindrücke dichterisch verwerten will, ein ungleich größeres Bedürfnis nach sinnlicher Anschaulichkeit, nach korrekter Wiedergabe empfinden als der Buchmensch. Ja er wird in dem Bestreben, das natürliche Bild so treu, so sinnlich wie möglich wiederzugeben, häufig zu so drastischen, so gewagten raffinierten Ausdrucksmitteln greifen, daß dem hieran nicht gewöhnten Durchschnittsleser mit […] weniger entwickelter Beobachtungsgabe für einen großen Teil der hier geschilderten Nüancen der Sinneswahrnehmung das Organ zur Aufnahme, zum Verständnis fehlt.

Es ist kein Zufall, daß dieser Drang zum Naturalismus sich grade jetzt auf allen Gebieten des künstlerischen Schaffens regt. Es ist das in diesem Falle nicht nur eine durch den Widerspruchsgeist hervorgerufene Reaktion gegen die Stilisierung und Idealisierung der natürlichen Dinge […], sondern mindestens ebenso sehr die physiologische Folge der durch die eigentümlichen Kulturbedingungen der neuesten Zeit gesteigerten Reizbarkeit unserer Sinnesorgane. (Litzmann 1894, 128f.)

Ansätze von Intermedialität

Obgleich Litzmann aus heutiger Sicht mediengeschichtlich naiv argumentiert und nicht jeder Schritt seiner Beweisführung überzeugt, wird hier auf einen Nexus hingewiesen, der nicht aus den Augen gelassen werden sollte. Gewöhnlich hat man nämlich die wahrnehmungspsychologischen, mediengeschichtlichen und epistemologischen Umbrüche der Klassischen Moderne erst mit den nach- und gegennaturalistischen Strömungen der Zeit um 1900 in Verbindung gebracht. Es gilt freilich künftig verstärkt anzuerkennen, dass diese epochalen Krisenerfahrungen ihrerseits eine Entwicklungsgeschichte haben, und im Rahmen dieser Genealogie kommt dem Naturalismus eine bedeutendere Rolle zu, als man bislang angenommen hat. Lediglich markante Formen von Intermedialität, wie sie für die Literatur der Jahrhundertwende und dann besonders für die literarischen und künstlerischen Avantgardebewegungen kennzeichnend sind, begegnen im Naturalismus noch nicht. Dafür werden Möglichkeiten ausgelotet, wie weit Sprache Realität zu imitieren bzw. zu simulieren vermag. Im Bereich der Dramatik finden sich sogar gewisse Ansätze, die traditionellen Grenzen der Künste im Hinblick auf die Wiedergabe einer Totalität von Sinneseindrücken hin zu überschreiten. So verlagert sich der Darstellungsfokus vom Dialog weg hin zum nonverbalen bzw. halbsprachlichen Ausdruck. Vor allem Gestik und Mimik – also Formen der Körpersprache –, aber auch Seufzen, Stöhnen oder Weinen – Formen nonverbaler Lautlichkeit – sowie Stammeln und Lallen – Formen halbsprachlicher Artikulation – erhalten ein bislang ungekanntes Gewicht. Dies kann so weit gehen, dass sich das eigentlich Wichtige nicht mehr in Worten artikuliert. Neben den körperbetonten Laut- und Gestenzeichen erhalten auch Geräusche eine völlig neue Bedeutung für das Geschehen, das gerade stattfindet. Außerdem greifen manche dramatische Werke des Naturalismus erkennbar über die Schrift als Notationssystem hinaus: Indem sie die wichtigsten Bestandteile des Bühnenbilds grafisch mithilfe einer Lageskizze veranschaulichen (Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, Hermann Sudermanns Die Ehre, Elsa Bernsteins Dämmerung), integrieren sie optische Elemente in die Literatur, und indem sie musikalische Noten in den Text einfügen (Elsa Bernsteins Dämmerung, Otto Erich Hartlebens Rosenmontag, Emil Rosenows Kater Lampe), verweisen sie auf eine akustische Ebene jenseits des gesprochenen Worts. In beiden Fällen entstehen Medienkombinationen. Das einzelne Theaterstück ist nun nicht mehr bloß die Partitur, die in szenische Aktion umzusetzen ist, sondern es erhält ein Eigenrecht als multimedialer Drucktext, der mehr Informationen enthält als jede Inszenierung bieten kann.

4. Literarische Muster aus dem Ausland: Émile Zola, Henrik Ibsen, Lev Tolstoi

Kulturtransfer aus dem europäischen Ausland

Auch wenn sich die naturalistische Bewegung in Deutschland als betont nationale Erscheinung ausgab, bezog sie doch entscheidende Impulse aus dem europäischen Ausland. Schärfer gesagt: Ohne Kulturtransfer aus Frankreich und Skandinavien wäre der deutsche Naturalismus überhaupt nicht denkbar. Zwar ist sein künstlerischer Reformwille zweifellos eine Reaktion auf die spezifischen Gegebenheiten des deutschen Literatursystems der siebziger und achtziger Jahre, doch stammen sowohl die ästhetischen Leittheorien als auch die literarischen Vorbildtexte, die zur Entstehung einer eigenständigen Strömung innerhalb der bereits bestehenden Diskursformation ‚Realismus‘ führten, jeweils aus fremden Kulturen.

Frankreich: Emile Zola

Zola fungierte in diesem Zusammenhang als eigentlicher Wegbereiter, da er als erster offensiv ein naturalistisches Kunstprogramm vertrat. Seine besondere Wirkung bei den Zeitgenossen resultiert daraus, dass die ästhetische Reflexion bei ihm begleitet war von einem äußerst fruchtbaren literarischen Schaffen, wodurch Theorie und Praxis gewissermaßen Hand in Hand gingen und sich wechselseitig beglaubigten. Naturalismus verstand Zola primär als „Anwendung der experimentellen Methode auf das Studium der Natur und des Menschen“ (Zola 1904, 51). Aufgabe der Literatur sei es, analog wie die Naturwissenschaft zu verfahren und mit den Mitteln der Fiktion eine genau definierte Versuchsanordnung zu generieren. Der naturalistische Autor gibt also seine angestammte Funktion als Erfinder imaginierter Geschehnisse auf und wird zu einem Experimentator, der gezielt anthropologisches bzw. soziologisches Wissen sammelt und künstlerisch konstelliert. Da er dabei die Untersuchungsobjekte, die er analysieren will, selbst bestimme und modelliere, gehe seine Tätigkeit über die eines bloßen Beobachters hinaus, wodurch der Schriftsteller dem Fotografen überlegen sei. Begründet und im einzelnen ausgefaltet hat Zola sein – auf Claude Bernards Introduction à l’étude de la médecine expérimentale (1865) rekurrierendes – Konzept in der Abhandlung Le roman expérimental (1880). Dass es gerade der Roman ist, der ihm als Muster für die Explikation seiner Thesen dient, kann nicht verwundern angesichts der Tatsache, dass dieses Genre auf Grund seiner formalen Unbestimmtheit größtmögliche Gestaltungsfreiheit bietet und sich zugleich in besonderem Maße für die Darstellung individueller Entwicklungsprozesse wie für die Beschreibung kollektiver Handlungsdynamiken eignet. Gleichwohl sah Zola prinzipiell auch die übrigen Hauptgattungen der Literatur als mit der neuen Darstellungsweise kompatibel an. Voller Zuversicht erklärte er: „[…] ich lebe […] in der festen Überzeugung, dass die Methode […] überall, auf dem Theater und sogar in der Poesie triumphieren wird. Es ist eine Entwicklung voller Notwendigkeit.“ (Zola 1904, 62)

Determinismus

Die Anwendbarkeit des experimentellen Verfahrens im Bereich der Literatur beruht indes auf Basisprämissen, welche die Attraktivität und Glaubwürdigkeit des Theoriegebäudes vielfach beeinträchtigt haben. Ebenso wie Bernard nimmt nämlich auch Zola „einen absoluten Determinismus in den Existenzbedingungen der natürlichen Erscheinungen“ (Zola 1904, 9) an. „Determinismus“ meint bei Zola allerdings nur durchgängige Kausalität, nicht aber Vorbestimmtheit des Geschehens, deshalb grenzt er sich vom sog. Fatalismus ab: „Der Fatalismus setzt das notwendige Eintreten einer Erscheinung unabhängig von ihren Bedingungen voraus, während der Determinismus die notwendige Bedingung einer Erscheinung ist, deren Eintreten nicht gezwungen ist.“ (Zola 1904, 36) Da der Kausalnexus, den Zola konstruiert, aber so lückenlos sein soll, dass er zuverlässige Prognosen über das Handeln einzelner Personen ermöglicht, ist er faktisch von einem fatalistischen Determinismus kaum zu unterscheiden. Vorschub leistet einer solchen Ansicht nicht zuletzt das pessimistische Menschenbild des Autors, das streckenweise stark an den Materialismus des 18. Jahrhunderts erinnert. So versteht Zola das einzelne Subjekt ganz wie der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie als „tierische Maschine“ (Zola 1904, 35). In jedem Fall stellt Zolas skeptische Anthropologie eine wesentliche Stütze seines Theoriemodells dar, liefert doch erst die rigorose Rückführung menschlichen Handelns auf physiologische Prozesse bei konsequenter Ausschaltung metaphysischer Erklärungsprinzipien die Voraussetzung für dessen wissenschaftliche Analysierbarkeit.

„Experimentalroman“

Das Konzept des Experimentalromans ist fraglos der greifbarste Niederschlag, den der Versuch, die Literatur auf wissenschaftlicher Basis neuzubegründen, gefunden hat. Es geht Zola hierbei darum, mit ästhetischen Mitteln eine Versuchsanordnung zu generieren, die Rückschlüsse auf die Handlungsweise des Menschen zulässt und auf diese Wese seine Verhaltensprägungen und verborgenen Antriebskräfte offenlegt:

Kurz, das ganze Verfahren besteht darin, dass man die Tatsachen der Natur entnimmt, dann den Mechanismus der Tatsachen studiert, indem man durch die Modifikationen der Umstände und Lebenskreise auf sie wirkt, ohne dass man sich je von den Naturgesetzen entfernt. Am Ende hat man die Erkenntnis, die wissenschaftliche Erkenntnis des Menschen in seiner individuellen und sozialen Betätigung. (Zola 1904, 15)

Les Rougon-Macquart

Eine entscheidende Rolle für das Gelingen des – fiktional simulierten – Experiments spielen die exakte Festlegung des Milieus, der Zeitumstände und der Abstammung der handelnden Figuren, denn durch eine Änderung der Ausgangsbedingungen lässt sich der Ablauf des Geschehens natürlich entsprechend verändern. Praktisch umgesetzt hat Zola seine Theorie in dem 20-bändigen Romanzyklus Les Rougon-Macquart (1871–91), der das Schicksal einer Familie und ihrer Nachkommen vor dem Hintergrund ihrer Zeit vorführt. Das Werk trägt den bezeichnenden Untertitel „Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le second empire“. Die bekanntesten Teile dieses Werkkomplexes sind Le Ventre de Paris (1873 – Der Bauch von Paris), L’Assommoir (1877 – Die Schnapsschenke bzw. Der Totschläger), Nana (1880) und Germinal (1885). Besonders die Unverblümtheit, mit welcher Zola in den einzelnen Texten tabuisierte Themen wie Massenarmut, Fabrikarbeit, Prostitution oder Kriminalität aufgriff und literarisch gestaltete, ließ ihn zu einer zentralen und ob der Krassheit seiner Darstellungsweise sehr kontrovers diskutierten Bezugsfigur für die naturalistischen Schriftsteller in Deutschland werden.

Thérèse Raquin

Daneben spielt für die Wahrnehmung Zolas im deutschen Naturalismus vor allem der frühe Roman Thérèse Raquin (1867) eine herausragende Rolle, in dessen Mittelpunkt ein aus sexueller Leidenschaft begangener, aber minutiös geplanter und kaltblütig ins Werk gesetzter Mord steht, wobei das eigentliche Darstellungsinteresse den persönlichen und sozialen Umständen, die zu dieser Tat führen, gilt. Es werden hier nüchtern und mit akribischer Präzision die Genese und die Folgen eines – unentdeckt bleibenden – Kriminalfalls beschrieben. Der Autor umreißt seine Absicht bei der Konzeption dieses Textes folgendermaßen:

In Thérèse Raquin wollte ich Temperamente studieren […]. Ich habe Personen gewählt, die unumschränkt von ihren Nerven und ihrem Blute beherrscht werden, die sich nicht im Besitz ihres freien Urteilsvermögens befinden und bei jeder Handlung in ihrem Leben dem verhängnisvollen Einfluß ihrer körperlichen Triebe unterliegen. Thérèse und Laurent [ – die beiden Protagonisten – ] sind Menschentiere […]. Ich habe versucht, in diesen Tieren das dumpfe Werk der Leidenschaften Schritt für Schritt zu verfolgen […]. […] Ich habe ganz einfach die analytische Arbeit an zwei lebenden Körpern vorgenommen, wie sie Chirurgen an Leichen vornehmen. (Zola 1982, 6)

Der Text wirkte nicht zuletzt deshalb auf die Zeitgenossen so provozierend, weil der Erzähler darin die Rolle eines unbeteiligten Beobachters einnimmt, der – wie ein Wissenschaftler – ohne jede moralische Entrüstung nur protokolliert, was vorgeht. Zola charakterisierte seinen Roman deshalb auch als „Studie eines seltsamen physiologischen Falls“ (Zola 1982, 6). Und genau diese distanziert-analytische Haltung gegenüber dem dargestellten Gegenstand war es, die für die kürzere Erzählprosa des deutschen Naturalismus stilprägend wurde. So wählte Hermann Conradi für seinen Band Brutalitäten (1886) den Untertitel „Skizzen und Studien“, John Henry Mackay verstand die Texte seiner Sammlung Schatten (1887) als „Novellistische Studien“ (1887), denselben Gattungsnamen wählte Gerhart Hauptmann dann auch für seine Erzählung Bahnwärter Thiel (1888), und das Autorengespann Arno Holz und Johannes Schlaf veröffentlichte die experimentelle Dialoggeschichte Die papierne Passion (Olle Kopelke) (1890) mit zusätzlicher lokaler Präzisierung als „Eine Berliner Studie“. Zolas Einfluss beschränkte sich freilich nicht auf das Genre des Romans. Obgleich er kein eigentlicher Dramenautor war, stellte er doch von einigen seiner Prosatexte Bühnenfassungen her – wohl wissend um die Zugkraft dieses Mediums. Die Umarbeitung des Romans Thérèse Raquin zu einem Theaterstück und dessen publikumswirksame Uraufführung im Jahr 1873 führte beispielhaft vor, welchen Effekt die naturalistische Darstellungstechnik auf der Bühne zu entfalten vermag. In Deutschland konnte man sich davon im Juni 1887 überzeugen, als die Dramenfassung von Zolas Roman in der Reichshauptstadt gezeigt wurde. Johannes Schlaf äußerte später rückblickend über dieses Theatererlebnis: „Ein Ereignis von größter Wichtigkeit war damals für mich eine Aufführung der Therese Raquin, […] die den Keim zu dem naturalistischen Drama in mich legte, wie ich es dann später […] mit Arno Holz […] entwickelte.“ (Schlaf 1901/02, 1390) Wie sehr gerade die Bühnenfassung von Zolas Roman als Schlüsselwerk für die naturalistische Dramatik in Deutschland angesehen werden muss, belegt auch der Umstand, dass sie wenig später auch in das Repertoire des Vereins ‚Freie Bühne‘ aufgenommen und am 3. Mai 1891 erneut in Berlin gespielt wurde. Zola setzte den theoretisch formulierten Anspruch, den Geltungsbereich des Naturalismus über den Bereich der Narrativik hinaus auszuweiten, mithin selbst mit Erfolg in die Tat um. Im übrigen ließ er seiner Programmschrift über den Experimentalroman eine Abhandlung über den Naturalisme au théâtre (1881) folgen.

Skandinavien: Henrik Ibsen

Von Zolas Werk gingen auch Impulse auf die Dramenproduktion jenes Autors aus, der als zweiter wichtiger ausländischer Prägefaktor für die naturalistische Bewegung in Deutschland fungierte: Henrik Ibsen. Gewisse Parallelen zwischen den Werken beider nahmen bereits die Zeitgenossen wahr. So wies etwa Otto Brahm auf die „Ähnlichkeit der Therese Raquin mit Rosmersholm im Stoff wie in der ethischen Grundidee“ (Brahm 1913, Bd. 1, 140) hin und vertrat die Ansicht, dass die Behandlung des Themas Vererbung in den Gespenstern „wohl von Zola berührt worden“ (Brahm 1913, Bd. 1, 76) sei. Solche Übereinstimmungen erklären sich freilich vor allem dadurch, dass Ibsen ebenso wie sein französischer Kollege wichtige Anregungen aus der Philosophie des Positivismus bezogen hat, die ihm von dem befreundeten Literaturwissenschaftler und Kritiker Georg Brandes, dem „eifrigsten Vorkämpfer Hippolyte Taines“ „in den skandinavischen Ländern“ (Bernhardt 1968, A 28), nahegebracht wurde. So bezeichnet Ibsen Taines Schriften bereits in einem Brief vom 22. Dezember 1868 als „eine wahre Goldgrube“ (Ibsen o.J. [1898–1904], Bd. 10, 446, Anm. 49).

Gesellschaftskritik

Im Unterschied zu Zola hat Ibsen aber nie ein eigenes Literaturprogramm entworfen. Gleichwohl decken sich seine künstlerischen Leitthemen auf weite Strecken mit den Anliegen der naturalistischen Bewegung. Hier wie dort ist das Streben nach ‚Wahrhaftigkeit‘ oberstes Ziel – in dem epigrammatischen Gedicht Ein Vers wird literarisches Schreiben denn auch charakterisiert als „Gerichtstag halten/Über sein eignes Ich“ (Ibsen o.J. [1898–1904], Bd. 1, 167) –, mit dem eine Absage an alle Formen verklärender Darstellung und die Forderung einer ungeschönten Wiedergabe der Wirklichkeit einhergeht. Dies wiederum legitimiert die Thematisierung als schockierend empfundener Phänomene (Selbstmord, Alkoholismus, Inzest, Infizierung mit Geschlechtskrankheiten) und die Aufdeckung sozialer Missstände. Dementsprechend erklärt der Autor in einem Brief an Brandes vom 15. Juli 1869: „für uns kann selbst das formal Unschöne schön sein, kraft der in ihm wohnenden Wahrheit“ (Ibsen o.J. [1898–1904], Bd. 10, 128). Die größte Konvergenz mit den Maximen des Naturalismus weisen die Stücke der späten siebziger und frühen achtziger Jahre auf. Zu ihnen gehören Samfundets støtter (1877 – Die Stützen der Gesellschaft), Et dukkehjem (1879 – Nora oder Ein Puppenheim), Gengangere (1881 – Gespenster) und En folkefiende (1882 – Ein Volksfeind). Gerade in Deutschland hat sich die Ibsen-Rezeption im Umkreis des Naturalismus stark auf diese Texte konzentriert. Ihnen reihen sich noch Vildanden (1884 – Die Wildente) und Rosmersholm (1886) an.

Muster des analytischen Dramas

Faktisch hat Ibsen auf mehreren Ebenen auf den deutschen Naturalismus eingewirkt. Zunächst hat er das Spektrum der bevorzugten Themen beeinflusst und entscheidend dazu beigetragen, dass bislang tabuisierte Wirklichkeitsbereiche zur literarischen Darstellung gelangten. Da dies aber jener Bereich ist, in dem sich seine Gestaltungsintentionen am deutlichsten mit denen Zolas berühren, bleibt hier seine eigene Anregerfunktion diffus. Allenfalls die Ansiedlung der Handlung im sozialen Milieu des gehobenen Bürgertums und die Fokussierung des Sozialraums Familie als Ort von Konflikten ließen sich hier als Spezifika Ibsens nennen. Sehr viel direkter erkennbar sind seine Einflüsse im Hinblick auf Dramaturgie, Figurenzeichnung und Sprachgestaltung. So waren es die Stücke des norwegischen Autors, die das Handlungsschema des analytischen Dramas, das dadurch charakterisiert ist, dass entscheidende Vorkommnisse dem auf der Bühne gezeigten Geschehen zeitlich vorausliegen und erst im Verlauf der Handlung aufgedeckt werden, zum prägenden Textmodell des naturalistischen Theaters in Deutschland haben werden lassen. Im Zusammenhang mit dieser Form der Darbietung hat Ibsen ein bis dahin reichlich unspezifisches Rollenmuster neu akzentuiert und zu einem eigenständigen Figurentyp weiterentwickelt: den „Boten aus der Außenwelt“ nämlich, der gleichfalls zu einer feststehenden Größe in den Dramentexten des deutschen Naturalismus wird. Im Grunde werden unter diesem Begriff einige dramatische Funktionsträger subsumiert, die in der Bühnentradition altbekannt sind, darunter der „Heimkehrer nach langjährigem Fernsein“ (Markwardt 1967, 26) (Wilhelm Scholz in Gerhart Hauptmanns Das Friedensfest), der Gast bzw. Besucher (Alfred Loth in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang) oder auch eine Person, die Hilfe leistet (die Augenärztin Sabine Graef in Elsa Bernsteins Dämmerung). Auf Grund des sehr heterogenen Rollenspektrums dieser Gestalt, aber auch weil sie – anders als der Name suggeriert – kein eigentlicher Überbringer von Nachrichten ist, sollte man statt von einem „Boten aus der Fremde“ (Bleich 1936) entweder von einem „Ankömmling“ (Meyer 1912, 580) oder besser noch von einer Katalysatorfigur sprechen. Ihre Spezifik erhält sie im naturalistischen Drama dadurch, dass es sich hier jeweils um eine zu einem feststehenden Figurenensemble hinzutretende Person handelt, die von ihrer Herkunft, ihrer Sozialisation oder ihrem Bildungsstand her in einem Kontrastverhältnis zu den übrigen Akteuren steht und deren Anwesenheit eine Veränderung im Geschehensablauf bewirkt. Es ist also eine Figur, die auf Grund ihrer Differenzqualität als Störquelle fungiert und so zum Handlungsauslöser in einer bis dato statischen Situation wird:

Angewandt auf das organische System der zwischenmenschlichen Beziehungen wird […] durch die Einführung eines neuen Teiles in die Personengruppierung das Verhältnis aller Teile zueinander geändert. Diese Änderung wird umso radikaler in Erscheinung treten, je unmittelbarer eine Person mit dem zu verändernden Kreis in Verbindung steht, andererseits aber auch, je extremer die ideelle und persönliche Haltung des Hinzukommenden ist. Das naturalistische Drama, das den Gesamtzustand eines Wirklichkeitsausschnittes geben wollte, ohne dramatische Entwicklungen, die sich aus zugespitzten geistigen oder persönlichen Gegensätzen ergaben, unmittelbar wirksam werden zu lassen, fand in dem Boten aus der Fremde die geeignete Möglichkeit, das statische Element der ausschließlichen Wirklichkeitsschilderung […] zu zerstören und trotz möglichster Einhaltung naturalistischer Prinzipien eine dramatische Entwicklung zu erhalten. (Bernhardt 1968, 163)

Die Katalysatorfigur

Außerdem können mithilfe einer solchen Figur die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart beobachtet werden. Die Katalysatorfigur des naturalistischen Dramas, die temporär Bestandteil der Handlung wird, dient mithin einer „Analyse des Milieus“: Sie „ist gleichsam das Reagenzmittel, das die chemischen Bestandteile erkennen läßt, all jene Verbindungen des Milieus, die unter […] [ihrer] Einwirkung bald in voller Auflösung begriffen sind, vor allem aber nun erst voll sichtbar werden“ (Markwardt 1967, 120).

Doch Henrik Ibsen hat nicht nur einen von seiner Funktion her neuen Figurentyp kreiert, er hat auch die Gestaltung der dramatis personae insgesamt merklich verändert. Wesentlich stärker als bislang in der Dramentradition werden Figuren nun durch ihren Habitus und ihr nonverbales Verhalten charakterisiert. Von geradezu bestimmender Bedeutung für ihr Denken und Fühlen wird das sozialräumliche Ambiente um sie herum:

The scenic representation of the influence of tradition on personality was achieved by Ibsen through a detailed description of the décor. Besides Wagner and Grillparzer, no German dramatist had paid such meticulous attention to stage directions, nor realized their possibilities as figurative exteriorizations of personal characteristics. (George 1967, 137)

Zur Rolle der Bühnenanweisungen

Da Ibsen die Schauplätze der Handlung als bewusstseinsprägendes Milieu versteht, verwendet er große Sorgfalt auf ihre genaue Schilderung. Vor allem das private Wohninterieur ist dazu geeignet, einen präzisen Einblick in die Lebensumstände der agierenden Personen zu vermitteln. Viele Dramen Ibsens enthalten deshalb ausführliche Bühnenanweisungen. Die damit verbundene Aufwertung der Regiebemerkungen wird von den deutschen Naturalisten direkt übernommen und vor allem in den von Arno Holz und Johannes Schlaf gemeinsam verfassten Texten soweit gesteigert, dass die Bühnenanweisungen geradezu narrative Züge entfalten und in Umfang und Bedeutung gleichberechtigt neben den dramatischen Dialog rücken. Aber auch in diversen Aspekten der Sprachgestaltung selbst hat Ibsen maßgebende Standards gesetzt. So verbannte er mit dem Monolog und dem Beiseitesprechen zwei bis dahin selbstverständliche Gestaltungselemente aus dem Drama. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Beide widersprechen den Plausibilitätsanforderungen einer realistisch-lebensnahen Darstellungsweise. Dem Ziel, ein wiedererkennbares Modell der Wirklichkeit auf der Bühne zu entwerfen, dient auch der Verzicht auf die Versform. Ibsen, der seine frühen Dramen noch in gebundener Sprache verfasst hatte, verabschiedete sich Anfang der siebziger Jahren endgültig von dieser Vertextungsweise, weil der Vers im Drama „die Illusion der Wirklichkeit“ (Ibsen o.J. [1898–1904], Bd. 10, 223) behindere und nur die „schlichte, wahre Wirklichkeitssprache“ (Ibsen o.J. [1898–1904], Bd. 10, 325) der Prosa auf dem Theater glaubwürdig erscheine.

Stationen der Ibsen-Rezeption

Die Ibsen-Rezeption in Deutschland verlief anfangs relativ schleppend. Erst mit der 1878 erfolgten Aufführung des Stücks Stützen der Gesellschaft, das Anfang des Jahres in einem Zeitraum von nur „zwei Wochen an fünf Berliner Theatern“ gespielt wurde, erlebte der norwegische Autor hierzulande seinen „Durchbruch“ (George 1968, 18). Welch nachhaltigen Eindruck diese Inszenierungen bei einigen Vertretern der jungen Generation hinterließen, belegen zahlreiche Zeugnisse. Otto Brahm etwa meinte, er und Paul Schlenther hätten durch die Aufführung am Berliner Stadttheater „die erste Ahnung einer neuen poetischen Welt“ (Brahm 1913, Bd. 1, 448) empfangen. Und Schlenther bemerkt, „daß unter dem Einfluß dieser modernen Wirklichkeitsdichtung zur entscheidenden Lebenszeit in uns diejenige Geschmackslinie entstand, die fürs Leben entschieden hat“ (Ibsen o.J. [1898–1904], Bd. 6, XVIII). Man kann daher verallgemeinernd sagen: „Die ersten Erfolge Henrik Ibsens in Deutschland und die beginnende Programmierung des Kampfes gegen die herrschende epigonale Literatur verliefen parallel zueinander.“ (Bernhardt 1968, 112) Gleichwohl dauerte es noch geraume Zeit, bis seine Stücke auch zum ästhetischen Modell der deutschen Naturalisten wurden. Vor allem in der Münchner Fraktion um Michael Georg Conrads Zeitschrift Gesellschaft wurde stets Zola favorisiert. Und so bedurfte es abermals einer Inszenierung in Berlin, um Ibsen zum zentralen Bezugspunkt für die junge Generation von Autoren werden zu lassen. Anstoß für diese neue Phase der Rezeption war eine Aufführung der Gespenster, die am 9. Januar 1887 in Berlin stattfand. Welche Wirkung Stück und Inszenierung hatten, geht aus einem Tagebucheintrag Hauptmanns hervor, wo es heißt: „Die Vorstellung von Gespenster im Residenztheater zeigte mir das wiedererstandene Theater.“ (Hauptmann 1963, 196) Brahm schreibt: „Das Datum dieser Aufführung, der 9. Januar 1887, bedeutete den endgültigen Zusammenbruch der Epigonentragödie und der Franzosennachahmer“ (Brahm 1913, Bd. 1, 460). Und Julius Hoffory konstatiert kurzerhand: „Heute beginnt eine neue Epoche der deutschen Literatur.“ (zit. nach Kerr 1907, 31) In der Folgezeit kam es dann zu einer dichten Folge von Ibsen-Aufführungen, besonders in der Reichshauptstadt: Ein Volksfeind und Rosmersholm 1887, Die Wildente, Frau Inger [auf Östrot] und Nora oder Ein Puppenheim 1888, die Frau vom Meer, Stützen der Gesellschaft und abermals Gespenster 1889.

Russland: Lev Tolstoi

Als dritter Einflussfaktor neben Zola und Ibsen muss schließlich Lev Tolstoi genannt werden, der freilich weniger durch seine Erzählprosa als vielmehr durch sein Die Macht der Finsternis (1886) betiteltes „dramatisches Sittenbild aus dem russischen Volksleben“ auf die deutschen Schriftsteller im Umkreis des Naturalismus einwirkte. Dieses Stück, das 1887 erstmals in deutscher Übersetzung erschien, wurde am 26. Januar 1890 von der Berliner ‚Freien Bühne‘ aufgeführt. Tolstoi vertritt – zumindest in Teilbereichen – „eine dem deutschen Naturalismus verwandte Auffassung“ (Kersten 1966, 12) von der Funktion der Kunst. In seinen Texten praktiziert er eine Darstellungsmethode exakter Wirklichkeitsbeschreibung, die er „melocnost‘“ nannte und die vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass sie auf sprachliche Schmuckformen völlig verzichtet. Daneben verbindet ihn aber auch die Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung mit den Naturalisten. In Die Macht der Finsternis liefert er eine desillusionierende Darstellung des Lebens der unteren sozialen Schichten und greift in diesem Zusammenhang viele der Themen auf, denen man in Zolas Texten begegnet: Alkoholismus, Gewalttätigkeit bis hin zur Kindstötung und psychische Zerrüttung mit degenerativen Zügen. Es war aber wohl die Ansiedlung des Geschehens im bäuerlichen Milieu, die das Stück vielen deutschen Schriftstellern besonders naherückte. Während Zolas Romane meist im Ambiente der Großstadt angesiedelt sind, dementsprechend Fabriken, Markthallen oder Kaufhäuser zu Handlungsorten haben, und Ibsens Dramen sich fast ganz im Rahmen bürgerlicher Kreise abspielen, erschließt Tolstoi mit den verarmten Bauern in der von der ökonomischen und kulturellen Entwicklung abgehängten ländlichen Provinz einen sozialen Raum, der bis dato fast völlig von der literarischen Darstellung ausgeschlossen war.

Die Macht der Finsternis

Obgleich die Wirkung des russischen Autors insgesamt gesehen nicht mit der seines französischen und norwegischen Kollegen gleichgestellt werden kann, haben seine Texte doch bei mehreren Naturalisten in Deutschland einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Hauptmann bekannte in einem undatierten Brief an Emil Reich nicht nur: „Eine Revolution meiner normalen Entwicklung vollzog sich, als ich Tolstois Macht der Finsternis kennen lernte“ (zit. nach Heuser 1961, 20), in einem Schreiben an Holz und Schlaf von Anfang 1889 empfahl er das Drama ausdrücklich als gelungenes Beispiel für die Handhabung eines „naturalistischen Dialogs“ (zit. nach Berthold 1967, 229). Und in einer Tagebuchnotiz heißt es resümierend:

[…] endlich stellten mir Ibsen und Tolstoi vor die Augen, was ich in fernster Zukunft nur erreichbar glaubte. – Unter ganz ungeheurem Staunen ließ ich die Vorstellungen der Gespenster auf mich wirken, mit Bewunderung verfolgte ich daheim den unbegreiflich feinen und natürlichen Dialog.

Dann kam Tolstoi mit Macht der Finsternis. Dies Drama tat mir den Zugang zum Leben noch weiter auf. (Hauptmann 1963, 196f.)

Für Heinrich Hart war Macht der Finsternis gar „das bedeutendste und gewaltigste Drama der Neuzeit“ (H. Hart 1890, 91).

Natürlich haben im Einzelfall weitere Autoren aus dem Ausland dem deutschen Naturalismus Impulse vermittelt. Allerdings reicht weder der Einfluss von Bjørnsterne Bjørnson noch der von Fjodor Dostojevski, um nur zwei davon zu nennen, annähernd an die Wirkung heran, welche Zola, Ibsen und Tolstoi ausgeübt haben. Im Hinblick auf die Vorbildfunktion fremdkultureller literarischer Muster kann man jedenfalls von einer Einflusstrias sprechen. Arno Holz hat sie bereits 1886 in seinem im Buch der Zeit (1886) enthaltenen Gedicht Zwischen alt und neu benannt:

Zola, Ibsen, Leo Tolstoi,
Eine Welt liegt in den Worten,
Eine, die noch nicht verfault,
Eine, die noch kerngesund ist!
(Holz 21892, 305 und 309)

5. Ästhetische Bezugspunkte in Deutschland

Rekurs auf Vorläufer bewegungen

Noch bevor die literarischen Muster aus dem europäischen Ausland in größerem Umfang rezipiert wurden, fand eine gezielte Bezugnahme auf deutschsprachige Vorbilder statt. Dieser legitimierende Rückgriff ereignete sich vor allem während der Konstitutionsphase des Naturalismus, als die Bewegung noch stark nationalpatriotisch orientiert war. Der Rekurs auf ausgewählte Strömungen und Gestaltungsweisen der deutschen Literaturgeschichte hatte dabei einen doppelten Zweck, sollte doch auf diese Weise nicht nur der Aufweis einer eigenen Schreibtradition jenseits der als rückwärtsgewandt empfundenen Kunstprogramme von Klassik und Romantik erbracht werden, sondern auch eine selbstbewusste Absetzung von den aktuellen literarischen Tendenzen der Nachbarländer erfolgen. Beides diente der Begründung eines autochthonen deutschen Wegs zur Moderne.

Selbstinszenierung als Jugendbewegung

Als zentrale Bezugsgrößen fungierten in diesem Zusammenhang zwei literarische Gruppierungen, die vor allem miteinander gemeinsam haben, dass sie von der Altersstruktur ihrer Trägerschicht und auf Grund ihrer Selbstinszenierung als Jugendbewegungen anzusehen sind: der Sturm und Drang und das Junge Deutschland. Der deutsche Naturalismus steht direkt in dieser Filiationslinie und ist damit ein gutes Beispiel für den u.a. von Pierre Bourdieu beschriebenen Funktionsmechanismus, wonach in der Moderne jeweils von einer Generation nachwachsender Autoren getragene ästhetische Paradigmenwechsel die Evolution der Kunstentwicklung entscheidend prägen. Der Sturm und Drang sowie das Junge Deutschland waren beide sozialkritisch akzentuierte literarische Protestbewegungen einer jungen Generation von Autoren, die gegen die Ästhetik der jeweiligen Vätergeneration gerichtet waren – im einen Fall gegen die Regelpoetik der Aufklärung und den künstlerischen Spielcharakter der Rokokodichtung, im anderen Fall gegen den Klassizismus und die apolitische Haltung der ‚Kunstperiode‘ (Heine). Die Programme der zwei Strömungen differieren jedoch erheblich voneinander. Insofern ist es durchaus bezeichnend für den Selbstfindungsprozess der naturalistischen Bewegung, dass sie zunächst auf den Sturm und Drang rekurrierte und erst im Lauf der Zeit das Junge Deutschland als weitere Bezugsoption entdeckte.

Rolle des Sturm und Drang

Was die Frühnaturalisten mit den Autoren des Sturm und Drang verband, war in erster Linie die Überzeugung, am Anfang einer neuen Ära zu stehen. Leitet die Geniebewegung den Beginn der Autonomieästhetik ein, durch welche die Makroperiode Moderne in Gang gesetzt wird, so markiert der Naturalismus den Übergang zu ihrer zweiten Phase, der sog. Klassischen Moderne. Von daher wird es nicht nur verständlich, dass sich die Vertreter des Naturalismus in den Schriftstellern des Sturm und Drang wiederzuerkennen meinten, sondern auch dass sie – mindestens teilweise – deren künstlerische Verfahrensweisen übernahmen. Das zentrale Anliegen des Sturm und Drang, das darin bestand, das normative Dichtungsverständnis der Aufklärung hinter sich zu lassen und den rigiden Kanon vorgegebener Vertextungsregeln aufzusprengen, erhielt jedenfalls vor dem Hintergrund der an den obsolet wirkenden Mustern von Klassik und Romantik orientierten Gründerzeitliteratur neue Aktualität. Beide Bewegungen lassen sich denn auch deuten als Rebellion „der leidenschaftlich empfindenden Jugend gegen die Schranken, welche gleicherweise die ästhetische Theorie und die gesellschaftliche Konvention dem unmittelbaren Ausdruck der Gefühle im Leben und in der Dichtung in den Weg stellten“ (Litzmann 1894, 118). Der „Mangel eines bestimmten individuellen Gepräges“ sollte durch die Betonung des „Originellen und Genialen“ (Bleibtreu 1885, 891) behoben werden. Bleibtreu fordert deshalb: „In allererster Linie muß die Subjektivität entfesselt werden, um die Erstarrung in konventioneller Schablone zu brechen.“ (Bleibtreu 1885, 892) Ganz ähnlich empfahl auch Hermann Conradi eine „schrankenlose, unbedingte Ausbildung“ der „künstlerischen Individualität“ (Arent [Hrsg.] 1885, II) als probates Gegenmittel gegen jede Art von ästhetischer Epigonalität. Diese Forderungen münden schließlich in der Zielvorstellung einer „Poesie des Genies“ (H.[einrich] H.[art] 1885, 2).

Unterschiede in der Geniekonzeption

Trotz der Anlehnung an den Selbstdarstellungsgestus der Sturm-und-Drang-Bewegung und trotz der plakativen Übernahme mancher ihrer Argumentationsfiguren fand indes allenfalls eine partielle „Erneuerung der Geniekonzeption des 18. Jahrhunderts“ (Kolkenbrock-Netz 1981, 118) statt. Was den Geniebegriff des Frühnaturalismus von dem des Sturm und Drang unterscheidet, ist der Umstand, dass die geniale Künstlerpersönlichkeit nicht länger als prometheische Figur gedacht wird. In einem Zeitalter, das die Metaphysik verabschiedet hat, kann eben auch das geniale Schöpfersubjekt kein ‚alter deus‘ mehr sein. Der Terminus ‚Genie‘ steht bei den jungen Autoren der 1880er Jahre deshalb lediglich als Signum für den sich von hergebrachten Vertextungsregeln emanzipierenden Künstler, der seine Werke ohne Rücksicht auf ihren finanziellen Ertrag und ihre Wirkung beim Publikum verfasst. ‚Genialität‘ meint in erster Linie das Durchbrechen ästhetischer Normen und markiert damit den eigentlichen Gegenpol zum temperiert regelkonformen Ausdruck klassizistisch-epigonaler Literatur, der als „Formalismus“ (Hart/Hart 1882–84, H. 2, 54) ettikettiert wird. Wenn die Brüder Hart also den „Naturalismus des Genies“ (Hart/Hart 1882–84, H. 2, 54) lobend hervorheben, dann zielt dies vorrangig auf die ‚unverbildete‘ und gleichsam urwüchsige Gestaltungsmacht des um literarische Konventionen unbekümmerten Autorsubjekts.

Gattungspräferenzen

Dass die jungen Schriftsteller in der Mitte der achtziger Jahre erkennbar „Zentralanliegen der Sturm und Drangepoche“ (Mahal 1974, 20) aufgriffen, zeigt sich u.a. an ihrer Gattungspräferenz: Wie die Führungsfiguren der ersten deutschen Literaturrevolte konzentrierten sich auch die deutschen Frühnaturalisten zunächst auf die Lyrik als Ausdrucksmedium, die emphatisch zur „ursprünglichsten, elementarsten und reinsten aller Dichtungsarten“ (Arent [Hrsg.] 1885, V) erklärt wurde. Als Vorbildgestalten fungierten der junge Goethe, mehr aber noch Jakob Michael Reinhold Lenz, der als von der Gesellschaft verkanntes Genie galt und deshalb in besonderer Weise zur Identifikation einlud. Als Lenz-Propagator trat dabei vor allem Wilhelm Arent in Erscheinung, der nicht nur die von ihm herausgegebene frühnaturalistische Lyrikanthologie Moderne Dichter-Charaktere (1885) mit zwei Zitaten dieses Autors als Motti versah, sondern im Jahr davor unter dem Pseudonym Karl Ludwig auch eine Sammlung selbstverfasster Gedichte publiziert hatte, die er als neu „aufgefundene“ Texte „aus dem Nachlaß“ von Lenz ausgab. Aber selbst Karl Bleibtreu vertrat die Ansicht: „An Lenz wird der moderne Naturalismus der Zukunfts-Dramatik viel zu lernen und zu studiren haben.“ (Bleibtreu 1973, 4) Bei der Parallelisierung der jüngsten Literatengeneration mit den Vertretern der Geniebewegung griff Bleibtreu auf eine Einschätzung des Kulturhistorikers Franz Hirsch zurück, der im dritten Band seiner Geschichte der deutschen Litteratur von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit (1885) die Ansicht geäußert hatte, „dass wir uns in einer neuen Sturm- und Drangperiode befinden“ (S. 769;zit. nach: Bleibtreu 1973, 82). Allerdings gab Bleibtreu dieser Bezeichnung schon bald einen pejorativen Beiklang, indem er seine Schriftstellerkollegen ironischabschätzig als „neue Stürmer und Drängler“ (Bleibtreu 1973, 59) bezeichnete. Gleichwohl setzte sich der Begriff rasch als populäres Schlagwort für die Vertreter der jungen Schriftstellergeneration durch.

Rolle des Jungen Deutschland

Fast zeitgleich kam noch ein zweiter Terminus für die deutschen Naturalisten in Umlauf. Bekannt wurde er abermals durch Karl Bleibtreu, der 1885 die Benennung „Junges Deutschland“ (Bleibtreu 1885, 892) auf den Kreis der frühnaturalistischen Autoren übertrug. Die im Jahr darauf erschienene zweite Auflage der Lyrikanthologie Moderne Dichter-Charaktere trug dann sogar den Titel Jungdeutschland. Um Missverständnisse mit der gleichnamigen Literatengruppe der dreißiger Jahre auszuschließen, lag es freilich nahe, eine Präzisierung vorzunehmen. Deshalb begannen die Zeitgenossen bald, vom „Jüngsten Deutschland“ zu sprechen. Die Bezugnahme auf den Vormärz stand zunächst unter dem gleichen Zeichen wie die auf den Sturm und Drang. So hob etwa Conrad Alberti die „jungdeutschen, freiheitlichen Ideen“ hervor und lobte die „Verherrlichung des Rechts des Genies und der starken Persönlichkeit“ (Alberti 1885, 394). Und Bleibtreu konstatierte: „Ein mächtiger Instinkt des Realismus beginnt in dem Jungen Deutschland und den Achtundvierzigern sich zu entfalten.“ (Bleibtreu 1973, 4) Gleichwohl markiert der legitimierende Verweis auf das Junge Deutschland als zweite Vorläuferbewegung eine ästhetische Neuausrichtung der naturalistischen Bewegung. Stand nämlich der Sturm und Drang noch für eine Orientierung an der Lyrik als höchster Gattung, so indiziert der Rekurs auf die Jungdeutschen einen Wandel hin zur Prosa (vgl. Kapitel IV.1.). Besonders Bleibtreu vertrat die Auffassung, dass „die Lyrik […] sich als Dichterberuf […] überlebt“ habe, weil „die Enge der lyrischen Form sie untauglich macht, den ungeheuren Zeitfragen zu dienen“ (Bleibtreu 1973, 70 und 67). Bleibtreu konnte mit seiner Empfehlung, „Prosa [zu] schreiben“ (Bleibtreu 1973, 72), nicht nur auf die Genrepräferenzen des Jungen Deutschland verweisen, sondern sich auch auf die formen- und bewusstseinsgeschichtliche Diagnose dieser Autorengruppe stützen, die ja übereinstimmend lautet, dass die Moderne durch eine fortschreitende „Emancipation der Prosa“ (Mundt 1969, 49) gekennzeichnet sei. Große Akzeptanz fand seine Position vor allem bei der Münchner Fraktion des Naturalismus, die sich um die Zeitschrift Gesellschaft versammelte und die Romane Émile Zolas als verbindliches ästhetisches Muster ansah, aber auch die meisten Angehörigen des Berliner Zirkels setzten – mit signifikanter Ausnahme der Brüder Hart – dem damit eingeleiteten Schwenk von der Versdichtung zur Erzählprosa kaum Widerstand entgegen.

Wiederentdeckung von Autoren des Vormärz

Im Zuge dieser Fokusverschiebung ereignete sich eine Wiederentdeckung von Autoren der dreißiger und vierziger Jahre. Conrad Alberti beispielsweise veröffentlichte 1885 und 1886 jeweils aus Anlass des 100. Geburtstags Studien über Bettine von Arnim bzw. Ludwig Börne und stellte seiner Schrift Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) ein Motto von Georg Herwegh voran. Karl Bleibtreu lobte Willibald Alexis als „genialsten deutschen Romandichter“ (Bleibtreu 1973, 18), und Julius Türk trug Verse aus Karl Gutzkows Drama Uriel Acosta ins Protokollbuch des Naturalistenvereins ‚Durch!‘ ein. (Schon 1878 hatte Heinrich Hart letzteren zur „Epochemachendsten Persönlichkeit unserer Culturgeschichte“ „seit Lessing“ erklärt und gefordert, dass die gegenwärtige Literatur „an Gutzkow anknüpfen“ [H. Hart 1878, 16] müsse.) Gleichfalls im ‚Durch!‘ stellte Gerhart Hauptmann am 17. Juni 1886 den nahezu vergessenen Georg Büchner vor und las aus diesem Anlass Ausschnitte aus dem Drama Dantons Tod und der Novelle Lenz. Leo Berg schließlich publizierte im April 1890 eine „literarhistorische Skizze“ über Heinrich Heine und unsere Zeit. Für die Naturalisten fungierte die Literatur des Vormärz im Wesentlichen als „Vorbild im Zeitbezug und im Stofflichen“ (Mahal 1975, 42). Hier fanden sie nicht nur gesellschaftliche Probleme wie den Pauperismus thematisiert, sondern begegneten mit dem sozialen Roman und der sozialen Erzählung darüber hinaus Textformen, die auf die Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren versuchten. Vor allem im Hinblick auf die literarische Entdeckung des sog. vierten Standes wirkten die Vormärzautoren als direkte Vorläufer, aber auch ihr sozialreformerischer Zug entsprach dem Anliegen der naturalistischen Schriftsteller. Der Umstand, dass beide Generationengruppen Zensurkonflikten und politischen Verfolgungen ausgesetzt waren, schuf ein zusätzliches Verbundenheitsgefühl.

„Jüngstdeutscher Sturm und Drang“

Gleichwohl blieben sowohl der Sturm und Drang als auch das Junge Deutschland im Wesentlichen Referenzgrößen rhetorischer Art. Sie dienten als plakative Umrissmarkierungen für die eigene künstlerische Position, der entsprechende Begriffsgebrauch ging aber nicht automatisch mit einer qualifizierten inhaltlichen Auseinandersetzung einher. In ihrer Funktion als gängige und leicht zuordenbare Schlagworte freilich erfüllten sie eine wichtige Aufgabe bei der Bekanntmachung der Schriftsteller, die sich im Umkreis des Naturalismus bewegten. Auf diese Weise wurden zwei Gruppenbezeichnungen rasch zu Kennnamen, die fast nach Belieben eingesetzt und kombiniert werden konnten. Als Beispiel ist hier auf Adalbert von Hanstein zu verweisen, der für sein Buch über den Naturalismus die beiden zentralen Bezugspunkte der jungen Autorengeneration pointierend zusammengefasst und die naturalistische Bewegung kurzerhand auf die Formel „jüngstdeutscher Sturm und Drang“ gebracht hat.

Das ‚Herzoglich-Meiningensche Hoftheater‘

In ästhetischer Hinsicht von größerer Bedeutung für die Programmatik des deutschen Naturalismus war ein anderer Einflussfaktor: der als innovativ empfundene Inszenierungsstil des ‚Herzoglich-Meiningenschen Hoftheaters‘. Er wirkte in hohem Maß wahrnehmungsprägend und veränderte die Seh- und Hörgewohnheiten der Zeitgenossen nachhaltig. Mehr noch: In gewisser Weise bereitete er den Boden für den überraschenden Siegeszug des Naturalismus auf dem Theater. Dass sich in einer kleinen deutschen Residenzstadt wie Meiningen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Phänomen von nationaler bühnengeschichtlicher Bedeutung ereignen konnte, hängt entscheidend mit der kulturtopographischen Situation der siebziger und achtziger Jahre zusammen. Bis zur Reichsgründung 1871 war Deutschland nämlich sowohl politisch wie kulturell eindeutig polyzentrisch ausgerichtet. Doch auch im Kaiserreich dominierte die neue Hauptstadt Berlin die anderen regionalen Zentren nicht vollständig. Anders gesagt: „Die Kultur in Deutschland“ war „nur unvollständig auf ein Zentrum polarisiert“ (Briesen 1992, 55). In gewisser Weise verstärkte sich die seit langem bestehende Eigenständigkeit der Regionen sogar noch, weil diese nun den erlittenen Bedeutungsverlust durch vermehrte kulturelle Profilierung zu kompensieren suchten. Nur so lässt es sich jedenfalls erklären, dass der kunstbegeisterte Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen in seiner Residenzstadt nicht nur ein renommiertes Schauspielerensemble aufbauen, sondern in einer Dreifachfunktion als Regisseur, Dramaturg und Ausstattungsleiter zum innovativsten Theaterleiter der Bismarckzeit werden konnte.

Meininger Inszenierungspraxis

Sein Hauptziel bestand darin, Dramentexte der Weltliteratur werkgetreu zu inszenieren. Das war insofern ungewöhnlich, als gerade sog. klassische Werke von den großen Theatern zwar regelmäßig, aber meist äußerst lieblos gespielt wurden. Da es sich um Repertoirestücke handelte, bediente man sich kurzerhand bereits vorhandender Requisiten und Kostüme und reduzierte die Inszenierungsarbeit auf ein Minimum, indem man die Darsteller die ihnen längst bekannten Rollen nach eigenem Gutdünken spielen ließ. Auf diese Weise gerieten die meisten Klassikeraufführungen zu künstlerisch einförmigen und nachlässig absolvierten Routineveranstaltungen, die von den Theaterleitern vor allem deshalb gerne ins Programm genommen wurden, weil sie kaum Vorbereitungszeit erforderten und wenig Kosten verursachten. Anders bei den ‚Meiningern‘. Hier bildete man die gesamte Bühnenausstattung – oft sogar nach eingehenden Quellenrecherchen – historisch präzise nach, damit ein Dramentext möglichst authentisch zum Leben erweckt wurde. Zugleich sorgte Georg II. dafür, dass die Schauspieler aufeinander abgestimmt agierten. Energisch drängte er den damals vorherrschenden, in erster Linie auf virtuose Selbstdarstellung einzelner Mimen bedachten Präsentationsstil zugunsten des Ensemblespiels zurück. Selbst Starschauspieler mussten sich verpflichten, gleichermaßen Statistenrollen zu übernehmen. Außerdem wurden sie dazu angehalten, nicht wie allgemein üblich in pathetischem Ton zu deklamieren, sondern ihren Ausdrucksgestus glaubwürdig – nämlich der Rollenvorgabe angemessen – zu gestalten und damit so ‚natürlich‘ wie möglich zu sprechen. Durch all diese Maßnahmen erhöhte sich die auf der Bühne geschaffene Illusionswirkung ganz beträchtlich.

Gastspielreisen der ‚Meininger‘

Um nun seine inszenierungs- und darstellungsreformerischen Bestrebungen breiteren Kreisen bekannt zu machen, begann Georg II. 1874 damit, seine Theatertruppe auf jährliche Gastspielreisen durch Deutschland und Europa zu schicken. In den kommenden 17 Jahren gab das Ensemble der ‚Meininger‘ „in 36 Städten […] insgesamt 2.591 Vorstellungen“ (Ackermann 1965, 60). „In Berlin, von wo ihre Gastspiele ausgingen, hat es acht Gastspiele mit zusammen 385 Vorstellungen abgehalten.“ (Prölß 1898/99, 678) Auch wenn alles in allem lediglich 41 Stücke einstudiert wurden, waren künstlerische Vorbildwirkung und Publikumserfolg dieser Aufführungen doch so groß, dass andere Theater die Grundsätze des ‚Herzoglich-Meiningenschen Hoftheaters‘ zu übernehmen begannen. Der Germanist Berthold Litzmann konnte deshalb schon 1894 mit Blick auf die ‚Meininger‘ resümierend feststellen, dass ihr „Impuls […] mit überraschender Schnelligkeit bis in die entlegensten Regionen des deutschen Theaters sich fortgepflanzt hat, so dass der Inhalt der künstlerischen Mission, mit der sie auftraten, im Laufe von noch nicht zwei Jahrzehnten zum Gemeingut der deutschen Bühne geworden ist“ (Litzmann 1894, 43). So lernten etwa die Brüder Hart den neuen Inszenierungsstil bereits 1875/76 durch das Detmolder Hoftheater, das gastweise u.a. in ihrer Heimatstadt Münster spielte, kennen. Dessen Leiter Paul Borsdorff galt bei den Zeitgenossen als „der erste Bühnenleiter, der sich unbedingt zu den Meininger Grundsätzen bekannte“ (Grube 1917, 281). Wohl die größte Resonanz fand das Regie- und Schauspielkonzept Georgs II. freilich in Berlin, wo es die Theaterkultur der Stadt nachhaltig veränderte. Adolph L’Arronge beispielsweise orientierte sich als Direktor bei den Aufführungen des 1883 gegründeten Deutschen Theaters erkennbar daran. Sein Regisseur August Förster „erzog […] seine Schauspieler zu einer bewußt alltäglichen Ausdrucksweise, indem er das Sprachtempo der einzelnen Rollen erheblich beschleunigte und dadurch die bedächtige Würde der älteren Deklamation in einen nervösen Staccato-Rhythmus auflöste“ (Hamann/Hermand 1959, 293).

Veränderung des Schauspielstils

Und auch viele Akteure der Zeit übernahmen rasch den unprätentiösen Darstellungsduktus der ‚Meininger‘. Ein namhafter Schauspieler wie Emanuel Reicher, der später in zahlreichen Inszenierungen naturalistischer Dramen mitwirkte, hat nachweislich „schon vor 1889 die schönstilisierten Reden der Dramenfiguren zerhackt, um sie natürlich zu machen“ (Ackermann 1965, 61). Fraglos konvergierte das Hauptanliegen der Meininger mit den ästhetischen Zielen der jungen Autorengeneration. Siegfried Jacobsohn konnte denn auch rückblickend feststellen: „Milieu, Photographie der Wirklichkeit und Handlungsarmut, die Schlagwörter und Kennzeichen des neudeutschen Naturalismus, waren die unausgesprochenen Schlagwörter und die deutlichen Kennzeichen der Meininger“. (Jacobsohn 1904, 32) Das „Streben nach historischer ‚Echtheit‘“ aber stand nicht nur „im Einklang mit der allgemeineren naturalistischen Strömung dieser Tage“ (Brahm 1913, Bd. 1, 11), sondern erleichterte die Durchsetzung dieses Literaturprogramms auch ganz erheblich.

Die ‚Münchener‘

In diesem Zusammenhang muss noch auf eine weitere Theatertruppe hingewiesen werden, die gleichfalls Bedeutung für die Herausbildung der naturalistischen (Bühnen-)Ästhetik besitzt. Gemeint ist das in der bayerischen Hauptstadt angesiedelte Schauspielensemble des Königlichen Volkstheaters am Gärtnerplatz, das kurz die ‚Münchener‘ genannt wurde. Anders als das ‚Herzoglich-Meiningensche Hoftheater‘ bestand das Repertoire des Gärtnerplatztheaters nicht aus ‚klassischen‘ Dramen der Weltliteratur, sondern aus einheimischen Volksstücken. Volksstücke – zumal wenn sie in Mundart verfasst waren – wurden traditionell der niederen Stilebene zugeordnet und bildeten insofern eine Art Widerpart zur offiziellen, ‚hohen‘ Dramatik. Häufig handelt es sich bei ihnen um Possen oder Varianten des Genres Komödie, deren derbe Komik mit der ernsten Feierlichkeit der gattungstypologisch favorisierten Tragödie kontrastriert. Der häufig lokale Bezug und der Dialektgebrauch dieser Texte schränkte ihre Verbreitung natürlich von vornherein stark ein, weil Zuschauer außerhalb der Herkunftsregion meist mit Verständnisschwierigkeiten zu kämpfen hatten. Die ‚Münchener‘ nun hatten entscheidenden Anteil daran, dass sich das Volksstück aus dem Ghetto regionaler Rezeption befreien konnte und nach und nach zu einer anerkannten Spielart des Dramas wurde.

Rehabilitierung des Volksstücks

Der bayerische Hofschauspieler und Leiter des Theaters am Gärtnerplatz, Max Hofpauer, hatte Ende der siebziger Jahre einen Kreis von Dialektschauspielern um sich versammelt, die in der Lage waren, auch ästhetisch anspruchsvollere Volksstücke darstellerisch zu bewältigen. Er sorgte zudem dafür, dass diese regional verankerten Texte so aufgeführt wurden, dass sich jenes Lokalkolorit, dem sie ihre Wirkung verdanken, entfalten konnte. Nachdem er damit in München große Erfolge erzielt hatte, ging er daran, Gastauftritte für sein Ensemble zu organisieren. Im Juni 1879 trat die Truppe erstmals für eine Dauer von insgesamt drei Wochen in Berlin auf. Auch wenn das Interesse zunächst gering war, der Besuch wurde in den Folgejahren wiederholt – mit dann um so größerem Zuspruch. Während der Formierungsphase der naturalistischen Bewegung waren die Gastspiele der ‚Münchener‘ nachgerade „Mode“ (Jacobsohn 1904, 47) in der Reichshauptstadt. Wie aufmerksam ihre Aktivitäten von den naturalistischen Autoren verfolgt wurden, zeigen Aufführungsbesprechungen der Brüder Hart und Leo Bergs in zeitgenössischen Periodika. Das Publikum kam auf diese Weise erstmals mit einer bis dahin weitgehend unbekannten Form von Gegenwartsdramatik in Berührung und lernte u.a. Stücke von Ludwig Anzengruber und Ludwig Ganghofer kennen. Die ‚Münchener‘ übernahmen also in den siebziger und achtziger Jahren gewissermaßen „die Rolle der Meininger für das Volksstück“ (Wenig 1954, 17) und trugen wesentlich dazu bei, dass die Leistung des Dialektgebrauchs für die wirklichkeitsnahe Darstellung und soziale Charakterisierung von Bühnenfiguren in vollem Umfang erkennbar wurde.