Entwicklungsphasen
Der deutsche Naturalismus weist drei distinkte Entwicklungsphasen auf, die jeweils durch wechselnde Leitfiguren, verschiedenartige Institutionalisierungsbestrebungen, abweichende Gattungspräferenzen und eigenständige ästhetische Akzentsetzungen gekennzeichnet sind: eine erste, vornehmlich durch polemische Kampfschriften und lyrische Texte geprägte Periode, die sich von den späten siebziger Jahren bis 1884 erstreckt und in welcher der Institutionalisierungsgrad der Bewegung noch sehr schwach ausgeprägt ist; eine zweite, hauptsächlich durch ästhetische Standortbestimmungen und die Dominanz der Erzählprosa charakterisierte Periode, die von 1885 bis 1889 reicht und in der sich regionale Zentren in München und Berlin gebildet haben, wobei in der Reichshauptstadt mehrere Gruppierungen mit wechselnden personellen Konstellationen nebeneinander bestehen, während die bayerische Metropole mit der Zeitschrift Die Gesellschaft über das einzige dauerhafte Periodikum der Bewegung verfügt; schließlich eine dritte Periode von 1890 bis etwa in die Mitte der neunziger Jahre, in der besonders das Drama dominiert, daneben aber auch experimentelle Prosaformen eine wichtige Rolle spielen und in der sich Berlin durch die Gründung der Zeitschrift Freie Bühne für modernes Leben sowie zahlreicher Literatur- und Bühnenvereine druckvoll zum eigentlichen Zentrum des deutschen Naturalismus entwickelt.
1. Phase
In der ersten Phase lassen sich zwar bereits Ansätze zu Gruppenbildungsprozessen erkennen, doch verfestigten sich diese noch nicht zu stabilen sozialen Strukturen. Die in ganz verschiedenen Regionen des deutschen Reiches angesiedelten jungen Schriftsteller stellten zu dieser Zeit erste Kontakte untereinander her und begannen, sich als eine Generation mit im Wesentlichen übereinstimmenden künstlerischen Basisüberzeugungen wahrzunehmen. Eine Pionierfunktion kommt in diesem Zusammenhang Michael Georg Conrad sowie den Brüdern Heinrich und Julius Hart zu. Conrad war schon seit Beginn der siebziger Jahre kontinuierlich publizistisch tätig und stand während seines Paris-Aufenthalts (1878–82) sogar mit Émile Zola, dem Hauptvertreter des Naturalismus in Frankreich, in persönlichem Kontakt. Von den aktuellen Entwicklungen der Kultur im Nachbarland berichtete er ab Herbst 1878 als Korrespondent für das Pariser Feuilleton der Frankfurter Zeitung; wenig später legte er eine Auswahl dieser Artikel auch gesammelt in Buchform vor (Parisiana. Plaudereien über die neueste Literatur und Kunst der Franzosen, Französische Charakterköpfe. Studien nach der Natur). Erhebliches Aufsehen unter den Kollegen erregte Conrad, als er im September 1883 während einer Tagung des deutschen Schriftstellerverbandes zum Kampf gegen die epigonale Gründerzeitliteratur aufrief. Die Harts wiederum hatten in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in ihrer Heimatstadt Münster zunächst einen Zirkel literarisch interessierter Gymnasiasten und dann einen ‚Westfälischen Verein für Literatur‘ gegründet. Außerdem gaben sie mit der Deutschen Dichtung (1877) und den Deutschen Monatsblättern (1878/79) frühzeitig eigene Zeitschriften heraus. Der in der Letzteren enthaltene Aufsatz Neue Welt entwirft bereits in Umrissen das Konzept einer Literatur, die „wurzelnd im fruchtbaren Boden des Naturalismus die Darstellung modernen Lebens und moderner Anschauung mit den höchsten ethischen Tendenzen zu verknüpfen“ (H. Hart 1878, 21) sucht. Einem größeren Kreis wurden die Brüder allerdings erst durch ihre zeitschriftenartigen Publikationsreihe Kritische Waffengänge (1882–84) bekannt, in der sie in meist polemischen Aufsätzen mit den Erfolgsschriftstellern der Zeit abrechneten und eine gegenwartsbezogene nationale Kunst forderten.
Michael Georg Conrad und die Brüder Hart als Initiatorfiguren
Die Veröffentlichungen dieser drei Autoren nun hatten entscheidenden Einfluss auf die ästhetische Orientierung der nachwachsenden Generation. Als sich nämlich Anfang der achtziger Jahre in einigen deutschen Städten, darunter in Magdeburg (mit Hermann Conradi und Johannes Schlaf), Celle (mit Otto Erich Hartleben) sowie Hannover (mit Karl Henckell), einzelne Schüler- und Studentenzirkel entwickelten, die begierig die aktuellen Tendenzen der Literaturentwicklung verfolgten, orientierten sich die darin zusammengeschlossenen angehenden Schriftsteller genau daran. Aber auch junge Autoren aus der Provinz, die keinen Anschluss an Gleichgesinnte fanden, betrachteten die Schriften Conrads und der Harts als Wegweiser zu einer neuen Ästhetik. Wie sehr die drei in kurzer Zeit zu Leitfiguren für die Jüngeren avancierten, zeigt der Umstand, dass viele Debütanten in brieflichen und persönlichen Kontakt mit ihnen zu kommen suchten. Und da in den frühen achtziger Jahren die Harts Berlin und Michael Georg Conrad München als Lebensmittelpunkt und dauerhafte publizistische Wirkungsstätte gewählt hatten, wurden diese Städte rasch zu geographischen Anziehungspunkten für die Vertreter der jungen Generation. Nach und nach versammelten sich so einerseits in der Reichshauptstadt und andererseits in der bayerischen Metropole angehende Schriftsteller, die rasch Kontakte untereinander herstellten. Doch auch wenn sich dadurch Intellektuellenkreise bildeten, dauerte es einige Zeit, bis diese eine Öffentlichkeitswirkung erreichten. Der Grund dafür ist in der anfangs fehlenden Institutionalisierung der Bewegung zu sehen: Solange die Zirkel lediglich auf informeller Basis operierten und ihre Teilnehmer nicht über eigene Verlautbarungsorgane verfügten, blieb das Anliegen einer Erneuerung der Literatur ein abstraktes Wunschbild. Außerdem verfügten damals nur einzelne Personen über Zugang zum literarischen Markt, so dass das publizistische Wirken der einzelnen Gruppen noch nicht koordiniert und gebündelt werden konnte. Weil es für unbekannte Schriftsteller, die noch keinen Platz im Sektor der Kulturgüterproduktion gefunden haben, naturgemäß erst einmal darum geht, auf sich aufmerksam zu machen, dominierten in dieser Phase literaturkritische Arbeiten und pamphletistische Verlautbarungen. Wie für andere künstlerische Jugendbewegungen auch erwies sich besonders der Journalismus als probate Möglichkeit, um Zugang zur Öffentlichkeit zu erhalten. Daneben versuchten die jungen Naturalisten vor allem im Bereich der Lyrik, sich einen Namen zu machen. Es verwundert daher nicht, dass eine Gedichtanthologie zu dem Ort wurde, in der sich die nachgewachsene Generation zum ersten Mal in weitgehender Geschlossenheit und mit repräsentativem Anspruch präsentierte.
2. Phase
Die Fertigstellung der – ursprünglich als Jahrbuch konzipierten – Lyriksammlung Moderne Dichter-Charaktere (Auslieferung: ca. Mai 1885) geschah bezeichnenderweise parallel zur Gründung zweier weiterer Periodika: der von Michael Georg Conrad ins Leben gerufenen Wochenzeitschrift Die Gesellschaft (ab 1.1.1885) und der von Heinrich Hart herausgegebenen Berliner Monatshefte für Litteratur, Kunst und Theater (April bis September 1885). Auf Grund des weitgehenden zeitlichen Zusammenfallens der drei Erscheinungstermine schob sich die naturalistische Bewegung in Deutschland auf einmal mit nachgerade geballter Wucht ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit, weshalb 1885 mit gutem Recht als „das eigentliche Stichjahr des deutschen Naturalismus“ (Borchmeyer 1980, 158) angesehen werden kann. Es markiert jedenfalls den Beginn der gruppensoziologisch besonders bedeutsamen zweiten Phase. Von nun an verfügte die Bewegung mit der – insgesamt 18 Jahre lang existierenden – Gesellschaft nicht nur über ein stabiles und weithin beachtetes Periodikum, die bis dahin allenfalls locker miteinander assoziierten Personen um die genannten Publikationsorgane begannen auch rasch, Bündnisse zu bilden. Was freilich prima vista als kontinuierlicher Formierungsvorgang einer neuen literarischen Bewegung erscheinen mag, stellt sich bei näherem Hinsehen als äußerst spannungsvoller Kampf um Meinungsführerschaft und ästhetische Definitionsmacht heraus. Das druckvolle öffentliche Auftreten der Naturalisten im Jahr 1885 ließ nämlich schlagartig auch bislang verborgen gebliebene Rivalitäten zum Vorschein kommen und brachte diverse Abgrenzungserscheinungen mit sich. So unterstrich beispielsweise Michael Georg Conrad im Vorwort der ersten Nummer der Gesellschaft die Brückenfunktion Münchens zu den deutschsprachigen Kulturräumen in der Mitte und im Südosten Zentraleuropas und versuchte so, seine Zeitschrift in betontem Gegensatz zu Berlin zu profilieren:
Eine ganz besondere Aufmerksamkeit werden wir dem schöpferischen Kulturleben der deutschen Völkerstämme des Südens widmen und die Leistungen der süddeutschen Kunst-, Theater- und Literaturzentren München, Wien, Frankfurt usw. in den Vordergrund unserer kritischen Betrachtungen stellen. (Conrad 1885, 3)
Kulturtopographische Differenzierung
Der mit Conrad befreundete Wolfgang Kirchbach spricht in einem Brief an Julius Hart vom 4. April 1885 sogar von der „jungen Münchner Schule“ (Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Signatur: Atg. 11317). Demgegenüber erschien den Harts gerade die preußische Hauptstadt als „Centralpunkt des neuen Reiches, welcher mehr und mehr alle geistigen Kräfte Deutschlands an sich heranzieht“ (Hart/Hart 1882–84, H. 4, 10);deshalb nannten sie ihre neue Zeitschrift dezidiert Berliner Monatshefte für Litteratur, Kunst und Theater.
Die Lyriksammlung Moderne Dichter-Charaktere bildete hier – obgleich von Personen aus dem Kreis um die Harts getragen – anfangs eine gewisse Klammer, weil in ihr Schriftsteller aus dem gesamten deutschsprachigen Raum vertreten waren. Allerdings distanzierten sich nach Erscheinen der Anthologie mehrere Beiträger, darunter Karl Bleibtreu und Wolfgang Kirchbach (die beide mit Michael Georg Conrad sympathisierten), öffentlich von diesem Unternehmen und unterzogen die in ihren Augen verfehlte Selbstdarstellung ihrer Kollegen vehementer Kritik. Aber auch die Harts, Arno Holz, Otto Erich Hartleben oder Hermann Conradi rückten im nachhinein von dem gemeinsamen Projekt ab. Am schwersten wog, dass selbst der Herausgeber und Financier der Anthologie, Wilhelm Arent, erklärte, er wolle künftig mit seinen bisherigen „Sturm- und Dranggenossen“ (zit. nach Bogdal 1999, 195) nichts mehr zu tun haben. Damit war der Versuch der jungen Autorengeneration, sich nach außen hin als einheitliche literarische Bewegung darzustellen, gescheitert. In großen Teilen der literarischen Öffentlichkeit entstand der Eindruck, die Naturalisten seien hoffnungslos untereinander zerstritten, was die ohnehin schon weitverbreiteten Zweifel an der Dignität dieses ästhetischen Ansatzes weiter nährte. Ende des Jahres 1885 jedenfalls – und damit zum Zeitpunkt, als er sich als literarische Generationengruppe gerade erst konstituiert hatte – war der deutsche Naturalismus endgültig in zwei einander mit Argwohn gegenüberstehende regionale Fraktionen gespalten.
Zentrenbildung
Der Naturalismus ist denn auch die erste literarische Bewegung in Deutschland, die von Beginn ihrer Entwicklung an zwei miteinander rivalisierende Zentren besitzt. Zwar hat es schon früher regionale, an bestimmte Trägergruppen gekoppelte Ausprägungsformen ästhetischer Diskursformationen gegeben, doch bildeten sich diese meist in zeitlicher Sukzession heraus. Das prominenteste Beispiel hierfür stellt wohl die Romantik dar, bei der man ja mit Blick auf ihren Phasenverlauf von Jenaer, Heidelberger, Berliner oder auch Münchner Romantik spricht. Die gleichzeitige Artikulierung einer literarischen Programmatik aber in zwei Städten durch miteinander rivalisierende Personenkreise stellt ein kulturgeschichtliches Novum dar. Das Zustandekommen einer solchen Konstellation hängt mit den veränderten Rahmenbedingungen literarischer Kommunikation nach 1871 zusammen. Von nun an gab es mit der Reichshauptstadt Berlin nämlich eine klar definierte Metropole, die auch in kulturellen Belangen ihren Führungsanspruch reklamierte. Die Strukturen der Kleinstaatlichkeit, die sich über lange Zeiträume herausgebildet hatten, bestanden indes weiter fort: „Der polyzentrische Charakter der deutschen Kunst- und Verlagswelt wurde nach 1871 [sogar] eher noch verstärkt, als die kleineren Staaten des Reichs, allen voran Bayern, hartnäckig an ihren eigenen kulturellen Identitäten festhielten.“ (Lenman 1994, 19f.) Dadurch wich die alte Konkurrenz zwischen den einzelnen Regionalmetropolen fortan der Rivalität mit Berlin. Vor diesem Hintergrund nun muss die Herausbildung regionaler literarischer Zentren im späten 19. Jahrhundert gesehen werden. Da sich Fürsprecher einer zeitgemäßen, auf die Probleme der Gegenwart gerichteten Literatur, die sich von der rückwärtsgewandten Orientierung auf Klassik und Romantik lossagte, gleichermaßen in München und Berlin fanden, wurden diese beiden Orte zu den Zentren des Naturalismus in Deutschland. Freilich erzeugte der Umstand, dass das neue ästhetische Programm in zwei Städten gleichzeitig artikuliert wurde, auch eine bis dato ungekannte Rivalität. So überlagerte sich in den achtziger und neunziger Jahren künstlerisches Dominanzstreben mit kulturtopographischem.
Dominanz der Münchner Gruppe
Als vorläufiger Sieger aus diesem Wettbewerb ging die Gruppe um Michael Georg Conrad hervor. Nachdem im September 1885 nach nur sechs Heften die Berliner Monatshefte für Litteratur, Kunst und Theater ihr Erscheinen einstellten und der erste Band der Modernen Dichter-Charaktere trotz eines entsprechenden Vorstoßes von Conradi und Hartleben (vgl. Bunzel/Schneider 2005) keine Fortsetzung fand, blieb die Gesellschaft als einzige dezidiert naturalistische Zeitschrift in Deutschland übrig. Ihre „Monopolstellung“ (Miehle 1947, 45) wurde noch dadurch gestärkt, dass Karl Bleibtreu Anfang Mai 1886 die Redaktion des in Leipzig erscheinenden Magazins für die Litteratur des In- und Auslandes übernahm und die Zeitschrift für Beiträge der Kollegen öffnete. Da Bleibtreu eng mit Conrad kooperierte – in den Jahren 1888 und 1889 fungierte er sogar als Mitherausgeber der Gesellschaft –, dominierte die Münchner Fraktion in der zweiten Phase eindeutig das Erscheinungsbild der Bewegung. Dass ihre Präponderanz so deutlich ausfiel, hat zwei Gründe: Zum einen gab es mit Karl Bleibtreu und Conrad Alberti zwei Renegaten in der Berliner Gruppe, die zwar in der Landeshauptstadt lebten, aber die Interessen des Conrad-Kreises vertraten. Zum anderen gingen dem Zirkel, der sich um die Harts und die Berliner Monatshefte geschart hatte, 1886 mehrere Anhänger verloren. Wilhelm Arent zog sich ganz von der naturalistischen Bewegung zurück, und Hermann Conradi, Otto Erich Hartleben sowie Karl Henckell verließen im Abstand von wenigen Monaten die Stadt.
Die Berliner Naturalistenfraktion
Die Berliner Gruppierung musste sich darauf erst mühevoll rekonstellieren. Eine entscheidende Rolle spielten hierbei drei akademische Zeitschriften, die allesamt in Berlin erschienen und dort auch redigiert wurden: die Deutsche Studenten-Zeitung, die Allgemeine Deutsche Universitäts-Zeitung (deren Nachfolgeblatt) und die Deutsche academische Zeitschrift. Herausgeber aller dieser Organe war der Arzt Conrad Küster, der 1885 die auf eine umfassende Umgestaltung des staatlichen Unterrichts- und Erziehungswesen abzielende ‚Deutsche akademische Vereinigung‘ gegründet hatte und seitdem als Mentor für Studierende und junge Akademiker in der Reichshauptstadt auftrat. In dieser Funktion führte er erst den angehenden Literaturwissenschaftler Eugen Wolff und dann den Studenten der Philosophie und Geschichte Leo Berg an die publizistische Tätigkeit heran, indem er ihnen die Redaktion der benannten Blätter übertrug. Da Küster – in expliziter Abgrenzung von den schlagenden studentischen Verbindungen – Studierende für durchgreifende gesellschaftliche Reformen gewinnen wollte, ermunterte er seine ohnehin lebhaft an aktueller Literatur interessierten Redakteure, alle wichtigen kulturellen Fragen im Rahmen der von ihnen betreuten Periodika zu erörtern. Auf diese Weise gelangten in seinen Blättern nicht nur Artikel zu akademischen Belangen, sondern auch Aufsätze über Tagesthemen – darunter ästhetische –, Buch- und Theaterkritiken sowie literarische Texte zum Abdruck. Unversehens wurden so die Deutsche Studenten-Zeitung, die Deutsche academische Zeitschrift und die Allgemeine Deutsche Universitäts-Zeitung zu überaus beliebten Publikationsorganen von Vertretern der Berliner Fraktion des Naturalismus, in denen sich im Grunde fast alle jüngeren Autoren zu Wort meldeten: Conrad Alberti, Wilhelm Arent, Karl Bleibtreu, Hermann Conradi, Adalbert von Hanstein, Julius Hart, Gerhart Hauptmann, Karl Henckell, Arno Holz, John Henry Mackay, Johannes Schlaf und Julius Türk, aber natürlich auch die Redakteure Leo Berg und Eugen Wolff selbst.
Verein ‚Durch!‘
Akademische Zeitschriften waren es demnach, die Mitte der achtziger Jahre den in der Reichshauptstadt lebenden Naturalisten ein Selbstverständigungsforum boten und für einige Zeit das durch die beherrschende Position der Gesellschaft entstandene publizistische Defizit der Berliner Gruppe ausglichen. Durch die Mitarbeit an diesen Periodika kamen Personen miteinander in Kontakt, die sich zuvor nicht gekannt hatten, so dass nach und nach neue Kommunikationsnetze entstanden. Das wohl augenfälligste Ergebnis dieser Reorganisation ist die Gründung der freien literarischen Vereinigung ‚Durch!‘ im Frühjahr 1886. (Sie bestand bis etwa 1888.) Ihr gehörten anfangs insgesamt 13 Personen an, darunter die Brüder Hart, Bruno Wille, Leo Berg, Conrad Küster und Eugen Wolff. Im Lauf der kommenden anderthalb Jahre kamen dann u.a. Conrad Alberti, Wilhelm Bölsche, Adalbert von Hanstein, Gerhart Hauptmann, Arno Holz, John Henry Mackay und Johannes Schlaf hinzu. Alles in allem lassen sich über die knapp 16 Monate hinweg, in denen der Verein Protokollhefte führte, insgesamt rund 50 Personen namhaft machen, die als Mitglieder oder Gäste an Sitzungen teilnahmen. Aus der Liste der Namen wird schon ersichtlich, dass die Harts im ‚Durch!‘ nicht mehr die zentrale Rolle spielten. Als eigentliche Führungsfiguren sind vielmehr Berg und Wolff anzusehen, die – unterstützt durch Küster – die Erneuerungsbestrebungen der jungen Autorengeneration mit dem Organisationsmodus akademischer Diskussionskultur verbanden und dergestalt eine reflektiertere und systematischere Form der intellektuellen Auseinandersetzung mit den Zielen des Naturalismus in Gang brachten. Erstes greifbares Resultat dieser Programmarbeit waren zehn von allen Teilnehmern getragene Thesen, die um den Jahreswechsel 1886/87 im Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes und in der Allgemeinen Deutschen Universitäts-Zeitung veröffentlicht wurden.
Da die meisten Vortragsmanuskripte für die akademischen Zeitschriften, in denen die Mitglieder und Sympathisanten des ‚Durch!‘ großenteils publizierten, zu umfangreich waren, gründeten Eugen Wolff und Leo Berg im März 1887 unter dem Titel „Litterarische Volkshefte“ eine Flugschriftenreihe, mit deren Hilfe „gemeinverständliche Aufsätze über litterarische Fragen der Gegenwart“ einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden sollten. Hier erschienen u.a. Essays über Henrik Ibsen und das Germanenthum in der modernen Litteratur (Leo Berg) sowie über Die jüngste deutsche Litteraturströmung und das Princip der Moderne (Eugen Wolff), und es wurde von Wolfgang Kirchbach die Frage erörtert: Was kann die Dichtung für die moderne Welt noch bedeuten? Die zehn Bände der „Litterarischen Volkshefte“ (1887–89) und die drei Bände der sich daran anschließenden – von Leo Berg allein betreuten – „Deutschen litterarischen Volkshefte“ (1889) schufen eine Art publizistisches Äquivalent zur Münchner Gesellschaft und trugen entscheidend zur Profilbildung der Berliner Naturalisten bei.
Hinwendung zur Erzählprosa
In der Praxis literarischer Produktion ereignete sich nach dem Erscheinen der Lyriksammlung Moderne Dichter-Charaktere ein bezeichnender Schwenk. Das hängt nicht unwesentlich mit dem Missverhältnis zusammen, das zwischen den dem Band vorangestellten Programmtexten und den darin enthaltenen Gedichten besteht. So hatte Conradi in seiner Unser Credo überschriebenen Einleitung die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, „endlich die Anthologie geschaffen zu haben, mit der vielleicht wieder eine neue Lyrik anhebt“ (Arent [Hrsg.] 1885, I), und Henckell hatte in seinem Vorwort Die neue Lyrik sich zuversichtlich gezeigt, dass „auf den Dichtern des Kreises, den dieses Buch vereint, […] die Litteratur, die Poesie der Zukunft“ (Arent [Hrsg.] 1885, VII) beruhe. Paul Fritsche sah in der Veröffentlichung des Bandes gar den greifbaren Beleg für eine „moderne Lyriker-Revolution“ (vgl. Fritsche 1885/86). Faktisch hatten jedoch nur sehr wenige Autoren Gedichte vorgelegt, die ein Stück weit über das bisher Bekannte hinausgingen und einen gewissen neuen Ton erkennen ließen. Die erhebliche Diskrepanz zwischen der vollmundigen Verheißung einer „modernen deutschen Lyrik“ (Arent [Hrsg.] 1885, V) und der dann ausbleibenden Einlösung dieses Versprechens war der Literaturkritik sofort aufgefallen. Selbst die Beiträger gestanden im nachhinein ein, dass sie ihr Ziel nicht erreicht hatten. So bemerkt etwa Arno Holz freimütig: „Daß wir Kuriosen der Modernen Dichtercharaktere damals die Lyrik ‚revolutioniert‘ zu haben glaubten, war ein Irrtum“ (Holz 1924/25, Bd. 10, 490). Die meisten Naturalisten folgten daher Bleibtreus Empfehlung, „Prosa [zu] schreiben“ (Bleibtreu 1973, 72), und verlegten sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre vorwiegend auf das Verfassen narrativer Texte – ein Trend, der durch die Vorbildwirkung von Zolas Romanästhetik noch verstärkt wurde.
Rolle des Dramas
Die sich verstärkende Präsenz von Stücken Henrik Ibsens auf den Spielplänen der Theater und die im Juni 1887 stattfindende Berliner Aufführung der Bühnenversion von Zolas Thérèse Raquin lenkten indes den Blick der deutschen Naturalisten nach und nach auch auf das Drama. Da die Theateradaption von Zolas Roman ausschließlich in Berlin gespielt wurde und Ibsens Stücke dort zumindest präsenter waren als andernorts, entwickelte sich ein nennenswertes Interesse an naturalistischer Dramatik vorrangig in der Reichshauptstadt. Hier wurden bald auch Überlegungen angestellt, wie moderne Dramen trotz der nach wie vor bestehenden Theaterzensur und trotz der eindeutig kommerziellen Ausrichtung der Spielstätten auf die Bühne gebracht werden könnten. Einen ersten Vorstoß in diese Richtung unternahmen die Brüder Hart, die – nachdem sich die Berliner Gesellschaft für Theaterfreunde ‚Urania‘ gespalten hatte – mit den abtrünnigen Mitgliedern einen „Bühnenreformverein“ (Kralik 1922, 112) initiierten, der sich für die Aufführung von „Werken junger Dichter“ (Hart/Hart 2006, 170) einsetzen sollte. Allerdings kam wegen Streitigkeiten im Vereinsvorstand nur eine einzige Inszenierung zustande.
Gründung von Bühnenvereinen
Mit der Konstituierung eines privaten Bühnenvereins war ein Modell geschaffen, das für die weitere Entwicklung des Naturalismus von entscheidender Bedeutung werden sollte. Die 1887 erfolgte Gründung des französischen ‚Théâtre libre‘ – dem so großer Erfolg beschieden war, dass der Leiter André Antoine mit seiner Schauspieltruppe schon im Folgejahr auf Gastspielreise nach Brüssel gehen konnte (ein Auslandsbesuch in Berlin im Jahr 1887, der in der Sekundärliteratur zuweilen erwähnt wird, hat freilich nie stattgefunden) – lieferte dann vollends den Nachweis für die Existenzfähigkeit eines solchen Unternehmens. Allerdings unterschieden sich die Rahmenbedingungen in Frankreich deutlich von denen in Deutschland: „Antoine did not have to cope with censorship problems […]. He established a private theatre so as not to compete with the commercial ones, to avoid making enemies and to get kinder critiques. His plays were deliberately chosen from those not performed elsewhere in Paris.“ (Davies 1977, 14) Gleichwohl bedurfte es nach Antoines Vorstoß nur noch einer Bündelung der Interessen, um auch in der Reichshauptstadt ein ähnliches Projekt zu verwirklichen. Der entscheidende Impuls dafür ging von der jüngeren Garde Berliner Theaterkritiker aus, die allesamt mehr oder weniger deutlich die Anliegen der naturalistischen Bewegung unterstützten; zu ihr gehörten u.a. Theodor Wolff, Maximilian Harden, Heinrich und Julius Hart (die seit Herbst 1887 für die Tägliche Rundschau arbeiteten) sowie Otto Brahm und Paul Schlenther. Die öffentliche Ankündigung gibt Auskunft über die Ziele des Vereins, der sich am 5. April 1889 konstituierte:
Uns vereinigt der Zweck, unabhängig von dem Betriebe der bestehenden Theater und ohne mit diesen in einen Wettkampf einzutreten, eine Bühne zu begründen, welche frei ist von den Rücksichten auf Theatercensur und Gelderwerb. Es sollen während des Theaterjahres in einem der ersten Berliner Schauspielhäuser etwa zehn Aufführungen moderner Dramen von hervorragendem Interesse stattfinden, welche den ständigen Bühnen ihrem Wesen nach schwerer zugänglich sind. Sowo[h]l in der Auswahl der dramatischen Werke, als auch in ihrer schauspielerischen Darstellung sollen die Ziele einer der Schablone und dem Virtuosentum abgewandten lebendigen Kunst angestrebt werden. (Schlenther 1889, 5)
Konstituierung der ‚Freien Bühne‘
Wie der Name des Vereins, ‚Freie Bühne‘, schon erkennen lässt, ging es den Begründern im Wesentlichen darum, losgelöst von den Zwängen sowohl der zumeist auf Repräsentation ausgerichteten Hofbühnen wie der auf materiellen Profit angewiesenen privaten Theater zeitgenössische Stücke zur Aufführung zu bringen. Um nun den rigiden Bestimmungen der Theaterzensur, die im Kaiserreich die Zur-Schau-Stellung als anstößig empfundener gesellschaftlicher Themen unterband, zu entgehen und um zugleich dem „antimammonistischen Ideal“ (Hart/Hart 2006, 171), an dem man sich orientierte, treu zu bleiben, konstituierte sich der Verein formell als geschlossene Gesellschaft. Auf diese Weise sicherte sich die ‚Freie Bühne‘ einerseits finanzielle Autarkie, weil sie sich nur aus Beiträgen der Mitglieder speiste, und andererseits inhaltliche Gestaltungsfreiheit, weil in quasi-privatem Rahmen unter Ausschluss der Öffentlichkeit auch Anstoß erregende Dramen gezeigt werden konnten. Allerdings beschloss man im Unterschied zum französischen Vorbild, bei den Inszenierungen keine Amateure, sondern Berufsschauspieler einzusetzen, was natürlich den Anspruch der eigenen Theaterarbeit beträchtlich erhöhte. Da die zehn Gründungsmitglieder unbedingt vermeiden wollten, dass der Bühnenleiter vonseiten der übrigen Vereinsangehörigen inhaltlich unter Druck gesetzt werden kann, sicherten sie diesem eine besonders starke Stellung. So wurde in den Statuten u.a. festgeschrieben, dass die Spielplangestaltung ausschließlich in seinen Händen liegt und dass die einfachen, sog. passiven Mitglieder mit der Zahlung des Jahresbeitrags nur das Recht zum Besuch der Aufführungen erwerben; selbst dem zehnköpfige Vorstand wurde nur eine beratende Funktion zugestanden, nicht aber ein Vetorecht.
Das Vereinskonzept stieß auf so lebhaften Zuspruch, dass die Anzahl der Mitglieder – „es waren zu Beginn 360 und zu Ende des Jahres ungefähr 900“ (Günther 1972, 81) – in kürzester Zeit die Sitzkapazität der Häuser, die bespielt wurden, überstieg und Karten für Aufführungen per Losentscheid zugeteilt werden mussten. Die große Resonanz belegt, wie sehr die offiziellen Theater in Deutschland die Gegenwartsdramatik bislang vernachlässigt hatten. Entscheidend zum Erfolg der ‚Freien Bühne‘ beigetragen hat fraglos aber auch die Stückauswahl, die Otto Brahm als Leiter vornahm. Er zeigte Dramen deutscher wie ausländischer Autoren und mischte dabei geschickt Stücke, die das Publikum schon kannte, mit Novitäten. Dem von einigen Kollegen an ihn herangetragenen Wunsch, ausschließlich Texte deutscher Nachwuchsautoren aufzuführen, kam er nicht nach und verhinderte so, dass die von ihm geführte Institution zu einer „Experimentier-, Probe- und Schulbühne für Jugend- und Anfängerwerke wurde“ (Hart/Hart 2006, 181). Das erste Stück, das die ‚Freie Bühne‘ aufführte, waren Ibsens „Gespenster“ (29.9.1889);es folgten u.a. Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ (28.10.1889), Tolstois „Macht der Finsternis“ (26.1.1890), Anzengrubers Stücke „Das vierte Gebot“ (2.3.1890) und „Doppelselbstmord“ (15.3.1891), „Die Familie Selicke“ (7.4.1890) von Holz und Schlaf, Hauptmanns Dramen „Das Friedensfest“ (1.6.1890) und „Einsame Menschen“ (11.1.1891) sowie Zolas „Thérèse Raquin“ (3.5.1891). Ab Herbst 1891 nahmen Frequenz und Anzahl der gezeigten Schauspiele stark ab, der Verein wurde nur noch bei besonderen Anlässen tätig. Als die letzten für die Entwicklung des Naturalismus bedeutsamen Veranstaltungen der ‚Freien Bühne‘ können die Uraufführungen von Gerhart Hauptmanns Drama Die Weber am 26. Februar und von Elsa Bernsteins Stück Dämmerung am 30. März 1893 angesehen werden. Folgerichtig gab Otto Brahm Mitte 1894 die Leitung der ‚Freien Bühne‘ ab und übernahm das ‚Deutsche Theater‘.
3. Phase
Die Gründung der ‚Freien Bühne‘ markiert den Übergang von der zweiten zur dritten Phase des Naturalismus in Deutschland. Damit einher geht eine abermalige Schwerpunktverlagerung in der Gattungspräferenz: Galt bis dahin – mit Blick auf Zola und die Tradition des ‚sozialen Romans‘ – die Erzählprosa als dominierende Gestaltungsform, verschob sich nun das Interesse auf das Drama, das einerseits eine größere Öffentlichkeitswirkung versprach und andererseits einen Darstellungsmodus bot, der auf zwischengeschaltete Narrationsinstanzen verzichtete und so ein größeres Maß an Unmittelbarkeit ermöglichte. Da sich der Durchbruch des Bühnennaturalismus fast ausschließlich in der Reichshauptstadt ereignete, bedeutet der Übergang von der achten zur neunten Dekade des 19. Jahrhunderts für das Zentrum München den Verlust der literarischen Führungsrolle. Nach außen hin deutlich sichtbar wurde dies durch die Gründung der von Samuel Fischer verlegten Zeitschrift Freie Bühne für modernes Leben. Mit Beginn ihres Erscheinens Ende Januar 1890 hatten nun auch die Berliner Naturalisten ein eigenes, weithin ausstrahlendes Publikationsorgan, wobei die enge Verzahnung mit dem gleichnamigen Bühnenverein dem Periodikum – dessen Redakteur anfangs gleichfalls Otto Brahm war – besondere publizistische Macht verlieh. Hier wurden jedenfalls mehrere Stücke abgedruckt bevor sie auf dem Theater zur Aufführung kamen – darunter Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen, Georg Hirschfelds Zu Hause und Elsa Bernsteins Dämmerung–, auch nahmen diverse Artikel unmittelbar Bezug auf die Tätigkeit des Vereins.
Dominanz Berlins
Durch die Tandemfunktion der beiden Institutionen vergrößerte sich die Publikumswirkung enorm. Die Folge war, dass sich die Augen der Öffentlichkeit fortan auf Berlin richteten und das, was in der bayerischen Metropole geschah, nurmehr verminderte Aufmerksamkeit bei den Zeitgenossen erregte. Siegesgewiss schreibt Arno Holz schon am 31. Dezember 1889 in einem Brief an Oskar Jerschke: „Erzittere Gesellschaft, Moderne Dichtung etc. pp! Aus Berlin wird das Heil kommen […]! Aber, im Ernst, wir haben in der That alle Aussicht und Anwartschaft ‚in Bälde‘ das neue litterarische Deutschland bei uns und in uns zu zentralisieren.“ (Zit. nach Scheuer 1971, 143) Dies rief in der Münchner Fraktion, die sich – an die Monopolstellung der Gesellschaft gewöhnt – nach wie vor „als die naturalistische ‚Urkirche‘ ansah“ (Halbe 1976, 85), Verbitterung hervor. Tatsächlich aber hatten die Münchner Naturalisten die literarisch-publizistische Schlagkraft ihrer Kollegen in der Reichshauptstadt, die sich durch den geduldigen Aufbau von Organisationsstrukturen eine stabile Basis für ihre Aktivitäten schufen, völlig unterschätzt und konnten deshalb dem Durchbruch des Bühnennaturalismus anfangs kaum etwas entgegensetzen. Deutlichstes Indiz für diese partielle Blindheit ist die Ablehnung von Gerhart Hauptmanns Stück Vor Sonnenaufgang durch die Redaktion der Gesellschaft: Während Michael Georg Conrad und Karl Bleibtreu die Erzählung Bahnwärter Thiel noch selbstverständlich publiziert hatten, verweigerten sie dem Drama den Abdruck. Später haben sich beide die Verantwortung für diese fatale Fehlentscheidung gegenseitig zugeschoben. Im Grunde ist es belanglos, wer genau nun den Text zurückgewiesen hat, denn die Ablehnung selbst ist letztlich das Resultat von ästhetischen Wertmaßstäben, die sowohl Conrad als auch Bleibtreu vertraten.
Nachzüglerposition Münchens
Immerhin holte die Münchner Fraktion in kurzer Zeit auf mehreren Ebenen nach, was zuvor versäumt worden war. So gründeten Julius Schaumberger, Hanns von Gumppenberg, Georg Schaumberg und Otto Julius Bierbaum im Spätherbst des Jahres 1890 eine ‚Gesellschaft für modernes Leben‘, die noch weiterreichende Ziele verfolgte als die ‚Freie Bühne‘, indem sie ihren Aktionsradius auch auf die bildende Kunst auszudehnen bestrebt war. In der öffentlichen Ankündigung heißt es darüber:
Die ‚Gesellschaft für modernes Leben‘ stellt sich zur Aufgabe die Pflege und Verbreitung modernen, schöpferischen Geistes auf allen Gebieten: Soziales Leben, Litteratur, Kunst und Wissenschaft. Zu diesem Zwecke trifft die ‚Gesellschaft für modernes Leben‘ folgende Veranstaltungen:
1. Vortragsabende, in welchen einschlägige Fragen theoretisch und durch Vorlesung moderner Geisteswerke jeder Gattung beleuchtet werden.
2. Errichtung einer freien Bühne, welche unter dem Schutze des Vereinsgesetzes auch solche Werke zur Aufführung bringen wird, denen sich die öffentlichen Theater noch verschließen.
3. Sonderausstellungen von solchen Werken der der Gesellschaft angehörenden bildenden Künstler, welche für die moderne Entwickelung besonders kennzeichnend sind.
4. Herausgabe einer Zeitschrift, welche die Anschauungen der ‚Gesellschaft für modernes Leben‘ nach außen vertreten soll. (Conrad 1891, 3)
Die ‚Gesellschaft für modernes Leben‘ sollte also Vortragskreis (wie der ‚Durch!‘), Bühnenverein (wie die ‚Freie Bühne‘) und Ausstellungsorganisation in einem sein und obendrein noch eine eigene Zeitschrift (wie die Freie Bühne für modernes Leben) herausgeben. Allerdings ließ sich dieses überaus ambitionierte Vorhaben nur ansatzweise in die Tat umsetzen. Den Kern der Aktivitäten bildeten im Wesentlichen Lesungen und öffentliche Vorträge, die dann als „Münchener Flugschriften“ auch in Broschürenform vertrieben wurden. Außerdem wurde 1891 die Wochenschrift Moderne Blätter ins Leben gerufen, die aber nur 39 Nummern lang Bestand hatte. Zu den insgesamt 225 Mitgliedern der ‚Gesellschaft für modernes Leben‘ zählten u.a. Anna Croissant-Rust und Oskar Panizza.
Verschärfung des Gegensatzes München/Berlin
Da die Gründung eines eigenen Theatervereins in der bayerischen Metropole nicht gelang, blieben die Münchner Autoren in diesem Punkt auf die ‚Freie Bühne‘ in Berlin angewiesen. Das daraus resultierende Insuffizienzgefühl schlug vollends in Aggression um, als der Vorstand die Aufführung von Conrads Drama Firma Goldberg ablehnte. Der Herausgeber der Gesellschaft attestierte daraufhin den Berliner Kollegen einseitige Orientierung an der ausländischen Literatur und fehlendes Eingehen auf die nationalen Belange – also genau jene Defizite, die der Frühnaturalismus gegen die Epigonendichtung der Gründerzeit ins Feld geführt hatte; zugleich hob er positiv die regionale Komponente der Münchner Gruppe hervor, die er gegen die vermeintlich intellektualistische Tendenz des ‚konsequenten‘ Naturalismus in der Reichshauptstadt auszuspielen suchte. Doch auch in Berlin waren nicht alle Schriftsteller mit Otto Brahms Spielplangestaltung einverstanden. Es kam deshalb in rascher Folge zur Konstituierung weiterer Vereine, die sich teils als „Ergänzung“ (Günther 1972, 99), in der Mehrzahl aber als „Gegenunternehmen“ (Günther 1972, 98) zur ‚Freien Bühne‘ verstanden. Als Supplement gedacht war die am 10. Oktober 1890 ins Leben gerufene ‚Freie Literarische Gesellschaft‘, die ihre Mitglieder durch Vorlesungen und Rezitationen mit „Werken zeitgenössischer Dichter“, und zwar spezifisch „moderner Literatur“ (Tägliche Rundschau 10 [1890], 967), bekannt machen wollte. Ihr gehörten außer Heinrich Hart, Leo Berg und Wilhelm Bölsche auch Hermann Bahr, Theodor Fontane und Ernst von Wolzogen an. Als direktes Konkurrenzunternehmen konzipiert war dagegen die u.a. von Alberti, Bleibtreu und Kretzer ins Leben gerufene ‚Deutsche Bühne‘, die sich in polemischer Abgrenzung von Brahm ausschließlich die Aufführung zeitgenössischer deutscher Stücke zum Ziel setzte.
Sieg des Bühnennaturalismus
Die Gründung der ‚Freien Bühne‘ wirkte auf die weitere Entwicklung des deutschen Naturalismus letztlich wie ein Katalysator: Sie forcierte nicht nur die zeitgenössische Dramenproduktion, sondern stieß auch die Bildung ähnlicher weiterer Vereinigungen an. Auf diese Weise sorgte sie für eine rasche Ausdifferenzierung der naturalistischen Bewegung, beförderte indirekt aber auch das Entstehen von literarischen Gegenströmungen, weil die Etablierung des Naturalismus ihn für jüngere Autoren uninteressant werden und seine Hegemonie ästhetische Alternativmodelle entstehen ließ. Besonders die Organisationsform des Vereins sorgte für Querelen. Nicht wenige Mitglieder lehnten die nahezu unumschränkte Machtfülle, welche die Satzung dem Bühnenleiter gewährte, ab und betrachteten die dadurch gegebene ästhetische „Diktatur“ (Hart/Hart 2006, 52) mit Argwohn. Dazu gehörten etwa Theodor Wolff, Maximilian Harden und der Theateragent Stockhausen, die schon kurz nachdem Otto Brahm zum Direktor gewählt worden war, den Vorstand wieder verließen (an ihre Stelle rückten Ludwig Fulda, Gerhart Hauptmann und Fritz Mauthner). Andere kritisierten den hohen Mitgliedsbeitrag, der sozial stark selektierend wirkte und faktisch dazu führte, dass nur in materiell gesicherten Verhältnissen lebende Personen in den Genuss der Aufführungen kamen. Es verwundert deshalb nicht, dass schon bald Forderungen laut wurden, den Wirkungsradius des Vereins auf breitere Schichten der Gesellschaft auszudehnen – zumal der Gedanke einer sog. Volksbühne schon in der ersten Hälfte der achtziger Jahre von Heinrich Hart (vgl. Hart/Hart 1882–84, H. 4, 45ff.) und von Karl Henckell (vgl. Henckell 1885, 570) entwickelt worden war.
‚FreieVolksbühne‘
Den ersten Vorstoß dazu unternahm Bruno Wille. Weil sie von seinen Volkserziehungsbemühungen wussten, wandten sich Anfang 1890 zwei Mitglieder des Arbeiterbildungsvereins an ihn mit dem Vorschlag, neben der auf ein bürgerlich-intellektuelles Publikum zugeschnittenen ‚Freien Bühne‘ doch auch eine ähnliche Einrichtung für Arbeiter zu schaffen. Wille formulierte darauf einen Aufruf zur Gründung einer ‚Freien Volksbühne‘ und veröffentlichte ihn im März 1890 im Berliner Volksblatt und in der Freien Bühne für modernes Leben. Das Verhältnis zwischen dem Mutterverein und der Abspaltung stellt sich dabei folgendermaßen dar:
Der Zweck der ‚Freien Volksbühne‘ war es, dem 4. Stand sozialkritische, moderne und klassische Dramen nahe zu bringen. […] [Die Initiatoren] rechneten mit einem Publikum, dessen Bildungsstand und -auffassungsvermögen weit unter dem eigenen lag. Während die ‚Freie Bühne‘ bis zu einem gewissen Grade mit der geschmacklichen Verbildung ihres Publikums rechnete und es in ihrem Sinne umschulen wollte, beabsichtigte die ‚Freie Volksbühne‘ die nahezu völlige Unbildung ihres Publikums zu überwinden. (Günther 1972, 109)
Anders gesagt: „Mit der Konstituierung der Freien Volksbühne […] rückte das Problem der Arbeiterbildung in das Blickfeld einer weiteren Öffentlichkeit.“ (Voswinkel 1970, 259) Auf der Gründungssitzung der ‚Freien Volksbühne‘ am 29. Juli wurde Wille zum Vorsitzenden und Julius Türk zum Schriftführer gewählt; Bölsche, Brahm und Julius Hart fungierten, neben anderen, als Beisitzer. Zu den Stücken, die der Verein auf die Bühne brachte, zählen beispielsweise Ibsens Dramen Stützen der Gesellschaft, Ein Volksfeind (1890), Bund der Jugend (1891), Gespenster und Nora (1892), Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1890) und Die Weber (1893), Sudermanns Ehre (1891), Halbes Eisgang (1892), Anzengrubers Der Doppelselbstmord (1891) und Der Pfarrer von Kirchfeld (1892) sowie Zolas Thérèse Raquin (1892). Der Zuspruch der Arbeiterschaft war enorm: Bereits im Sommer 1890 hatte der Verein 1150 Mitglieder aufzuweisen, nach einem Jahr waren es 4000 und 1892 gar 8000 Personen.
‚Neue Freie Volksbühne‘
Zwei Jahre nach Gründung der ‚Freien Volksbühne‘ kam es zu einer folgenschweren Kontroverse zwischen Wille und den mit ihm befreundeten Kollegen einerseits und der Führung der Sozialdemokratie andererseits. Letztere warf ihm vor, seine Bildungsbestrebungen seien Ausdruck einer bourgeoisen Gesinnung; im Grunde wolle er die Arbeiter zu Bürgern erziehen. Außerdem sprachen sich einige Arbeiter dafür aus, die Führung der ‚Freien Volksbühne‘ künftig in die eigene Hand zu nehmen; Leiter wurde so Franz Mehring. Wille und die übrigen Naturalisten traten darauf aus dem Verein aus und riefen stattdessen eine ‚Neue Freie Volksbühne‘ ins Leben. Die entscheidende Differenz zwischen beiden bestand weniger im Programm als vielmehr in der Organisationsform. Wille erläutert dies in seinem Aufsatz Proletariat und Kunst, in dem er auf das Zerwürfnis mit der ‚Freien Volksbühne‘ näher eingeht:
Daß aber das Ereignis überhaupt eintreten konnte, lag an der Konstitution des Vereins, und letzten Endes an der Beschaffenheit vieler „zielbewußter Genossen“. Das Statut der freien Volksbühne war eben ein „demokratisches“, d.h. die Mitglieder hatten, wenn auch indirekt, die Leitung in den Händen. Schon vor der Gründung, im Freundeskreis, hatte ich vor dieser Konstitution gewarnt. Doch der Hinweis auf die „demokratischen“ Gewohnheiten der Berliner Arbeiter, die Befürchtung, daß eine „undemokratische“ Volksbühne keinen Anklang werde finden können, die Opportunitätspolitik gewichtiger Förderer meines Unternehmens nahm mich damals ins Schlepptau […] Will das Publikum einer freien Volksbühne geistig mehr werden als es ist, so darf man es durchaus nicht selber den Verein leiten lassen, auch nicht indirekt, indem es den Leiter wählt […]. Ich habe im Vereinsleben die Erfahrung gemacht, daß die „Demokratie“ […] durchaus nicht immer geeignet ist, sachverständige Leute auf die Posten zu bringen, zu denen sie berufen sind. […] Die Organisation, die ich für wahrhaft berufen halte, die künstlerische Erziehung des Volkes, eine Vermählung von Proletariat und Kunst zu vollziehen, hat eine gewisse Verwirklichung gefunden, in unserer „Neuen freien Volksbühne“. Ihr Prinzip ist die freie Vereinbarung. Eine Gruppe von Leuten, die sich selbst und einander für sachverständig halten, veranstaltet eine Volksbühne vollkommen selbstständig und ohne eine anderes Mandat zu haben, als die Zustimmung der Vereinsmitglieder, wie sie einfach in deren Beitritt zum Verein zum Ausdruck gelangt. ([Ettlinger] 1905, 20–22)
Dementsprechend lautet die Satzung der ‚Neuen Freien Volksbühne‘:
Der Verein bezweckt, seinen Mitgliedern erhebende und befreiende Kunstwerke aller Gattungen, insbesondere Theatervorstellungen, Dichtungen und Musikwerke, nach Möglichkeit auch Werke der Bildhauerei und Malerei vorzuführen und durch Vorträge und Aufsätze zu erläutern. […] Der Vorstand, welchem die Leitung der Vereinsgeschäfte obliegt, entscheidet in Gemeinschaft mit dem künstlerischen Ausschuß über sämtliche künstlerische Vereinsangelegenheiten. (Chung 1989, 295)
Wie sich hier in aller Deutlichkeit zeigt, differierten die Vorstellungen, welche Aufgaben privat gegründete Bühnenvereine haben und wie diese Ziele am ehesten zu erreichen sind, erheblich. In den knapp drei Jahren (1893–95), in denen Bruno Wille die Leitung der ‚Neuen Freien Volksbühne‘ innehatte, wurden u.a. aufgeführt: Anzengrubers Dramen Der G’wissenswurm, Die Kreuzelschreiber und Das vierte Gebot, Tolstois Macht der Finsternis, Hauptmanns Stücke Die Weber und Einsame Menschen, Halbes Jugend und Ibsens Ein Volksfeind. Spätestens mit dem Jahr 1895 erreichten die Institutionalisierungsbemühungen der Naturalisten einen Endpunkt: Die ‚Freie Bühne‘ hatte ihre Aktivitäten weitgehend eingestellt, und Bruno Wille gab die Leitung der ‚Neuen Freien Volksbühne‘ ab. Parallel dazu ging auch die Textproduktion merklich zurück, weil Autoren wie Hauptmann, Holz oder Schlaf sich mittlerweile ästhetisch neu zu orientieren begonnen hatten. Jene Werke, die auch weiterhin Strukturmerkmale aufwiesen, die dem Naturalismus entsprechen, stammen meist von Epigonen. Für literarische Debütanten jedenfalls hatte die Diskursformation keine Verbindlichkeit mehr.
Ästhetische Prämissen
Der Naturalismus verfolgt ein künstlerisches Programm, das auf einer Reihe ontologischer und erkenntnistheoretischer Basisannahmen aufruht. Zur Charakterisierung des neuen Denkansatzes hat Maximilian Harden folgende prägnante Formel geprägt: „Naturalismus = Panphysismus im Gegensatz zum klassisch-romantischen Theismus und Pantheismus“ (Harden 1890, 341). Damit wird die doppelte Frontstellung zu jeder Form von Metaphysik, besonders zum christlichen Schöpfungsgedanken, wie zur idealistischen Philosophie betont. An deren Stelle rückt ein strikt diesseitsorientierter Empirismus, der gleichwohl nicht beim bloßen Augenschein stehen bleiben, sondern die Funktionsmechanismen aufspüren will, welche das positiv Gegebene organisieren. ‚Natur‘ wird dabei als hochkomplexes, lückenloses Bedingungsgefüge in der Art eines selbstorganisierenden Systems verstanden, das unumstößlichen Ablaufregeln folgt. An der Entdeckung und Darstellung dieser ‚Gesetze‘ ist nach Überzeugung der Naturalisten nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Kunst beteiligt. Ihre Aufgabe besteht darin, sich strikt an der ‚Natur‘ zu orientieren, und zwar indem sie sich zu deren Beschreibungsmedium macht und dabei jene Entstellungen vermeidet, die durch ästhetische Gestaltungskonventionen bedingt sind. ‚Natur‘ fungiert demnach als Korrektiv bestehender – sozialer, ökonomischer und ästhetischer – Verhältnisse, markiert aber zugleich auch die unübersteigbare Grenze für menschliche Veränderungswünsche. Ein solcher Denkansatz mag heute fremd wirken; er markiert freilich eine wichtige Etappe auf dem Weg der Abkehr von metaphysischen Erklärungsmodellen und der Relativierung idealistischer Denkkonzepte. Die Literatur des Naturalismus ist der ästhetische Reflex dieses Paradigmenwechsels, setzt sie sich doch „zum Ziel, das Pathos der idealistischen Kunstauffassung, die sich an selbstgesetzten Ideen orientierte, zu disziplinieren und zum Gehorsam gegenüber dem Nomos der Naturgesetze zu verpflichten“ (Kluwe 2001, 219). Wie fundamental damit gegen gängige Erwartungen verstoßen wurde, mag die Äußerung eines Zeitgenossen illustrieren, der als Ergebnis der naturalistischen Literaturrevolte bedauernd konstatiert: „Die Poesie ist von ihrer stolzen, idealen Götterhöhe herabgestiegen, hat den leuchtenden Sternenmantel abgeworfen, sich in gemeine Lumpen gehüllt, und fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt“ (Philipp 1892, 3).
„Rückkehr zur Natur“
Worum es den Naturalisten ging, war – wie Zola in Anlehnung an Rousseau postulierte – eine „Rückkehr zur Natur“ (Zola 1904, 7) bzw. – wie Julius Hart es einmal ausdrückte – eine „Vermählung von Kunst und Natur“ (Hart/Hart 2006, 157). Brahm sieht die literaturgeschichtliche Entwicklung geradezu als Beleg dafür, „wie die Kunst sich die Kunst aneignet, immer mehr Natur in sich aufzunehmen“ (Brahm 1891, 491). Erkennbar ist hier ein „Begriff der Natur, der als das ‚Andere‘ von Kunst der identifizierenden Differenzierung dient […], der ihr als das […] Natürliche, Unverdorbene, Unvermittelte gegenübergestellt […] [ist] und aus dem Literatur Stoff (die ‚Welt‘) und Anspruch (auf ‚Wahrhaftigkeit‘) ziehen“ (Bolterauer 2003, 102) kann. In der Tat fungiert das Schlagwort ‚Natur‘ nicht nur als „Taufpate der Bewegung“, sondern zugleich als ihr „Angelpunkt“ (Schulz 1971, 411). Zola hat mit seiner Definition: „Une œuvre d’art c’est un coin de la nature vu à travers un tempérament“ das Verhältnis von Kunst und Natur auf einen kurzen Nenner gebracht. Fortan war die Kunst auf strikten Realitätsbezug verpflichtet, der Hinweis auf das „tempérament“ sicherte aber auch der Subjektivität des Künstlers noch ein Residuum.
Nutzung formal wenig reglementierter Genres
Die deutschen Naturalisten verschoben die Gewichte zunächst sehr weit in Richtung auf den darstellenden Künstler. Da eine der Hauptursachen für den qualitativen Niedergang der Dichtkunst die „Loslösung der Form vom Inhalte“ (J. Hart 1890, XI) sei, müsse im Gegenzug der Spielraum künstlerischer Individualität erweitert werden. Der sterile „Formalismus“ (J. Hart 1890, X) der epigonalen Gründerzeitliteratur könne nur dann überwunden werden, wenn der Dichter sich wieder – wie zur Zeit der Genieästhetik (vgl. Kapitel III.5.) – frei mache von einengenden Formkonventionen. Durch den Hinweis auf die Authentizität subjektiven Ausdrucksbestrebens war es möglich, zahlreiche aus dem Traditionsfundus normativer Poetik stammende Vertextungsregeln außer Kraft zu setzen. Um dem individuellen Gestaltungswillen des jeweiligen Autors größtmöglichen Spielraum zu geben, sprachen sich die naturalistischen Theoretiker vor allem für die Nutzung formal wenig reglementierter Genres aus. Im Bereich der Lyrik hatte dies einen weitgehenden Verzicht auf herkömmliche Poetizitätsmerkmale wie Reim, Strophe und Metrum zur Folge. Viele Schriftsteller griffen die von den Harts ausgesprochene Empfehlung, „Poeme […] in freierer, reimloser Form“ (Hart/Hart 1882–84, Heft 3, 56) zu verfassen, auf, und so erlebten besonders freirhythmische und Knittelversdichtungen seit Mitte der achtziger Jahre einen lebhaften Aufschwung; parallel dazu entstanden auch die ersten Prosagedichte in deutscher Sprache.
Ausweitung des Themenspektrums
Doch die naturalistische Revolte hatte beileibe nicht nur Rückwirkungen auf äußere Gestalt und Struktur der Texte. Auf Grund ihrer „kämpferischen Opposition gegen die Welt des schönen Scheins“ (Münchow 1968, 161) forderten die Autoren der jungen Generation auch eine Ausweitung des literarischen Themenspektrums in Richtung jener Bereiche, die bislang weitgehend tabuisiert waren; zu nennen wären hier vor allem Sexualität, Krankheit und soziales Elend. Conradi vertritt deshalb in seinem Aufsatz Das sexuelle Moment in der Literatur die Auffassung, dass dem Künstler „in puncto Motivwahl alles erlaubt“ (Conradi 1911, Bd. 2, 11) sein müsse. Bölsche bekräftigt diese Ansicht ausdrücklich: „Die Kunst darf als solche darstellen, was sie will, es giebt keinen Censorstandpunkt für sie, der aus dem ‚Stoff‘ ein Sittenurtheil spinnt.“ (Bölsche 1896/97, 206) Alberti spitzt diesen Gedanken dann apodiktisch zu und erklärt kurzerhand, als Stoff der Kunst stehe „der Tod des größten Helden nicht höher, als die Geburtswehen einer Kuh“ (Alberti [1890], 11).
Veränderter Realitätsbezug
Im Zuge dieses veränderten Realitätsbezugs wurde nicht nur die Großstadt als spezifisch moderner Erfahrungsraum entdeckt, es gelangten auch gesellschaftliche Schichten in den Wahrnehmungsfokus der Literatur, die vordem übersehen oder gezielt ausgeklammert worden waren: Fabrikarbeiter, Tagelöhner oder Prostituierte. Die Aufmerksamkeit richtete sich jedoch keineswegs nur auf soziale Randbereiche, der Blick fiel auch auf psychische Begleiterscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft. Naturalistische Texte dokumentieren ausführlich mentale und emotionale Phänomene wie Statusdenken, Leistungsdruck, Sozialneid, Versagens- und Abstiegsängste. Erfaßt werden soll jeweils ein ganzer Verhaltenshabitus, der das Ineinandergreifen biologischer Prägefaktoren und sozialer Normen bezogen auf Körper und Psyche eines einzelnen erkennbar macht. Julius Hillebrand verlangte von der modernen Literatur denn auch die Darstellung „streng individualisierter Typen“ (Hillebrand 1886, 235).
Die ‚Studie‘ als ästhetisches Modell
In jedem Fall war gefordert, „Studien nach der Natur“ ([Conrad] 1885, 2) zu betreiben. Das Musterbeispiel einer solchen investigativen Vorgehensweise lieferte Zola, von dem Michael Georg Conrad berichtet, dass er im Vorfeld seines im Prostituiertenmilieu spielenden Romans Nana „einige Monate lang kreuz und quer die […] Welt, in denen sich die Cocotte bewegt“, „durchforscht“ (Conrad 1880, 214) habe. Ein enger Realitätsbezug, der sich auf empirische Fakten und eigene Anschauung stützen kann, galt deshalb für die meisten Naturalisten als unabdingbar. Max Kretzer etwa erklärte kurzerhand: „Der realistische Schriftsteller bedarf seiner Modelle, hat dieselben gründlichen Studien zu machen, wie jeder Maler, der es ernst mit seiner Kunst meint. […] Und um die wirkliche Welt mit ihren Höhen und Tiefen kennen zu lernen, dazu gehören Studien, Studien und nochmals Studien.“ (Kretzer 1885, 671) Die Art und Weise, wie diese „Studien“ im einzelnen betrieben wurden, differiert freilich erheblich. Conrad beispielsweise porträtierte in seinem Roman Was die Isar rauscht bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in München und orientierte sich bei der Beschreibung von ‚Menschen aus dem Volke‘ an konkreten Vorbildern seines täglichen Umgangs. Hauptmann wiederum unternahm zur Vorbereitung seines Weber-Dramas im Frühjahr 1891 zwei Reisen nach Schlesien, um das Elend der dortigen Arbeiter mit eigenen Augen zu sehen, und schrieb dabei seine Eindrücke nieder.
Leitbild ‚Skizze‘
Das Ethos unbedingter Wirklichkeitsnähe beeinflusste indes nicht nur den Prozess schriftstellerischer Materialgewinnung, sondern wirkte sich auch auf die Struktur der Texte aus. „Studien“ nämlich, die sich an „der Natur“ orientierten, wirkten per se authentisch, auch wenn sie vorgegebenen ästhetischen Gestaltungsregeln nicht entsprachen. Der wissenschaftliche Gestus, der mit dieser Aufzeichnungsmethode verbunden war, trug mithin entscheidend dazu bei, dass neue literarische Formen akzeptiert wurden. Fortan galten auch Texte als legitim, die nach herkömmlichen Maßstäben als unabgeschlossen galten oder sich dazu bekannten, etwas nur vorläufig festzuhalten. So weisen etwa Arno Holz und Johannes Schlaf in der Vorrede ihrer Textsammlung Papa Hamlet (1889) ausdrücklich darauf hin, dass die hier abgedruckten Kurzprosastücke „nicht etwa bereits als abgerundete Kunstwerke, sondern nur als ‚Studien‘ zu solchen“ (Holz/Schlaf 1982, 18) aufzufassen seien. Für viele Schriftsteller wurde es mehr und mehr zum Darstellungsziel, der literarischen Produktion „nicht bloß möglichst viel von der Frische des Entwurfes zu belassen, sondern ihr geradezu den Charakter des Entwurfes, von etwas Unfertigem, gleichsam im Entstehen Begriffenem, zu geben“ (Servaes 1898/99, 55). Die Texte verfahren deshalb häufig stark selektiv und bieten nurmehr Realitätsausschnitte, oft sogar in fragmentarischer Form. Neben dem Begriff der ‚Studie‘ bürgerte sich denn auch die Bezeichnung ‚Skizze‘ ein. Conradi versah seine Textsammlung Brutalitäten (1886) mit dem Untertitel „Skizzen und Studien“, und Mackay gab seinem Band Schatten (1887) die Gattungszeichnung „Novellistische Studien“; gleichfalls als „Novellistische Studie“ bezeichnete Hauptmann seine Erzählung Bahnwärter Thiel (1888), während Holz und Die papierne Passion (Olle Kopelke) (1890) „Eine Berliner Studie“ nannten. Die Wahl von Termini wie ‚Skizze‘ oder ‚Studie‘ indiziert jeweils einen weitgehenden Verzicht auf jede Form von Totalität bei der Wirklichkeitserfassung und einen Abschied vom organologischen Werkmodell. Die tradierte Norm künstlerischer Geschlossenheit war damit abgelöst und wurde ersetzt durch eine Ästhetik der ‚Offenheit‘, die Unfertigkeit und Ausschnitthaftigkeit zu Leitwerten erhob.
Der ‚soziale Roman‘
Der Roman als erzählerische Großgattung behielt freilich seine Bedeutung, zumal er – verstanden als „Dichtung der ununterbrochenen organischen Entwicklung“ – die literarisch adäquate „Form des darwinistischen Zeitalters“ (Alberti [1890], 241f.) zu sein schien. Allerdings unterscheidet er sich vom Texttyp ‚Studie‘ gelegentlich nur durch den größeren Umfang. Die Ähnlichkeit der Vertextungsweise führte in vielen Fällen zu einer episodischen Struktur: Anstatt ein komplexes Geschehen erzählerisch zu bündeln, wie das Zola in seinen Werken tat, verfahren viele deutsche Romane des Naturalismus eher additiv. Beispiele hierfür sind Conradis, Conrads und Albertis Romantexte. Die beiden Letztgenannten versuchten zugleich aber auch, das von Zola mit Les Rougon-Macquart (1871–91) begonnene Muster des Romanzyklus nachzuahmen. So projektierte Conrad eine zusammenhängende Folge von insgesamt zehn Romanen, von der immerhin drei Teile – Was die Isar rauscht (2 Bde., 1888), Die klugen Jungfrauen (3 Bde., 1889) sowie Die Beichte des Narren (1893) – erschienen, und Alberti legte die sechsbändige „Romanreihe“ „Der Kampf ums Dasein“ (1888–95) vor. Parallel dazu wurde die in Deutschland seit dem Vormärz bestehende Tradition des ‚sozialen Romans‘ wiederbelebt. Das Stichwort dafür gab Karl Bleibtreu, der 1886 erklärte: „Die höchste Gattung des Realismus ist der sociale Roman.“ (Bleibtreu 1973, 36). Um an diese Tradition anknüpfen zu können, wurden Romanhandlung und -personal der Milieutheorie entsprechend regional akzentuiert. So trägt etwa Was die Isar rauscht den Untertitel „Münchener Roman“; den kurz zuvor publizierten Erzählungsband Totentanz der Liebe (1885) hatte Conrad ganz ähnlich mit der Bezeichnung „Münchener Novellen“ versehen. Parallel dazu entwickelte Max Kretzer den – kommerziell wesentlich erfolgreicheren – Typus des sog. Berliner Romans, der mit seiner ausschnitthaften Beschränkung auf die Topographie der Reichshauptstadt minutiöse Lokalschilderung mit einer umfassenden Sicht auf die Metropole als Mikrokosmos modernen Lebens zu verbinden trachtete. Gleichwohl gelangte die Prosa des deutschen Naturalismus kaum über die bereits erreichten literarischen Standards hinaus. Inhaltlich fand im Wesentlichen eine aktualisierte Fortschreibung des Gattungsschemas ‚sozialer Roman‘ statt, und formal kam es vielfach zu einer Neubelebung des von Karl Gutzkow begründeten ‚Roman des Nebeneinander‘.
Experimente mit Sprache und Form
Ein Vorstoß in ästhetisches Neuland gelang erst in den experimentellen Texten des ‚konsequenten‘ Naturalismus. Die Namengebung dieser von Arno Holz und Johannes Schlaf geprägten radikalen Spielart des Naturalismus, die im internationalen Vergleich eine Sonderentwicklung darstellt, hat mehrere Wurzeln: Sie geht zunächst auf eine Formulierung Wilhelm Bölsches zurück, der schon 1888 in einem Aufsatz von den „konsequenten Realisten“ (Bölsche 1888, 236) gesprochen hatte, rekurriert aber auch auf eine Selbstcharakteristik Holz‘/Schlafs sowie auf eine daran anschließende Formulierung Gerhart Hauptmanns. Als nämlich Holz und Schlaf ihren Band Papa Hamlet veröffentlichten, wagten sie es nicht, ihn unter eigenem Namen zu publizieren. Stattdessen bedienten sie sich eines Pseudonyms: Bjarne P. Holmsen. Holz und Schlaf gaben zudem vor, die Texte seien aus dem Norwegischen übersetzt worden und zwar von einem – gleichfalls nicht existierenden – Dr. Bruno Franzius. Die hinter diesem Manöver stehende Absicht ist offenkundig: Der erfundene Name eines Skandinaviers sollte einem bis dato nicht dagewesenen literarischen Experiment jene Akzeptanz sichern, die einem deutschen Autor nicht ohne Weiteres zuteil geworden wäre. Und tatsächlich funktionierte der Trick. Hauptmann, der als einer der wenigen die wahren Urheber kannte, half sogar noch dabei, die aufgebaute Illusion aufrechtzuerhalten, indem er seinem Drama Vor Sonnenaufgang folgende Widmung voranstellte: „Bjarne P. Holmsen, dem konsequentesten Realisten, Verfasser von Papa Hamlet, zugeeignet, in freudiger Anerkennung der durch sein Buch empfangenen, entscheidenden Anregung.“ (Münchow 1970, Bd. 1, 236) Seine Bezeichnung greift eine Selbstcharakterisierung von Holz und Schlaf auf, die in der fingierten „Einleitung des Übersetzers“ von der „vor keiner Konsequenz zurückschreckenden Energie […] [der] Darstellungsweise“ (Holz/Schlaf 1982, 17) Holmsens gesprochen haben.
‚Konsequenter‘ Naturalismus
Die eigentliche Leistung des ‚konsequenten‘ Naturalismus nun besteht in seiner besonderen Handhabung von Sprache, die so zum Einsatz gebracht wird, dass sie einen veränderten literarischen Fiktionsmodus erzeugt. Ausgehend von der Prämisse, „daß der Naturalismus eine Methode ist, eine Darstellungsart und nicht etwa ‚Stoffwahl‘“ (Holz 1924/25, Bd. 10, 271), folgerten Holz und Schlaf: „Man revolutioniert eine Kunst […] nur, indem man ihre Mittel revolutioniert.“ (Holz 1924/25, Bd. 10, 490) In der Praxis sah dies so aus, dass die Literatur nicht mehr vorrangig zum Aufbau einer konsistenten Welt der Narration genutzt, sondern stattdessen in einem bislang nicht dagewesenen Maß zur Nachahmung außerliterarischer Realität eingesetzt wurde. Während jede Beschreibung von Dingen oder situativen Zuständen bis dahin unter dem Zwang stand, funktional für die erzählte Geschichte und damit für die im Zentrum des Interesses angesiedelte Handlung zu sein, brachen die Autoren des ‚konsequenten‘ Naturalismus mit diesem Prinzip. Geleitet von der Überzeugung, dergestalt die Umstände des Geschehens genau zu bestimmen und so die Determinanten menschlichen Handelns offenzulegen, befreiten sie die literarische Darstellung von der Fixierung auf plot und erzählerischen Spannungsaufbau. Im Endeffekt emanzipiert sich hier die Narration vom Zwang fortschreitender Mitteilung und nähert sich der Zustandsschilderung an. Das Sprachmaterial bleibt zwar noch im Dienst der Beschreibung, doch verselbständigt es sich gewissermaßen unter der Hand, weil es nurmehr dem Gebot der Mimesis, aber nicht mehr Zwecken narrativer Ökonomie gehorcht. Während das Wortmaterial im ‚konsequenten‘ Naturalismus ganz in den Dienst der Beschreibung gestellt wird, was einen weitgehenden Verzicht auf Tropen erfordert, kommt es im Gegenzug zu einer deutlichen Aufwertung der Interpunktion als Ausdrucksmittel. Um Pausen oder das Stocken mündlicher Rede im Text wiederzugeben und Phrasierungen des Gesprochenen erkennbar zu machen, werden in großem Umfang Interpunktionszeichen wie Gedankenstriche, Auslassungspunkte, Frage- und Ausrufezeichen eingesetzt. Als Beispiel hierfür sei zunächst eine Passage aus Papa Hamlet angeführt:
Eine Diele knackte, das Öl knisterte, draußen auf die Dachrinne tropfte das Tauwetter.
Tipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipp . . . . . . . . . . . . . . . Tipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Holz/Schlaf 1982, 62)
Semantisierung der Interpunktion
Die hier begegnende Kombination von bedeutungstragender Interpunktion und Lautmalerei erscheint alles in allem noch relativ vertraut. Wird jedoch Dialektsprache mit einer semantisch aufgeladenen Zeichensetzung amalgamiert, dann sind die Grenzen der Verständlichkeit rasch erreicht. Verdeutlichen mag das folgender Dialogfetzen aus der „Berliner Studie“ Die papierne Passion (Olle Kopelke) von Arno Holz und Johannes Schlaf: „,Nee! Nee! So’nn Frooenzimmer! So’nn … pfff?! Ooch schlecht!! Ick sag’t ja! Warum nich jleich lieberst in de Beene?? So’nn Miststicken!! Na komm du mir man! Ick weer dir schon inweihen! – – – Wat?? … Enzen … Zween …‘“ (Schulz 1973, 97) Wie fremd die ungewohnte Semantisierung der Interpunktion wirkte, zeigt der Umstand, dass sich viele Zeitgenossen über „die ‚Interjektionspoesie‘ des ‚Uebernaturalismus‘, der mehr durch Gedankenstriche ausdrückt, als durch Gedanken“ (Tägliche Rundschau 13 [1893], Unterhaltungs-Beilage, 308), beklagten. Leo Berg sprach gar abfällig von „Taubstummenpoesie“ (vgl. Berg 1896, 375–380).
„Mimik der Rede“
Im Gegensatz etwa zur Literatur des Realismus, die den Eindruck von Wirklichkeitsnähe dadurch herstellt, dass sie mit den Mitteln der Fiktion eine Welt generiert, die der tatsächlichen ähnelt, verfolgt der ‚konsequente‘ Naturalismus also eine radikalisierte Form von Mimesis. Er reduziert die narrativen Textanteile und ersetzt sie durch szenische. Anstatt zu erzählen, löst er das Geschehen weitgehend in Dialoge auf. Anders aber als beispielsweise in den Gesprächsromanen Theodor Fontanes ist nicht mehr der Inhalt des Gesprochenen von Belang, vielmehr rückt die Wiedergabe individueller Artikulationseigentümlichkeiten der jeweiligen Sprecher in den Mittelpunkt, die mit phonographischer Präzision nachgebildet werden. Der Kritiker Franz Servaes hat die Verfahrensweise von Holz und Schlaf folgendermaßen charakterisiert:
[…] sie beobachteten und reproduzierten […] in der treuesten Weise, was man die „Mimik der Rede“ nennen kann: jene kleinen Freiheiten und Verschämtheiten jenseits aller Syntax, Logik und Grammatik, in denen sich das Werden und Sichformen eines Gedankens, das unbewußte Reagieren auf Meinungen und Gebärden des Mitunterredners, Vorwegnahme von Einwänden, Captatio benevolentiae und all‘ jene leisen Regungen der Seele ausdrücken, über die die Wiederspiegler des Lebens sonst als „unwichtig“ hinwegzugleiten strebten, die aber gerade meist das „Eigentliche“ enthalten und verraten. (Zit. nach Holz 1924/25, Bd. 10, 254)
„Phonographische Methode“
Holz nannte deshalb die von ihm und Schlaf entwickelte Verfahrensweise „phonographische Methode“:
Es scheint, als imitierten Holz und Schlaf den Phonographen, leisteten lediglich eine verwirrende Umschrift einer Tonaufnahme. Diese bewußte Fiktion ist jedoch alles andere als bloße Imitation des naturwissenschaftlich begründbaren Vorgangs der Aufzeichnung, sie nimmt vielmehr die mit dem Begriff der „Phonographie“ gegebene Metapher ernst. Sie treibt so die Sensibilisierung des Lesers für die Phonomorphie der Sprache extrem hervor. (Schanze 1983, 465)
Nicht mehr durch den über eine zwischengeschaltete Erzählinstanz wiedergegebenen Gesprächsbericht oder die Beschreibung von Gestik und Mimik werden Figuren charakterisiert, sondern durch die protokollarische Wiedergabe ihrer Verlautbarungen, die mundartliche Färbung ebenso einschließt wie Sprechgeschwindigkeit, Artikulationsweise und Phrasierung der Rede. Zugleich wird versucht, auch die bislang unterschätzte non- oder allenfalls halbverbale „,Parallelsprache‘ der Gesten, des Mienenspiels, der Körperbewegungen und der unkontrollierten Ausrufe“ (Kafitz 1982, 300) in den Blick zu rücken.
„Kunst = Natur -x“
Die Darstellungstechnik von Holz und Schlaf ist damit ganz jener „kühlen, parteilosen, sachlichen, ‚wissenschaftlichen‘, Beobachtung und Wiedergabe der Wirklichkeit“ (Kretzer 1888/89, 353) verpflichtet, die zu den elementaren Zielen des Naturalismus gehört. Selbst der in ästhetischen Belangen sonst eher auf Vermittlung bedachte Heinrich Hart sprach sich Ende der achtziger Jahre dafür aus, dass der Autor dem „Geist der absoluten Objektivität“ folge, was in der literarischen Praxis „zugleich […] das Zurückdrängen des Subjekts bedeutet“ (H. Hart 1889, 52). Dies indiziert eine deutliche Abkehr von den Positionen des Frühnaturalismus. Das rückwärtsgewandte Wunschbild selbstgewisser Verfügungsgewalt über den Stoff durch ein geniegleiches Autorindividuum weicht dem Ethos unverfälschter Realitätsschilderung, durch welches das wahrnehmende Subjekt in die Rolle des Protokollanten gedrängt wird. Allenfalls in der konkreten sprachlichen Organisation literarischer Mimesis tritt der Schriftsteller noch zutage. Ihren greifbarsten Ausdruck hat die Selbstverpflichtung zu einer möglichst naturgetreuen Wiedergabe der Wirklichkeit in Arno Holz‘ berühmter Formel „Kunst = Natur – x“ (Holz 1924/25, Bd. 10, 80) gefunden, wobei die Variable „x“ in dieser Gleichung für die „Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung“ (Holz 1924/25, Bd. 10, 83) steht und niemals völlig zum Verschwinden gebracht werden kann. Wie sich bei genauerem Hinsehen zeigt, ist Holz‘ ‚Kunstgesetz‘ letztlich ein begrifflich präzisierter und um medientheoretische sowie kunstsoziologische Aspekte erweiterter Gegenentwurf zu Zolas Diktum „une œuvre d’art c’est un coin de la nature vu à travers un tempérament“. Während der französische Autor „noch […] das Objektive und Subjektive in einer sich gegenseitig relativierenden Mischung verbunden hatte“ (Holz/Schlaf 1982, 108), erscheint bei Holz die Individualität des Künstlers eher als – freilich nicht zu vermeidendes – Störelement, das die Präzision des ästhetischen Reproduktionsprozesses beeinträchtigt.
Ausweitung der Regiebemerkungen
Der Ehrgeiz der ‚konsequenten‘ Naturalisten richtete sich darauf, Wirklichkeit möglichst ungefiltert zur Darstellung zu bringen. Das Bestreben, in literarischen Texten weitgehend auf Vermittlungsinstanzen zu verzichten, hatte Folgen in zweierlei Richtung: Während die Narrativik im Gefolge der damit eingeleiteten „Eliminierung des persönlichen Erzählers“ (Müller-Salget 1974, 62) szenische Gestaltungselemente wie Dialoge ohne Inquit-Formel übernahm, machte die Dramatik sich umgekehrt Verfahrensweisen der Erzählprosa zu eigen. Am deutlichsten greifbar ist das im Fall der Regiebemerkungen, die z.T. beträchtlichen Umfang gewinnen, was wiederum ihre Funktion einschneidend verändert. So lautet etwa die Bühnenanweisung des ersten Aktes von Elsa Bernsteins Drama Dämmerung:
Ein großes, aber nicht zu tiefes Parterrezimmer. Die Mittelwand […] führt in Isoldens Schlafzimmer. Rechts vorn eine große Glastüre, führt über eine Veranda in den Garten. Rechts rückwärts großes Fenster. Links zwei einflügelige Türen. Die vordere führt in Ritters Schlafzimmer. Die andere nach dem Korridor. Zwischen den beiden Türen an der Wand ein bequemes Sofa, darüber eine Beethovenphotographie. Ovaler Tisch, Lehnstühle. Auf dem Tisch eine geöffnete rote Mappe: Photographien, die „sieben Raben“ von Schwind. Eine Hängelampe mit verstellbarem grünem Schirm. […] Links, im Winkel zwischen Schiebtüre und Fester, ein schräg gestellter Herrenschreibtisch. Darüber eine Brustbild Isoldens in Pastell. Zwischen Fenster und Glastüre ein Piano mit Wagnerbüste, zerstreuten Büchern und Noten. Alle Möbel sind aus mattbraunem Mahagoni, altmodisch, aber geschmackvoll und bequem. Lehnstühle und Sofa mit rotbraunem Rips bezogen. – Die Glastüre ist zugelehnt. Auf den Scheiben ein wenig rotes Abendlicht, rasch verschwindend. Es dämmert. Isolde sitzt neben dem Tisch im Lehnstuhl, die Füße auf einem Schemel, den Kopf seitwärts gelehnt, die Schultern zusammengezogen. Die Augen sind geschlossen. Im Schoß liegt ihr ein blauer Zwicker. Lange blonde Zöpfe mit hellblauen Bändern gebunden. Weißes Sommerkleid. Sie wendet ein paarmal den Kopf unruhig hin und her, drückt die Hand an die linke Schläfe und ächzt. (Cowen 1981, Bd. 1, 561)
Die Hauptaufgabe einer solch ausführlichen Darstellung des Schauplatzes besteht natürlich darin, das Milieu der handelnden Figuren so genau wie möglich zu schildern. Das betrifft zunächst ihren sozialen Stand. Größe und Einrichtung der nur ausschnittweise sichtbaren Wohnung lassen klar erkennen, dass wir es hier mit Personen aus dem wohlsituierten Bürgertum zu tun haben, für die obendrein die Kunst eine bestimmende Rolle spielt. Zugleich lassen sich aus bestimmten Details aber auch schon tiefergehende Rückschlüsse auf Selbstverständnis und Haltung einzelner dramatis personae und ihr Verhältnisses untereinander ziehen. Weist die „Beethovenphotographie“ zunächst nur auf den hohen Stellenwert der Musik in diesem Hause hin, so indiziert die „Wagnerbüste“ unmissverständlich, dass der hier mit seiner Tochter lebende Dirigent Heinrich Ritter kein ästhetischer Traditionalist ist, sondern sich aufgeschlossen für die musikalische ‚Moderne‘ zeigt. Die exponierte Lage von Isolde Ritters Schlafzimmer in Kombination mit dem „Brustbild […] in Pastell“ lässt darüber hinaus erkennen, welch zentraler Status der Tochter in dieser (Rumpf-)Familie zukommt. Invers bestätigt wird das durch die an der Positionierung von väterlichem Schlafzimmer und „Herrenschreibtisch“ abzulesende eher randständige Stellung des Familienoberhaupts. Der Umstand schließlich, dass die längst erwachsene Isolde, die offenbar Sehschwierigkeiten hat, sich nach außen ebenso mädchenhaft wie leidend gibt, deutet darauf hin, dass es sich bei ihr um eine schwierige Persönlichkeit mit eigenwilligen Verhaltensweisen (Koketterie plus Wehleidigkeit) handelt, was sich im Verlauf des Stücks sehr bald bestätigt.
Die Regiebemerkungen beschränken sich freilich nicht auf einzelnen Akten vorangestellte Angaben, wie das Bühnenbild gestaltet werden soll, sondern sie durchziehen häufig den gesamten Dramentext. Helmut Praschek hat einmal bezogen auf Hauptmanns Weber eine Statistik erstellt, die das Verhältnis von Dialogpartien und Regiebemerkungen beziffert, und kommt dabei zu folgendem Ergebnis: „Der Zwischentext stellt […] fast ein Viertel des gesamtes Wortbestandes des Dramas. Streckenweise beträgt sein Umfang ein Vielfaches des Textes. So enthalten die ersten zwei Seiten des zweiten Aktes von Vor Sonnenaufgang 762 Wörte Zwischentext und nur 122 Worte Text, ein Verhältnis von 6:1.“ (Praschek 1957, 140) Die Schlussfolgerung, die sich daraus ziehen läßt, lautet: „Der Zwischentext des naturalistischen Dramas ist nicht mehr technischer Apparat, sondern Teil der Dichtung.“ (Praschek 1957, 144) In einigen Fällen nimmt er sogar narrative Strukturen an und wird zu einer Art deskiptiv-erzählender Ergänzung des Dialogs. In dieser Funktion nun werden Regiebemerkungen auch bei der Charakterisierung von Figuren eingesetzt. Da die naturalistischen Dramatiker nicht an der Konstruktion von dramaturgischen Funktionsträgern interessiert ist, sondern stattdessen den Eindruck zu erwecken suchen, die auf der Bühne vorgeführten Akteure seien reale Personen, wenden sie besondere Sorgfalt darauf, die Rollen möglichst glaubwürdig zu gestalten. Deshalb überschreibt Gerhart Hauptmann das Verzeichnis der dramatis personae seines Stücks Vor Sonnenaufgang bewusst mit „Handelnde Menschen“; ganz ähnlich nennt auch Max Halbe die Figuren in seinen Dramen Jugend und Freie Liebe schlichtweg „Menschen“. Sudermann in Die Ehre und Halbe in Eisgang und Jugend gehen gar soweit, jede Person in einer ausführlichen Charakteristik vorzustellen. In Eisgang werden auf diese Weise insgesamt nicht weniger als 20 Figuren in ihrer Eigenart knapp umrissen. In den Stücken anderer Autoren sind solche Personenbeschreibungen meist Teil der Bühnenanweisungen und damit stärker in den Text integriert. Genaue Angaben zu Alter und Aussehen sowie zur Kleidung haben die Funktion, die soziale Stellung einer Figur und ihre Herkunft zu veranschaulichen. Physiognomie und Habitus werden also zu Indikatoren ihrer Gegenwart und Vorgeschichte. Weitere wichtige Kennzeichen sind der Sprachgebrauch und die Art und Weise verbaler und nonverbaler Artikulation. Allerdings machen Fülle und Ausführlichkeit der Regiebemerkungen eine theatralische Umsetzung oftmals schwierig, wenn nicht unmöglich, so dass nicht wenige naturalistische Texte zum Typus des Lesedramas tendieren. Hauptmann hat diese Verfahrensweise noch im März 1895 ausdrücklich verteidigt und dabei über die Berechtigung detaillierter Bühnenanweisungen geäußert:
Erstens werden Dramen auch gelesen und zweitens: die Bühne macht ihre Abstriche. Warum soll der dramatische Dichter kleine charakteristische Umstände verschweigen, die seine innere Vorstellung aufweist, da sie auf der Bühne zwar wegfallen, aber doch in nichts den Bühnenverlauf eines Stückes beeinträchtigen? (Zit. nach Marcuse 1922, 19)
Inszenierung (Performanz) = Kunst (literarischer Text) – y
Insgesamt gesehen tendiert das naturalistische Drama jedenfalls dazu, den literarischen Text nicht als Partitur, sondern vielmehr als exakte Spielanweisung anzusehen, wodurch er stark präskriptiven Charakter erhält. Zugleich wird die dramenkonstitutive Differenz zwischen Lesetext und Inszenierungsakt weitgehend kassiert, d.h. die Performanz soll möglichst weit der Textvorgabe angenähert werden, die selbst wiederum der Widerspiegelung von Realität verpflichtet ist. Im Idealfall wäre die Aufführung auf der Bühne so etwas wie das perfekte Simulakrum literarisch imitierter Wirklichkeit. Unter Rückgriff auf Arno Holz‘ bekannte Formel könnte man daher sagen: Kunst (literarischer Text) = Natur – x, und Inszenierung (Performanz) = Kunst (literarischer Text) – y, wobei die Variablen „x“ und „y“ nach Möglichkeit auf ein Minimum reduziert werden sollen.
Auch auf Handlungsführung und Figurenzeichnung hatte das Bestreben nüchtern-sachlicher Realitätsschilderung Rückwirkungen. So wurde, um eine „detailgenaue, möglichst ‚parteilose‘ Darstellung“ (Müller-Salget 1974, 62) zu erreichen, nicht nur auf die klassische Heldengestalt, sondern auch auf eine konventionelle Form der Spannungsdramaturgie verzichtet. Friedrich Spielhagen hat deshalb beklagt, dass durch die starke Betonung des Milieus in den Stücken des Naturalismus „die Achtung vor dem dramatischen Helden und der dramatischen Handlung, deren Hauptträger eben der Held ist“, notgedrungen schwindet:
[…] und in der That haben denn auch manche Dramen der Schule mit dem, was man sonst unter einem Drama verstand, nur noch eine äußere Aehnlichkeit. Da giebt es keinen Helden mehr, sondern – im besten Falle – eine Hauptperson. Da ist nicht mehr von einer Handlung zu sprechen, höchstens von Geschehnissen, die in dieser oder auch in einer anderen Reihenfolge vor sich gehen können. […] Es ist, als ob wir aus der Vogelperspective auf eine Stadt hinabblickten, in der die Dächer der Häuser abgedeckt sind, so daß wir die Bewohner in ihrem Thun und Treiben beobachten können, wobei es völlig gleichgiltig ist, ob wir die Beobachtung bei der Wohnung Nr. 1 beginnen und bei Nr. X aufhören, oder umgekehrt. (Spielhagen 1893, 391)
„Depotenzierung des Subjekts“
Trotz der vielfach zu beobachtenden „Depotenzierung des Subjekts“ (Schneider 2005, 229) behalten die einzelnen Akteure in der naturalistischen Dramatik aber durchaus ihre Individualität. Hauptmann beispielsweise hat es bewusst vermieden, die Figuren seines Dramas „Die Weber“ als bloße Masse zu zeigen. Als opakes Kollektiv erscheinen sie nur auf Grund der ähnlichen Arbeits- und Existenzbedingungen, denen sie unterworfen sind; dem differenzierenden Blick freilich enthüllen sich lauter eigenständig akzentuierte Einzelschicksale. Sind die handelnden Personen im Drama des Naturalismus auch den sie dirigierenden Kräften von „race“ „milieu“ und „moment“ auf Gedeih und Verderb ausgesetzt, so behalten sie als fiktionale Figuren doch ein ästhetisches Eigenrecht. Arno Holz hat denn auch in seiner Dramentheorie ausdrücklich den „Charakteren“ de Vorrang vor der „Handlung“ eingeräumt und erklärt:
[…] die Menschen auf der Bühne sind nicht der Handlung wegen da, sondern die Handlung der Menschen auf der Bühne wegen. Sie ist nicht der Zweck, sondern nur das Mittel. Nicht das Primäre, sondern das Sekundäre. Mit anderen Worten: nicht Handlung ist also das Gesetz des Theaters, sondern Darstellung von Charakteren. (Holz 1924/25, Bd. 10, 224f.)
Gerade die Aufrechterhaltung künstlerischer Figurenindividualität bei gleichzeitiger völliger oder zumindest weitgehender Beschneidung des Handlungsspielraums dieser Figuren nun ist es, die dem auf dem Theater Gezeigten Appellcharakter verleiht: „Die Menschen im naturalistischen Drama sind erbärmliche, bedauernswürdige Geschöpfe in ihrer Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Darauf beruht vor allem die mitleiderregende Wirkung naturalistischer Dichtung.“ (Praschek 1957, 79) Mitgefühl stellt sich indes weniger angesichts der sozialen Situation ein, in der sich die Personen befinden, vielmehr resultiert Betroffenheit eher aus der faktischen Ausweglosigkeit der Akteure, die über keine Handlungsalternativen verfügen und deshalb häufig schuldlos schuldig werden. Dementsprechend heißt es im Vorwort zu August Strindbergs Drama Fräulein Julie: „Die Schuld hat der Naturalist mit Gott ausgestrichen, aber die Folgen der Handlung, Strafe, Gefängnis oder die Furcht davor, kann er nicht streichen.“ (Strindberg 1917, 313) Die naturalistische Dramatik führt also ganz praktisch die Auswirkungen vor, die der bewusste Verzicht auf einen metaphysischen Sinngebungsrahmen – „Wir haben gebrochen mit der Metaphysik.“ (Bölsche 1976, 48) heißt es bei Bölsche programmatisch – für die menschliche Existenz hat.
Modell des analytischen Dramas
Die Zurückdrängung der Handlung zugusten der Figurenzeichnung führt im „anti-heroic milieu-drama“ (Osborne 1971, 166) tendenziell zu einer Geschehensarmut, die dem Text tableauartige Züge verleiht: „Das naturalistische Charakterdrama ist zugleich Zustandsdrama, an die Stelle der aufgegebenen Einheit der Handlung tritt das komprimierte Zustandsbild.“ (Kafitz 1982, Bd. 2, 291) Bei aller relativen Statik gibt es jedoch auch hier bestimmte wiederkehrende Verlaufsmuster. Das am häufigsten begegnende Strukturmodell ist das des analytischen Dramas. Es wurde bereits in der Antike entwickelt und zeichnet sich dadurch aus, dass die Handlung eine ausgedehnte – den Personen entweder verborgene oder von ihnen verdrängte – Vorgeschichte besitzt, die dann auf der Bühne nach und nach entfaltet wird. Im Naturalismus freilich bekommt das Merkmal des „Analytischen“ eine Doppelbedeutung, wird es hier doch „einmal im klassischsophokleischen Sinn, zum anderen im modern-naturwissenschaftlichen Sinn eines minutiös-sezierenden Verfahrens“ (Kluwe 2001, 252) verstanden. Besonders Ibsen hat sich dieser Darstellungstechnik ausgiebig bedient. Litzmann hat die wichtigsten Merkmale des analytischen Dramentyps mit Blick auf Ibsen einmal folgendermaßen resümiert: Es zeige sich,
[…] daß die Keime des tragischen Konfliktes in einer weit zurückliegenden Vorgeschichte stecken, und daß diese erst sehr allmählich während des Fortgangs des Dramas mühsam aus einigen Dialogbrocken herausgelesen werden müssen. Die Gestalten seiner Dramen sind […] mit einer oft sehr komplizierten Vorgeschichte belastet, und foltern den Hörer und Zuschauer durch geheimnisvolle Winke, Andeutungen, Anspielungen, die eigentlich erst wenn der Vorhang zum letzten Mal gefallen – oft auch dann nicht – klar werden. […] Seine Dramen sind eigentlich nur ein fünfter Akt, die Spitze einer Pyramide. (Litzmann 1894, 152)
„Drama des reifen Zustandes“
Die Charakterisierung von Ibsens Stücken als Dramen des fünften Aktes rekurriert dabei auf einen Gedanken, der erstmals im Kontext des Berliner Naturalistenvereins ‚Durch!‘ formuliert worden ist. Während eines Gesprächs über Ibsens Gespenster äußerten nämlich Bruno Wille und Adalbert von Hanstein, sie würden in der ganzen Handlung des Stückes „nur den Abschluß einer in der Vorfabel liegenden Handlung, einen 5. Act, sehen“ (Verein „Durch“ 1932, o. P.). Diese Beobachtung wurde einige Zeit darauf dann von Halbe noch präzisiert, der Ibsens Dramen als bewusste Reduktionsformen des ‚klassischen‘ Dramentyps verstand. Da seiner Ansicht nach auch solchen Bühnentexten eine Existenzberechtigung zugestanden werden müsse, die „nur ein winziges Bruchstück einer Entwicklung zur Darstellung“ bringen, sei es letztlich unerheblich, ob ein Stück „,eigentlich nur der erste Akt‘ (Volksfeind), oder ‚eigentlich nur der dritte Akt‘ (Nora) oder ‚eigentlich nur der fünfte Akt‘ (Gespenster) eines ‚wirklichen‘ Dramas“ (Halbe 1889, 1177) sei. Richard M. Meyer hat für den im deutschen Naturalismus vorherrschenden letzteren Typus dann den wertfreien, aber gleichwohl präzisen Begriff „Drama des reifen Zustandes“ geprägt:
[…] alles ist in den Charakteren so weit vorbereitet, daß jedes beliebige Ereignis die Explosion herbeiführen kann. […] Ein Charakter oder eine Gruppe stehen da, schicksalsreif, und warten auf ihr Verhängnis. Irgend ein keineswegs auffallendes Ereignis zeitigt es: ein Besuch, eine Nachricht, eine Begegnung. Und rasch vollzieht sich nun, was geschehen muß. (Meyer 1912, 579)
Der sog. „Bote aus der Fremde“
In vielen Fällen ist es eine Person, welche die im Zustand der Latenz befindlichen Konflikte manifest werden lässt und so das im Dramenverlauf gezeigte Geschehen in Gang bringt. Meyer spricht in diesem Zusammenhang vom „Boten aus der großen Welt“ (Meyer 1912, 579) bzw. vom „,Boten des Schicksals‘“ (Meyer 1912, 580). In der Forschung hat sich dafür allerdings die Bezeichnung „Bote aus der Fremde“ (vgl. Bleich 1936) eingebürgert, wobei dieser Terminus den Sachverhalt nur ungenau trifft. Es geht nämlich nicht so sehr darum, dass eine Nachricht überbracht wird, vielmehr bewirkt eine von außen zu einem vorgegebenen Personenensemble neu hinzutretende Figur eine Veränderung der Beziehungsmuster und Kräfteverhältnisse innerhalb der vorhandenen Konstellation. Wegen des katalytischen Effekts, den diese Figur ausübt, hat man sie – im Anschluss an Zolas Modell des ‚roman expérimental‘ – gern als Wirkelement innerhalb einer künstlerisch gestalteten Experimentanordnung gedeutet. Und tatsächlich hat bereits Taine das literarische Kunstwerk als „Gesamtheit von verbundenen Teilen“ definiert, „deren Beziehungen“ zueinander jedes neu hinzutretende Teil „systematisch ändert“ (Taine 1902, Bd. 2, 43). Außerdem kann mithilfe einer solchen „Ankömmlings“-Figur (Meyer 1912, 580) die Vergangenheit in ihren Auswirkungen auf die Gegenwart beobachtet werden, d.h.
[…] der Bote aus der Fremde […] dient nicht nur einer Belebung der Handlung, sondern auch einer Analyse des Milieus. Er ist gleichsam das Reagenzmittel, das die chemischen Bestandteile erkennen läßt, all jene Verbindungen des Milieus, die unter seiner Einwirkung bald in voller Auflösung begriffen sind, vor allem aber nun erst voll sichtbar werden in ihrem Wert, Wesen und Wirken. (Markwardt 1967, 120)
Katalysatorfiguren
Im Hinblick auf seine Funktion spricht man statt von einem ‚Boten aus der Fremde‘ jedoch besser von einer Katalysator- oder Diagnosefigur – und zwar umso mehr, als es neben denjenigen Akteuren, die neu zu einem Personenkreis hinzukommen und temporär Bestandteil der Handlung werden, auch Figuren gibt, die den vom Stück entworfenen Rahmen verlassen und so prinzipiell einen Ausweg aus einem bestimmten Milieu weisen. Im Grunde werden unter diesem Begriff reichlich heterogene Figurentypen subsumiert, die obendrein bereits aus der dramatischen Tradition bekannt sind, darunter der „Heimkehrer nach langjährigem Fernsein“ (Markwardt 1967, 26) – dazu zählen Fritz und Wilhelm Scholz in Gerhart Hauptmanns Das Friedensfest –, der Gast bzw. Besucher, der zugleich als „Träger einer Idee“ (Markwardt 1967, 567) auftritt – das bekannteste Beispiel ist Alfred Loth in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang – oder auch eine Person, die Hilfe leistet, wie Sabine Graef in Elsa Bernsteins Dämmerung. Was alle genannten Texte strukturell miteinander verbindet, ist ein Handlungselement, nämlich das Hinzutreten einer neuen Person zu einem feststehenden Figurenensemble, die von ihrer Herkunft, ihrer Sozialisationsgeschichte oder ihrem Bildungsstand her in einem Kontrastverhältnis zu den übrigen Akteuren steht und deren Anwesenheit eine Veränderung im Geschehensablauf bewirkt. Bei dieser Person handelt es sich jeweils um eine Figur, die auf Grund ihrer Differenzqualität – Bleich bezeichnet sie deshalb auch als „Fremdkörper“ (Bleich 1936, 91) – bewusst oder unbewusst als Störquelle fungiert und damit zum Handlungsauslöser in einer bis dato statischen Situation wird.
Charakteristika naturalistischer Dramatik
Alfred Kerr hat in seinem 1891 erstmals erschienenen Aufsatz Technik des realistischen Dramas die wichtigsten Charakteristika naturalistischer Dramatik genannt. Zusammengefasst lauten sie:
Vermeidung des Monologs, Vermeidung des Beiseitesprechens, Bevorzugung der gestaltenden (indirekten) gegenüber der formulierenden (direkten) Charakteristik, Verteilung der Vorfabel auf das gesamte Drama und ihre beiläufig unmerkliche Vermittlung an den Zuschauer, Vermeidung von ausgesprochenen ‚Zufällen‘, das ‚Wahrheitsstreben‘ in der Sprachgestaltung unter Abwehr der pathetischen und […] der betont ‚geistreichen‘ Redeweise, Stellung zum Dialekt, Vermeidung eines aufdringlichen ‚Kommentars‘ seitens des Dramatikers (‚der bekannte Wink mit dem Zaunpfahl‘) hinsichtlich der Leitidee und Tendenz, Abwehr von Episoden, Problematik der Zeiteinheit. (Markwardt 1967, 123)
Der Naturalismus als ästhetischer Reflex gesellschaftlicher Transformationsprozesse
Der Naturalismus unterscheidet sich von anderen literarischen Strömungen u.a. dadurch, dass er nicht einfach nur ein bestimmtes Kunstprogramm verfolgt, sondern sich vielmehr als ästhetischer Reflex eines umfassenderen gesellschaftlichen Transformationsprozesses versteht. Dieses Phänomen, dem die Autoren selbst den substantivierten Begriff ‚Moderne‘ gegeben haben (als Stichwortgeber fungierte dabei Eugen Wolff), ist Resultat der demographischen, ökonomischen, technischen, mediengeschichtlichen und wissenschaftlichen Umwälzungen, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ereigneten und deren Kumulation zu einer Art epistemologischer Wende führte, durch die sich die Zeitgenossen als von der Vergangenheit separiert und in einen ungewissen Zukunftshorizont gestellt empfanden. Zugleich wuchs bei ihnen das Bewusstsein der Interdependenz aller Wirklichkeitsbereiche, was einen Ausgriff bislang voneinander separierter Disziplinen auf benachbarte Wissens- und Praxisfelder nach sich zog.
Codierung ‚sozialer Energie‘
Die naturalistischen Autoren, die sich als Zeugen dieses Umwandlungsprozesses begriffen, sahen es als ihre Pflicht an, auf die Erscheinungen der Modernisierung literarisch zu reagieren. Und da sie vom Ethos empirischgenauer Wirklichkeitsbeobachtung erfüllt waren und an die Möglichkeit einer künstlerischen Widerspiegelung von Realität glaubten, wurden ihre Texte zu Schnittpunkten aktueller zeitgeschichtlicher Diskurse und luden sich in besonderer Weise mit ‚sozialer Energie‘ (Stephen Greenblatt) auf. Anschauliche Belege hierfür liefern sowohl die diversen Zensurstreitigkeiten, die sich an Werken des Naturalismus entzündeten, als auch die zahlreichen Gerichtsverfahren gegen deren Verfasser und Verleger. Die ästhetische Codierung ‚sozialer Energie‘ erfolgte dabei ganz bewusst durch die Autoren selbst. Leo Berg etwa sah den Naturalismus durch diesen engen Wechselbezug zwischen Literatur und Gesellschaft geprägt: „Aber was bedeutet denn, im Grunde genommen, der Realismus, wenn nicht ein Eingreifen in’s Leben?“ (Berg 1892, 144) In gewisser Weise kann der Naturalismus daher – auch wenn seine Werke deutlich vom Verfahrensmodus operativer Texte wie denen der Vormärzdichtung abweichen – als eine Form von engagierter Literatur angesehen werden, weil seine Vertreter Kunst als Reflex der Gesellschaft betrachten und umgekehrt auch ästhetische Rückwirkungen auf das Sozialsystem für möglich, ja sogar für wünschenswert halten. Im Hinblick auf solche Austauschvorgänge kommt vor allem zwei sozialen Gruppen eine herausgehobene Bedeutung zu, dem Proletariat und den Frauen. Arbeiter- und Frauenbewegung, zwei der großen und mächtigsten sozialen Formationen der Zeit, gerieten denn auch rasch in den Fokus der naturalistischen Literatur. Allerdings verliefen hier die Interferenzen äußerst spannungsreich, weil anders als bei der Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse rasch Rivalitäten zwischen den Wortführern aufbrachen, die zu Abgrenzungserscheinungen zwischen den einzelnen Bewegungen führten.
Das sog. Sozialistengesetz
Die Anfänge des deutschen Naturalismus fallen mit einem Ereignis zusammen, das die politische Kultur der späten siebziger und der gesamten achtziger Jahre tiefgreifend geprägt hat: dem Erlass des sog. Sozialistengesetzes. Nachdem die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (ab 1875: Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands) nach der Reichsgründung kontinuierlich an Unterstützung gewonnen hatte und allmählich zu einem ernstzunehmenden Faktor für die Regierungspolitik geworden war, sann Reichskanzler Otto von Bismarck nach Mitteln, wie sich der Einfluss der SDAP/SAP wirkungsvoll eindämmen ließ. Als dann im Lauf des Jahres 1878 zwei – allerdings fehlgehende – Attentate auf den Kaiser verübt wurden, beschuldigte Bismarck kurzerhand den politischen Gegner, dafür verantwortlich zu sein, und organisierte einen von der Empörung und der Furcht vieler Abgeordneter getragenen Parlamentsbeschluss gegen die Arbeiterpartei. Am 21. Oktober verkündete der Reichstag das ‚Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie‘, das zum Verbot und zur offiziellen Auflösung der Sozialistischen Arbeiterpartei und ihr nahestehender Organisationen (vor allem von Gewerkschaften) führte. Zwar konnten sozialdemokratische Abgeordnete weiterhin in das Parlament gewählt werden, doch waren sie ihrer institutionellen Stütze durch die Partei beraubt. Desgleichen wurden alle sozialdemokratischen Vereine, die es mittlerweile in jeder größeren Stadt gab, aufgelöst und Zeitungen, die von Vertretern der Sozialdemokratie redigiert und verlegt wurden, verboten. Faktisch wurde damit ein Teil der öffentlichen Meinung ausgeschaltet. Einige Sozialdemokraten gingen darauf ins Exil, andere versuchten, im verborgenen weiter für die Ziele der Partei zu arbeiten.
Solidarisierung mit der Sozialdemokratie
Das Verbot wirkte auf viele Intellektuelle, besonders die der jungen Generation, wie ein Fanal, schien es doch zu bestätigen, was man ohnehin bereits geargwöhnt hatte, nämlich dass die Staatsführung bestimmte Bereiche der Wirklichkeit gezielt ausblendete. Da auch andere demokratische Gruppierungen und viele der offiziellen Regierungspolitik kritisch gegenüberstehenden Zeitgenossen „sich von den Maßnahmen des Sozialistengesetzes bedroht fühlten, kam es zu einer breiten, weit ins liberale bürgerliche Lager hineinreichenden Solidaritätsbewegung für die Rechte des Proletariats“ (Scheuer 1974, 177). Im Zuge dieses z.T. symbolischen, z.T. aber auch ganz realen Engagements für die Verfemten begannen einige angehende Schriftsteller und Journalisten damit, die sozialdemokratische Bewegung zu unterstützen. Julius Hart beispielsweise übernahm im Sommer 1878 für kurze Zeit die Redaktion des politischen Teils der sozialdemokratischen „Bremer Freien Zeitung“, und Max Kretzer unterhielt seit Ende der siebziger Jahre enge Kontakte zur organisierten Berliner Arbeiterschaft. Der Umstand, dass das Sozialistengesetz auch in den Folgejahren trotz zahlreicher Proteste nicht zurückgenommen wurde, führte dazu, dass fast alle namhaften Autoren im Umkreis des Naturalismus früher oder später mit der Sozialdemokratie sympathisierten. So standen nicht nur Hermann Conradi und Otto Erich Hartleben Mitte der achtziger Jahre der sozialdemokratischen Bewegung nahe, auch der allen Arten von sozialer Gruppenbildung höchst reserviert begegnende Arno Holz bekannte später, dass er in den Jahren 1884 und 1885 „mit der Sozialdemokratie geliebäugelt“ (Holz 1948, 66) habe. Besonders enge Kontakte unterhielten Paul Ernst, Julius Türk und Bruno Wille; die beiden Erstgenannten waren nach Aufhebung des Verbots sogar Mitglied der sozialdemokratischen Partei und arbeiteten an deren Periodika mit. Am stärksten von den Repressionen betroffen war fraglos Karl Henckell, dessen Bücher 1886 im Zusammenhang mit dem Sozialistengesetz mit Verbot belegt wurden und der selbst aus Deutschland ausgewiesen wurde. Er siedelte darauf in die Schweiz über, wo sich sein Kontakt zu Vertretern der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung noch vertiefte.
Gesellschaftliche Ausgrenzung des vierten Standes
War das Engagement der naturalistischen Schriftsteller zunächst vor allem Ausdruck des Protestes gegen eine selbstherrliche Obrigkeit, die soziale Konflikte per Dekret aus der Welt schaffen zu können meinte, so hatte die Beschäftigung mit den Anliegen der Arbeiterbewegung im Lauf der Zeit auch Rückwirkungen auf die eigenen ästhetischen Vorstellungen. Die staatliche Stigmatisierung der Sozialdemokratie rückte die gesellschaftliche Ausgrenzung des vierten Standes ins Bewusstsein, und diese wiederum führte den jungen Autoren die Versäumnisse der Literatur vor Augen. Conradi beklagte schon 1885, dass der zeitgenössischen Literatur, vor allem der Lyrik, „alles hartkantig Sociale“ (Arent [Hrsg.] 1885, II) fehle. Auf diese Weise kam es im Zeichen der naturalistischen Forderung nach ‚Wahrheit‘ und einer ungeschönten Darstellung von Wirklichkeit zu einer Ausweitung des Darstellungsfokus auf das Proletariat und seine Arbeits- und Lebensbedingungen. Allerdings wurde dieses Themenfeld nie dominant. Auch boten die Herausgeber naturalistischer Blätter Nichtliteraten Gelegenheit zur Erörterung sozialpolitischer und ökonomischer Fragen. So öffnete Conrad die von ihm redigierte Gesellschaft den Befürwortern der damals heftig diskutierten Bodenreform und agitierte in seiner Zeitschrift offen gegen die Sozialistengesetze. Wie sehr man sich als Forum kunstübergreifender Diskussion verstand, zeigt aber nicht nur der programmatisch gewählte Titel Gesellschaft, sondern vielleicht mehr noch die Tatsache, dass das Periodikum ab 1891 den Untertitel „Monatsschrift für Literatur, Kunst und Socialpolitik“ führte.
Viele Zeitgenossen sahen deshalb in der naturalistischen Bewegung „das poetische Pendant zum Sozialismus“ (Röhr 1891, 342). Die politisch organisierte Arbeiterschaft wurde dabei nicht selten sogar als gesellschaftliche Kraft betrachtet, die theoretische Reformkonzepte in die soziale Realität umsetzen sollte. So schreibt etwa Ernst Henriet Lehnsmann in seinem Aufsatz Die Kunst und der Sozialismus:
Die durch den Sozialismus begonnene neue Epoche der Menschheit verhält sich zu der geistigen Bewegung des achtzehnten Jahrhunderts, wie die Praxis zur Theorie, wie das Ideal zu seiner Verwirklichung. Wenn das vorige Jahrhundert nur auf die innere Ausbildung der Individualität sich beschränkte, […] so verlangt das gegenwärtige Geschlecht, daß dieses rein ästhetisch-philosophische Ideal auf jede praktische Lebensführung übertragen werde. […] Die sozialistische Bewegung unserer Tage hat zum Zweck, das ästhetisch-philosophische Ideal zu ergänzen und zum Allgemeingut der Lebensführung alles Volkes zu machen. (Lehnsmann 1885, 479)
Interessenkonvergenzen
Tatsächlich gibt es zwischen den Naturalisten und den Sozialdemokraten diverse Interessenkonvergenzen. Eines der Kernanliegen, das beide verfolgten, war die 1875 im Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands niedergelegte Forderung nach Abschaffung „der Preß-, Vereins- und Versammlungsgesetze, überhaupt aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung, das freie Denken und Forschen beschränken“ (Berthold/ Diehl 1967, 48). Auch deckt sich die Kritik der Naturalisten „an gewissen Kreisen der ‚feinen‘ Gesellschaft […] in mancher Beziehung mit der Kritik, welche von den Sozialisten an der bürgerlichen Gesellschaft geübt wird“ (Blos 1886, 427f.), geht es doch hier wie dort um die „Vernichtung des kultur- und sittlichkeitszerstörenden Kapitalismus“ (Die Gesellschaft 6 [1890], 920). In jedem Fall enthielt die von den Naturalisten betriebene unverhüllte Darstellung sozialer Missstände in Verbindung mit antimaterialistischer Polemik und scharfen Attacken gegen die herrschende Repräsentationskultur ein starkes Kritikpotential an den Grundlagen der wilhelminischen Gesellschaft. Berg kann deshalb pointiert formulieren: „Der Naturalismus, sofern er als Prinzip des Milieus sich darstellt, ist nichts anderes als eine Kritik der bestehenden Gesellschaft.“ (Berg 51901, 52)
Staatliche Verfolgung des Naturalismus
Aus diesem Grund waren die Naturalisten ebenso wie die Sozialdemokraten wiederholt staatlicher Verfolgung ausgesetzt. Die Expatriierung Karl Henckells ist da nur das eklatanteste Beispiel. Daneben gab es vor allem juristische Versuche, die Verbreitung naturalistischer Texte zu behindern. Schon 1883 wies in einer Reichstagssitzung der zuständige Staatssekretär auf die „vom französischen Materialismus“, speziell von Zola beeinflusste Literatur warnend hin und erwähnte als negatives Beispiel dafür Kirchbachs Kinder des Reiches (1883). 1889 kam es dann in Leipzig zum sog. Realistenprozess, der damit endete, dass die Romane Die Alten und die Jungen von Conrad Alberti, Adam Mensch von Hermann Conradi und Dämon des Neides von Wilhelm Walloth als unzüchtige Schriften polizeilich konfisziert und deren Verfasser zu Geldstrafen verurteilt wurden. Michael Georg Conrad erkannte sofort, dass hier im Grunde auf die gesamte naturalistische Literatur gezielt wurde, und zog daher in seinem Artikel Die realistische Literatur und der Staat eine Parallele zum Verbot der Schriften des Jungen Deutschland. Wie zur Bestätigung dieses Verdachts gab im Oktober 1890 der Berliner Polizeipräsident Bernhard von Richthofen als Grund für das Verbot einer Aufführung von Hermann Sudermanns Stück Sodoms Ende zu Protokoll: „Die janze Richtung paßt uns nicht!“ (Blumenthal 1900, 98)
Verbote und Repressionen
Die Liste der Verbote von Werken des Naturalismus ist lang. So beschlagnahmte im August 1891 die Staatsanwaltschaft der bayerischen Hauptstadt mit der Anthologie Modernes Leben und der Zeitschrift Moderne Blätter zwei Publikationen der Münchner Naturalisten, weil die darin enthaltenen Texte blasphemisch und obszön seien. Im selben Monat wurde Hans von Gumppenberg zunächst wegen Gotteslästerung (im Hinblick auf sein Drama Der Messias) und anschließend wegen Majestätsbeleidigung angeklagt und wegen des Vortragens sozialkritischer Gedichte von Karl Henckell vor der ‚Gesellschaft für modernes Leben‘ sogar zu zwei Monaten Festungsstrafe verurteilt. Einen Höhepunkt staatlicher Repression gegen den Naturalismus markiert das Jahr 1893: Nachdem am 3. März 1892 schon die Aufführung der schlesischen Dialektversion von Hauptmanns Weber-Drama verboten worden war, wurde am 4. Januar 1893 auch die Inszenierung der dem Hochdeutschen angenäherten Textfassung untersagt. Erst als der Autor Klage einreichte, hob das Preußische Oberverwaltungsgericht den Beschluss der Zensurbehörde wieder auf. Der Kaiser freilich kündigte nach der am 25. September 1894 erfolgten ersten öffentlichen Aufführung des Stückes demonstrativ die ihm vorbehaltene Herrscherloge im ‚Deutschen Theater‘. Ebenfalls 1893 versagte Wilhelm II. der Jury des angesehenen Schiller-Preises, die Ludwig Fulda für sein „dramatisches Märchen“ Der Talisman auszeichnen wollte, die Bestätigung ihres Votums. Auch im Nachbarland Österreich ging man gegen naturalistische Autoren und ihre Texte vor. So erließ die Zensur der k.u.k. Monarchie 1893 beispielsweise ein Aufführungsverbot für Max Halbes Drama Jugend, was die Erstaufführung des Stückes in Österreich bis 1901 verzögerte.
Volksbildungsbestrebungen
Der Naturalismus wurde demnach von Regierungsseite ebenso als Gegner betrachtet wie die Sozialdemokratie. Umso mehr fürchtete man ein Fraternisieren beider Bewegungen. In der Tat kam es nach Aufhebung des Sozialistengesetzes am 25. Januar 1890 rasch zu Formen offener Kooperation. Conrad begann nun damit, „dem Volke im eigentlichen Sinne, d.h. den Kreisen der Handwerker und Arbeiter persönlich näher zu treten und in volkstümlicher Weise wissenschaftliche und litterarische Vorträge und Vorlesungen zu halten“ (Moderne Blätter, Nr. 14, 4.7.1891, S. 1). Konkret bedeutet das: „Er sprach im ‚Allgemeinen Arbeiterleseverein‘ vor 700 bis 800 Zuhörern über moderne Literatur und in den Vereinen der Tischler, Steindrucker, Schneider, Metallarbeiter, Maler usw. über Hans Sachs und Rosegger, Wagner, Nietzsche, Böcklin, Zola, Ibsen“ (Stumpf 1986, 114) oder über „Die Bedeutung des Theaters“. Ähnliches ereignete sich auch in der Reichshauptstadt. Hier unterrichtete Hartleben eine Zeitlang in Arbeiterbildungsstätten. Außerdem entstand mit der ‚Freien Volksbühne‘ schließlich sogar eine „Institution […], die bewußt eine Zusammenarbeit von Naturalisten und Sozialdemokraten intendierte“ (Scheuer 1974, 180). Überhaupt ist Volksbildungsarbeit jenes Feld, auf dem es Anfang der neunziger Jahre zu diversen Versuchen einer Zusammenarbeit kam. Die beiden Berliner Volksbühnen und die Münchner ‚Gesellschaft für modernes Leben‘ verfolgten gleichermaßen dieses Ziel.
Differenzen zwischen Naturalisten und Parteimitgliedern
Allerdings kam es bei der praktischen Umsetzung der Arbeiterbildungsbestrebungen binnen kürzester Zeit zu tiefgreifenden Differenzen. Die SPD verfolgte die gruppensoziologische Zersplitterung der naturalistischen Bewegung aufmerksam und suchte z.T. massiv, ihren Einfluss geltend zu machen. Zugleich begannen Vertreter der Parteiführung damit, das ästhetische Programm des Naturalismus einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Auf diese Weise erschienen in parteieigenen Zeitungen diverse Stellungnahmen, in denen Vorbehalte gegenüber den Weggefährten geäußert wurden. Die solcherart sichtbar werdende Distanznahme verärgerte die naturalistischen Autoren nachhaltig und löste deutliche Abgrenzungsbewegungen aus. Zu einem ersten Eklat kam es bereits im Sommer 1890. Nachdem Bruno Wille in einem Aufsatz für die Sächsische Arbeiterzeitung Missstände in Organisation und Führung der SPD kritisiert hatte, wurde von der Parteiführung eine Versammlung einberufen. Wille, dem vorgeworfen wurde, er liefere der konservativen Presse Munition für ihre Kampagnen gegen die Sozialdemokratie, trat dabei als Sprecher der ‚Jungen‘, einer linken Opposition innerhalb der Partei auf, die sich aber gegen die bestehende Mehrheit nicht durchsetzen konnte. Auf dem Parteitag in Erfurt, der im Oktober 1891 stattfand, wurden die Anhänger der ‚Jungen‘ allesamt aus der SPD ausgeschlossen; sie gründeten darauf den ‚Verein Unabhängiger Sozialisten‘. Im Lauf des Jahres 1891 distanzierte sich auch Michael Georg Conrad von der parteipolitisch organisierten Arbeiterbewegung.
Auch wenn sich die sozialethische Einstellung der Naturalisten weitgehend mit den Grundgedanken des Sozialismus deckte, bestanden doch erhebliche Gegensätze im Hinblick auf die taktische Umsetzung dieser Ziele. Während die nahezu allesamt aus (klein-)bürgerlichen Verhältnissen stammenden naturalistischen Autoren in erster Linie volkserzieherisch auf die Arbeiterschaft einwirken wollten, um ihr eine Teilhabe an den Errungenschaften der (Hoch-)Kultur zu ermöglichen, waren die Sozialdemokraten vorrangig bestrebt, die Angehörigen des vierten Standes materiell besser zu stellen und ihre Arbeitsbedingungen zu erleichtern. Geht man davon aus, dass bezogen auf die Antriebsstrukturen des Menschen eine Art Bedürfnishierarchie besteht, dann suchte die Sozialdemokratie vorrangig die elementaren Bedürfnisse zu befriedigen; die Angebote der Autoren im Umkreis des Naturalismus dagegen waren auf höhere Bedürfnisebenen zugeschnitten. Manche Vertreter der Arbeiterbewegung sahen deshalb Sozialismus und Naturalismus als schlechterdings unvereinbar an. Jakob Stern etwa erklärte: „Wie die Wissenschaft, so kann auch die Kunst nur blühen, wenn Talent und Genie nicht durch materielle Sorge und Not geknickt werden.“ (Stern 1889, S. 30) Gustav Landauer folgerte daraus, den Gegensatz zwischen (Partei-)Politik und Ästhetik betonend: „Die Kunst braucht Sattheit, wir haben Hunger und wollen das Gefühl des Hungers erwecken.“ (Landauer 1892, 532) Umgekehrt lehnten die Naturalisten die von den Sozialdemokraten verfochtene Dominanz der Ökonomie gegenüber Kunst und Kultur ab, woraus ersichtlich wird, dass sich der von beiden Seiten verfochtene Antikapitalismus aus ganz unterschiedlichen Impulsen speist.
Abwendung von der organisierten Sozialdemokratie
Die Ernüchterung, die sich bei vielen Vertretern der jüngeren Schriftstellergeneration nach 1890 gegenüber der SPD einstellte, resultiert vorwiegend aus zwei Faktoren: aus realen Interessengegensätzen und aus dem Gefühl des Zurückgesetztseins. Nach der Wiederzulassung der sozialdemokratischen Partei hatten sich nämlich die Kräfteverhältnisse in eklatanter Weise verschoben: Die sozialdemokratische Bewegung hatte in den achtziger Jahren nur dadurch überleben können, dass sie ihre Zusammenkünfte als Vereinssitzungen o.Ä. tarnte und ihre Verlautbarungen in Presseorganen erschienen, die – mindestens nach außen – parteiunabhängig waren; Organisationsgrad und sozialer Status ähnelten dem der Naturalisten. Die Aufhebung der Sozialistengesetze aber ließ in kürzester Zeit einen schlagkräftigen Parteiapparat entstehen, der eine quantitativ sehr große Mitglieder-, Wähler- und Sympathisantenzahl hinter sich wusste. Dementsprechend selbstbewusst trat die Parteiführung auf. Eine Massenorganisation mit politischem Einfluss stand nun einem vergleichsweise kleinen Grüppchen von teilweise auch noch untereinander verfeindeten Literaten gegenüber, deren gesellschaftlicher Wirkungsradius äußerst begrenzt war. Und anstatt sich dankbar an die Hilfsdienste der Verbündeten in den Jahren der Verfolgung zu erinnern, präsentierte sich die sozialdemokratische Partei mit einem Mal als nachgerade hegemoniale Vertretung der Arbeiterinteressen, die klare Vorstellungen davon hatte, wie die Lebensbedingungen des vierten Standes zu verbessern seien.
Differenzen zwischen Naturalismus und Sozialdemokratie
Eine ganz erhebliche Rolle spielte daneben der ästhetisch eher konservative Standpunkt der Parteiführung. In der Forschung wurde zu Recht darauf hingewiesen, „daß man innerhalb der Sozialdemokratie Vorstellungen von Dichtung konservierte, die denen des Klassengegners Bourgeoisie nicht unähnlich waren: Dichtung sollte erbauen, Trost spenden und Erhebung über den Alltag ermöglichen“ (Mahal 1975, 142). Dies ging soweit, dass dem Naturalismus von sozialdemokratischer Seite vorgeworfen wurde, er zeige eine verzerrte Sicht der Wirklichkeit und entmutige die Arbeiter beim Kampf um ihre Klasseninteressen; was er liefere, sei nichts anderes als „Desillusionsliteratur“ (Sollmann 1982, 49). Die sozialdemokratische Kritik an der modernen Kunst übernahm mithin Argumentationsformeln und Deutungsstereotype antinaturalistischer Kritik aus dem bürgerlichen Lager. Teile der Parteiführung gingen gar soweit, eine Dichotomie zwischen sozialem und ästhetischem Engagement zu konstruieren. So erklärte etwa Wilhelm Liebknecht apodiktisch: „[…] der Kampf schließt die Kunst aus. Man kann nicht zween Herren dienen: nicht gleichzeitig dem Kriegsgott und den Musen.“ (Liebknecht 1890/91, 710) und reduzierte damit das vielschichtige Verhältnis zwischen praktischer politischer Tätigkeit und künstlerischer Reflexion auf eine Frage subjektiver Prioriätensetzung. Auf solche Versuche, die Kunst zu einem bloßen Vehikel von Parteiinteressen zu machen, reagierten die Naturalisten verständlicherweise mit Abwehr.
Umgekehrt fand die naturalistische Darstellung der Lebenswirklichkeit der unteren sozialen Schichten bei den Sozialdemokraten nur wenig Anklang. Die Vorführung zerrütteter Familienverhältnisse, von Alkoholismus und moralischer Verkommenheit nämlich widersprach dem sozialdemokratischen Wunschbild des aufrechten und integren Arbeiters. Es zeigt sich also: „Gerade die Stoffe, mit denen sich die unzweifelhaft sozial engagierten ‚Jüngstdeutschen‘ der Welt der Arbeiter näherten, entfremdeten sie diesen und besonders ihren […] Parteivertretern.“ (Mahal 1975, 143) Vor allem hat die am wissenschaftlichen Determinismuspostulat ausgerichtete „naturalistische Darstellung der Wirklichkeit als bemitleidenswerter, aber unveränderbarer Zustand […] Aversionen ausgelöst“ (Scheuer 1974, 200).
Gothaer Parteitag
Gleichwohl setzte sich die Sozialdemokratie in der ersten Hälfte der neunziger Jahre intensiv mit der naturalistischen Ästhetik auseinander und unterhielt zu einzelnen Vertretern auch enge Kontakte. Karl Henckell etwa gab 1893 im Auftrag des sozialdemokratischen Verlages „Vorwärts“ unter dem Titel Buch der Freiheit eine Lyrikanthologie heraus und wurde in den Augen vieler so zu einem „Wortführer der sozialistischen Dichtung“ (Hart/ Hart 2006, 42). Zwischen 1890 und 1896 waren Literaturprogrammatik und Volkspädagogik des Naturalismus auf den Parteitagen der SPD sogar wiederholt Gegenstand lebhafter Erörterung. Ihren Höhepunkt erreichte die sozialdemokratische Beschäftigung mit dem Naturalismus auf dem sog. Gothaer Parteitag, der Mitte Oktober 1896 stattfand. Konkret waren es dabei die Anträge zur Neugestaltung der Parteizeitung Neue Welt, welche „die erste umfangreiche Literaturdiskussion auf einem Parteitag der Sozialdemokratie“ (Scheuer 1974, 185) auslösten. Rückblickend betrachtet bereitete die Selbstverständigung über Ziele und Funktionen der Literatur, die im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Naturalismus stattfand, den Boden für eine eigenständige sozialistische Kunstauffassung, wie sie etwa von Franz Mehring und Georg Lukács formuliert wurde. Ästhetikgeschichtlich trug die sozialdemokratische „Naturalismus-Kritik“ damit zur „Begründung einer materialistischen Literaturtheorie“ (Scheuer 1974, 200) bei. Noch Bertolt Brecht rekurrierte später mehr oder weniger direkt auf Darstellungsverfahren, die Autoren des Naturalismus entwickelt und erprobt haben.
Anfänge der Frauenbewegung
Parallel zur Organisation der Arbeiterschaft in Vereinen, Gewerkschaften und Parteien bildeten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch Interessenvertretungen für Frauen. So wurde im Oktober 1865 von Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt in Leipzig der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF) gegründet. Der Kampf konzentrierte sich dabei vorrangig auf die grundsätzliche politische und juristische Gleichstellung der Frau: das Frauenwahlrecht, das Recht auf Erwerbstätigkeit und das Recht auf Bildung. Unterstützung erhielt die Frauenbewegung aber auch von einigen Männern, die sich für die Emanzipation einsetzten. John Stuart Mill beispielsweise forderte in seinem Buch The Subjection of Women (1869) die völlige Gleichstellung von Mann und Frau und führte als Begründung dafür ins Feld, „die gesetzliche Unterordnung des einen Geschlechtes unter das andere“ sei „eines der wesentlichsten Hindernisse für eine höhere Vervollkommnung der Menschheit“ (Mill 1991, 5). Ein Jahrzehnt später dann verknüpfte August Bebel in seiner Schrift Die Frau und der Sozialismus (1879) die Anliegen der Arbeiterbewegung mit denen der Frauenbewegung, indem er das weibliche Geschlecht und die Schicht der Proletarier gleichermaßen zu Außenseitern der Gesellschaft erklärte: „Frau und Arbeiter haben gemein, Unterdrückte zu sein.“ (Bebel 1977, 9) Nach Bebel besteht die „historische Mission“ des Proletariats deshalb darin, „nicht nur die eigene Befreiung, sondern auch die Befreiung aller anderen Unterdrückten, also auch der Frauen, herbeizuführen“ (Bebel 1977, 314f.).
Hauptfraktionen
Allerdings war die Frauenbewegung insgesamt weit heterogener als die Sozialdemokratie, weil sie mehrere soziale Schichten umfasste. Im Lauf der Zeit differenzierten sich schließlich drei Hauptfraktionen heraus: eine sozialistische (Clara Zetkin), eine bürgerlich-gemäßigte (Helene Lange, Gertrud Bäumer) und eine bürgerlich-radikale (Minna Cauer, Anita Augspurg). Während der bürgerlich-gemäßigte Flügel vor allem für eine Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für Frauen und die Anerkennung weiblicher Erwerbsarbeit eintrat, ohne aber die bestehende Gesellschaftsordnung verändern zu wollen, strebte der sozialistische Flügel eine vollständige Abschaffung patriarchalischer Sozialstrukturen und des Kapitalismus als Wirtschaftsform an. Die bürgerlich-radikale Gruppe paktierte in Einzelfragen meist mit einer dieser beiden Fraktionen.
Zuwachs literarisch und journalistisch tätiger Frauen
Im Zuge der organisierten Frauenbewegung wuchs bei vielen Frauen, die in bürgerlichen Verhältnissen lebten und davor zurückschreckten, sich politisch zu exponieren und offen für ihre Rechte einzutreten, das Bedürfnis, stärker am öffentlichen Leben teilzunehmen. Kunst und Publizistik boten am ehesten eine Möglichkeit dafür. Und so lässt sich denn in den letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts ein eklatanter Anstieg der Zahl literarisch und journalistisch tätiger Frauen verzeichnen. Gleichwohl war es für eine schreibende Frau nach wie vor äußerst schwierig, im Literaturbetrieb Fuß zu fassen. Wirklich gefragt waren lediglich erbauliche und rührende Erzähltexte oder sentimentale Verse; beide Texttypen fanden besonders in den auflagenstarken Familienblättern Verwendung, die ständig auf der Suche nach passenden Manuskripten waren. Dies änderte sich erst, als mit den Naturalisten eine nachwachsende Generation von – männlichen – Autoren Zugang zu bereits etablierten Periodika erhielt und eigene Zeitschriften ins Leben rief. Da es zum Programm der jungen Schriftsteller gehörte, die Gesamtheit aktueller künstlerischer und sozialer Strömungen zu berücksichtigen – die Gesellschaft etwa wollte ausdrücklich eine „Realistische Wochenschrift für Litteratur, Kunst und öffentliches Leben“ sein –, wurde u.a. der Erörterung der sog. Frauenfrage, d.h. der Frage, welche Rolle die Frau in der Gesellschaft spielen und wie das Verhältnis der Geschlechter zueinander beschaffen sein soll, ein entsprechender Stellenwert zugemessen. Seit ihrer Gründung finden sich in der Gesellschaft regelmäßig Artikel (von Verfassern beiderlei Geschlechts), welche frauenspezifische Themen behandeln, und auch als Autorinnen literarischer Beiträge sind Frauen dort relativ häufig vertreten.
Chauvinistisch wirkende Rhetorik
Es irritiert daher, dass sich zahlreiche Vertreter des Naturalismus gängiger Geschlechterstereotype bedienten, wenn es darum ging, ideologisch-ästhetische Konfliktlinien zwischen der naturalistischen Bewegung und den Vertretern der Gründerzeitliteratur zu markieren. Die Brüder Hart etwa konstatieren in ihrem Aufsatz Für und gegen Zola (1882): „Unsere Literatur ist mit geringen Ausscheidungen zu einer bloßen Frauen-, ja vielleicht Mädchenliteratur geworden“ und kommen deshalb zu dem Schluss, es gelte, endlich wieder „freie, kühne und starke Männlichkeit zu entdecken“ (Hart/Hart 1882–84, H. 2, 54). Julius Hart wendet sich mit Nachdruck „gegen eine Frauen- und Backfischpoesie, welche die Kunst der Prüderie und einem verzärtelten Geschmack ausliefert“ (J. Hart 1887, 47), während Arno Holz in seiner Gedichtsammlung Buch der Zeit (1886) abfällig von der „Höhern-Töchterclerisei“ (Holz 21892, 69) spricht. In der „Einführung“ zu der von Michael Georg Conrad herausgegebenen Zeitschrift Die Gesellschaft heißt es gar:
Unsere Gesellschaft bezweckt zunächst die Emanzipation der periodischen schöngeistigen Litteratur und Kritik von der Tyrannei der „höheren Töchter“ […]. Fort, ruft unsere Gesellschaft, mit der geheiligten Backfisch-Litteratur, mit der angestaunten phrasenseligen Altweiber-Kritik. (Conrad [1885], 1)
Was auf den ersten Blick reichlich chauvinistisch wirkt, verliert indes seinen misogynen Anschein, wenn man bedenkt, dass sich Conrad in dem eben zitierten Text ausdrücklich von den „alten Weibern beiderlei Geschlechts“ (Conrad [1885], 1;zit. bei Holz 1924/25, Bd. 1, V) distanziert und zugleich „alle geisterverwandten Männer und Frauen“ dazu auffordert, „sich mit uns thatkräftig zu vereinen, damit wir in gemeinsamer […] Arbeit unser hochgestecktes Ziel erreichen“ (Conrad [1885], 2). Welche Funktion der markig-aggressive Ton vieler naturalistischer Programmtexte hat, erläutert Heinrich Hart einmal folgendermaßen: „Das Männliche ist nur als Symbol zu fassen, es ist gleichbedeutend mit Wahrheit, Größe, Tiefe.“ (H. H[ar]t. 1885, 596) Nur so wird auch eine paradox klingende Zueignung wie die von Peter Hilles Roman Die Sozialisten (1887) verständlich, der sein Werk „allen Herren, welche keine Dame sind“, widmet. Obwohl besonders in den Schriften der Frühnaturalisten häufig eine Metaphorik zum Einsatz kommt, die gängige Geschlechterstereotype aufgreift und dabei traditionell als männlich codierte Eigenschaften positiv bewertet, ist die naturalistische Bewegung als solche doch alles andere als frauenfeindlich. Sicher finden sich in manchen Texten Residuen chauvinistischen Denkens, doch setzt sich bei fast allen Autoren früher oder später jene Einsicht durch, die Michael Georg Conrad einmal folgendermaßen formuliert hat: „[…] den wahrhaft freien Mann wird uns erst das frei gewordene Weib schaffen. […] Das Weib ist mehr als ein Instrument zur Wollust oder als eine Sensationspuppe … Es ist ein Kulturfaktor ersten Ranges.“ (Conrad 1892, 690f.)
Aufspaltung des Literaturmarktes
Im Grunde verfolgte der Naturalismus eine Doppelstrategie: Er brandmarkte unter rhetorischem Rückgriff auf die herkömmliche gender-Dichotomie jede Form von geschlechtsspezifischem Adressatenbezug, der sich zu seiner Legitimierung auf die moralischen Konventionen der Gesellschaft beruft, und öffnete im Gegenzug seine Publikationsorgane weit für schreibende Frauen, die sich den Normierungen der Gründerzeitliteratur widersetzten. Damit suchte man eine Entwicklung einzudämmen, die etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts eingesetzt und seitdem zu einer internen Segmentierung des Marktes symbolischer Güter geführt hat. Ab etwa 1750 war es nämlich zu einer allmählichen Aufspaltung der literarischen Produktion in einen elitären und einen populären Sektor gekommen, wobei der Rezipientenkreis populärer Belletristik vorrangig aus Frauen bestand. Schon um 1800 gab es nicht nur zahlreiche Genres, sondern auch diverse Periodika, die eigens auf ein weibliches Lesepublikum zugeschnitten waren. Im Lauf des 19. Jahrhunderts differenzierten sich Funktion und Adressatenbezug vieler Texte weiter aus, so dass gegen Ende des Säkulums sowohl wissenschaftlich-gelehrte als auch ‚unterhaltende‘ Literatur stark genderspezifisch codiert war. Besonders innerhalb der Belletristik gab es Lesestoffe, die nur jeweils einem der beiden Geschlechter zugeordnet wurden. Auch wenn diese Normierungen nicht absolut galten und stark schichtenabhängig waren, lieferten sie doch ein Wahrnehmungsraster, das die Schreibpraxis und das Rezeptionsverhalten nachhaltig prägte. Mit diesem geschlechterabhängigen Verständnis von Literatur nun räumte der Naturalismus nachhaltig auf. Er wollte Texte ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Dezenzvorschriften produzieren und suchte deshalb Moral und Ästhetik voneinander zu entkoppeln, weil nur so der zur Maxime erhobene Anspruch auf ‚Wahrhaftigkeit‘ glaubwürdig einzulösen war. Ein dergestalt konzipiertes Kunstprogramm freilich richtet sich an beide Geschlechter gleichermaßen. Edgar Steiger, der dem Naturalismus nahestehende Redakteur der sozialdemokratischen Zeitung Neue Welt, erklärte denn auch mit Nachdruck: „Die moderne Kunst wendet sich an den ganzen Menschen, gleichviel ob Weib oder Mann“ (Protokoll 1896, 84).
Verändertes Frauenbild
Tatsächlich unterscheidet sich das Frauenbild in naturalistischen Texten deutlich von dem früherer Epochen. Anders als in der Romantik werden keine weiblichen Idealfiguren mehr entworfen, und anders als im poetischen Realismus geht das Spektrum dargestellter Frauen über einen eng umgrenzten Kanon adliger, bürgerlicher und bäuerlicher Weiblichkeitstypen hinaus. Stattdessen tauchen in der Literatur des Naturalismus „die ersten ‚Emanzipierten‘ der deutschen Literatur“ (Mahal 1975, 133) auf. Verwiesen sei hier nur auf die Studentin Anna Mahr in Hauptmanns Drama Einsame Menschen, die unkonventionelle Schriftstellerin Sascha in Elsa Bernsteins Wir Drei oder die Augenärztin Sabine Graef in Bernsteins Dämmerung. Daneben begegnen aber auch erstmals seit dem Vormärz wieder Frauen aus der Arbeiterschaft wie etwa in Georg Hirschfelds Steinträger Luise (1895), in Clara Viebigs Die Zigarrenarbeiterin (1897) oder in Otto Erich Hartlebens „Hanna Jagert“ (1893). Mithilfe der naturalistischen Ästhetik jedenfalls war es möglich, die Situation der Frau in der ‚Moderne‘ und zwar sowohl die der bürgerlichen als auch die der Arbeiterin oder die der Prostituierten – realitätsnah und ungeschminkt zu schildern. Dies dürfte im Übrigen einer der Gründe sein, weshalb selbst viele der um 1900 entstandenen Texte von Autorinnen darstellungstechnisch noch mit Verfahrensweisen operieren, die der Naturalismus entwickelt hat.
Der Naturalismus als Katalysator weiblicher Autorschaft
Obgleich es kaum Schriftstellerinnen gibt, die man umstandslos als Naturalistinnen bezeichnen kann, und obgleich Frauen an den Gruppenbildungsprozessen der naturalistischen Bewegung keinen nennenswerten Anteil hatten, spielt der Naturalismus für die Geschichte weiblicher Autorschaft doch eine bedeutende Rolle. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass der im Zeichen des Naturalismus entwickelte Impetus, die soziale Situation unterprivilegierter Bevölkerungsschichten und tabuisierte Themenbereiche zur Darstellung zu bringen, den Blick automatisch auch auf die Situation der Frau in der Gesellschaft lenkte. Seien es nun weibliche Berufstätigkeit (Holz‘/Schlafs Familie Selicke, Bernsteins Dämmerung), weibliche Künstlerschaft (Hauptmanns Einsame Menschen, Bernsteins Wir Drei), die Situation der Frau in der Ehe (Holz‘/Schlafs Familie Selicke, Bernsteins Wir Drei) oder Ausbeutungsphänomene wie sexuelle Übergriffe von Familienangehörigen (Hauptmanns Vor Sonnenaufgang) bzw. Prostitution (Conradis Adam Mensch) – all diese Problemfelder thematisieren für das Verhältnis der Geschlechter zueinander und das Selbstverständnis der Frau zentrale Aspekte. Eine besonders herausgehobene Rolle bei der Thematisierung weiblicher Existenzbedingungen in Ehe und Gesellschaft kommt dabei den Dramen von Henrik Ibsen zu. Vor allem sein Stück En dukkehjem (Nora. Ein Puppenheim) wirkte auf viele Zeitgenossen wie ein Fanal, das die Unterdrückung der Frau im Patriarchat und den repressiven Charakter der bürgerlichen Versorgungsheirat – der Arzt und Kulturkritiker Max Nordau geißelte sie als eine Form der „Prostitution“ (Nordau 1883, 321) und prägte in diesem Zusammenhang die griffige Bezeichnung „Ehelüge“ (vgl. ebd., 309–373) – schonungslos offenlegte. Nicht zufällig lassen sich „in allen drei Städten des Ibsen-Durchbruches, in Berlin, München und Wien […] Verbindungslinien zwischen Ibsen und der bürgerlichen Frauenemanzipation aufzeigen“ (Frenzel 1942, 95).
Verstärkte Präsenz von Autorinnen
In jedem Fall war die sog. Frauenfrage von Anfang an ein wichtiger Gegenstandsbereich der ja vorrangig auf die Analyse gesellschaftlicher Funktionsprozesse ausgerichteten naturalistischen Bewegung. Faktisch fungierte der Naturalismus für viele schriftstellerisch ambitionierte Frauen als eine Art „Zungenlöser“ (Bänsch 1974, 141), der kreative Energien entband und als Folge davon die Präsenz von Autorinnen in der literarischen Öffentlichkeit massiv verstärkte. Die Periodika im Umfeld des Naturalismus boten vielen schreibenden Frauen ein Forum, in dem sie sich Gehör verschaffen konnten, und die dort ausgetragenen Diskussionen um die Stellung der Frau in der Gesellschaft trugen die sog. Frauenfrage in eine breitere Öffentlichkeit. Zu den Schriftstellerinnen, die durch den Naturalismus zu eigenem künstlerischen Ausdruck fanden, häufig in dessen Publikationen präsent oder ästhetisch von dessen Programm beeinflusst sind, gehören u.a. Elsa Bernstein (Pseudonym: Ernst Rosmer), Helene Böhlau, Ida von Boy-Ed, Christine von Breden (Pseudonym: Ada Christen), Anna Conwentz (von Dyckowska), Dora Duncker, Maria Janitschek, Franziska von Kapff-Essenther, Emilie Mataja, Alberta von Maytner (Pseudonym: Margarete Halm), Olga von Oberkamp (Pseudonym: Oscar Berkamp), Alberta von Puttkammer, Gabriele Reuter, Anna Croissant-Rust und Clara Viebig. Letztlich war der Naturalismus mit der Frauenbewegung gleich auf mehrfache Weise verkoppelt: Mit der bürgerlichen Frauenbewegung teilte er die Kritik an der Doppelmoral des Bürgertums und dessen zurückgebliebenen sozialen und ästhetischen Wertvorstellungen, und eine grundsätzliche Solidarität mit den organisierten Arbeiterinnen, die vor allem gleiche Bezahlung wie ihre männlichen Kollegen forderten, resultierte aus seinem volkspädagogischem Impetus. Insgesamt wird man daher sagen dürfen, dass der Naturalismus das Selbstverständnis der ‚modernen‘ Frau entscheidend mitgeprägt und die Präsenz von Autorinnen in der zeitgenössischen Öffentlichkeit wesentlich vorangetrieben hat.