Ein Schrei in der Nacht, Kathmandu, 1983.
Meine Mutter hörte ihn zuerst.
Sie setzte sich auf, horchte mit geschlossenen Augen und versuchte, aus dem Nebel des Schlafs aufzutauchen und sich auf das Geräusch zu konzentrieren.
Ein einzelnes Heulen, das sich in unzähligen Echos an den Bergen ringsum brach. Sie weckte meinen Vater. Die beiden lauschten in der Dunkelheit, und vielleicht hörte auch ich es, denn ich befand mich sicher im Bauch meiner Mutter, einen Monat vor meiner Geburt.
Das Geräusch kam von einem Hund im Hof, Minuten oder Stunden vom Sterben entfernt. Er lag auf der Seite, die Augen glasig vor Angst. Sein Bauch war von etwas aufgerissen worden, einer Phantomklaue. Vor Schmerz stieß er einen durchdringenden Laut aus, ein klagendes Lied. Meine Mutter und mein Vater standen gemeinsam im Hof, schweigend angesichts der Gewissheit dessen, was sie sahen: spürbares, ununterbrochenes Leiden. Beide wünschten dem Hund einen schnellen Tod, den sie ihm nicht geben konnten.
Wenn ich mir diesen Moment vorstelle, sehe ich meine Eltern auf entgegengesetzten Seiten des Rasens, jeder verarbeitet für sich das Problem des sterbenden Hundes. Wahrscheinlich liege ich nur halb richtig. Ich nehme an, sie standen nebeneinander, schauten aber geradeaus und nicht zueinander, um eine Lösung zu finden. Irgendwie waren meine Eltern nie wirklich zusammen. Es gibt schriftliche Daten auf Dokumenten, die den Anfang und das Ende ihrer Ehe festhalten, und es gab Jahre, in denen wir unter einem Dach lebten, und andere, in denen mein Vater wegen der einen oder anderen Affäre getrennt von uns logierte. Aber in meiner Erinnerung wiegen solche Unterscheidungen nicht schwer. Die beiden glichen immer zwei Planeten, deren Umlaufbahnen sie manchmal näher zusammen-, manchmal weiter auseinanderbrachten. Aber vielleicht war es vor mir und dem Hund im Hof anders zwischen ihnen gewesen.
In einer entscheidenden Hinsicht glichen sich meine Eltern: Beide beschäftigten sich mit großer moralischer Ernsthaftigkeit mit der Frage, was es heißt, ein gutes Leben zu führen. Ihre Antworten entwickelten sich in gegensätzliche Richtungen, vielleicht fühlten sie sich deshalb voneinander angezogen. Sie konnten lernen, wie man auf andere Weise das Richtige tat. Meine Mutter, seit jeher praktisch veranlagt, fing an zu überlegen, welches Werkzeug – Keule, Bratpfanne, Küchenmesser – ihnen zur Verfügung stand, mit dem sie das Schicksal des Hundes beschleunigen könnten, während mein Vater in die Sterne schaute und anfing zu philosophieren. War er dazu berechtigt, den Tod herbeizuführen, um das Leiden zu beenden? Konnte Töten ein Akt der Barmherzigkeit sein?
In Kathmandu wimmelte es von herrenlosen Tieren, abgemagert vor Hunger, auf die eine oder andere Weise verstümmelt, mit einem fehlenden Auge oder Ohr. Je länger diese einsamen Tiere lebten, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie weitere einsame Tiere zeugten, weshalb die nepalesische Regierung Razzien durchführte, um die Streuner einzusammeln und einzuschläfern. Danach schienen die Straßen eine Weile leer, aber sie kehrten immer wieder zurück. Man lernte, damit zu leben, hatte mir meine Mutter erzählt. Wenn Menschen arm sind, sind Tiere noch ärmer.
Meine Eltern fütterten und kümmerten sich um viele Tiere, die verletzt und hungrig in ihren Hof wanderten, doch dieser Hund war nicht zu retten. Meine Mutter meinte, sie könnten ihm den Kopf zertrümmern, aber sie besaßen kein Auto, um ihn zu überfahren. Sie ertrug es nicht, den Hund so lange leiden zu sehen. Sie wünschte sich, sie hätten ein Gewehr; meinem Vater wäre ein Blitzschlag lieber gewesen. Schließlich sagte er, er werde ihn ertränken.
Mein Vater sang ständig. In meiner Erinnerung ist er mitten in einem Solo. Er sang Stücke von Bruce Springsteen. Er sang Elvis Costello, David Byrne, Otis Redding. Er sang Richard Thompson-Songs so oft und mit einer Hingabe, dass ich an den beliebten britischen Folk-Rock-Sänger nur als eine Art imaginären Freund meines Vaters denken kann. Er hatte eine einzigartige Empfänglichkeit für ästhetische Möglichkeiten, konnte sie förmlich aus der Luft saugen. Jede Oberfläche war ein Schlagzeug, jeder Zylinder ein Mikrofon, jeder Ort eine Gelegenheit zu tanzen. Wir sahen gern zusammen fern, aber in den Werbepausen schaltete mein Vater den Ton aus, wandte sich mir zu und rezitierte ein Gedicht. Er schrieb eigene Songs, eigene Strophen, Teile von Kurzgeschichten, Kapitel von Büchern. Er war immer in der Frühphase einer neuen Fantasie. In schöpferisches Tun versunken zu sein, ständig etwas Schönes zu schaffen – das bedeutete für ihn ein gutes Leben. Die Zerstörung von Leben war das Ende von Schönheit, und das Zunichtemachen von Dingen bedrohte alles, was gut war. Folglich musste das Ertränken des sterbenden Hundes für ihn ein mit vielen Schrecken behafteter Akt gewesen sein.
Von meinem Hotelzimmer in Rom aus sehe ich den Tiber. Spärliche Kräuselwellen erheben sich, reflektieren ein wenig Straßenlicht und lösen sich dann wieder im Dunkel auf. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie mein Vater in Kathmandu das Bad für den verletzten Hund einlässt und ihn hineinträgt. Mein weichherziger Vater, so empfänglich für das Leben – seine für alles Schöne offenen Rezeptoren waren genauso offen für alles Leid.
Mein Vater hatte meine Mutter gebeten, am Rand der Badewanne bei ihm zu bleiben. Immerhin war sie es, die mit den harten Fakten des Lebens fertigwurde, also würde es auch diesmal so sein. Er brauchte das von ihr. Es gefiel ihm, am Abgrund der Klippen des Lebens zu stehen, stets neugierig, was in den Tiefen lag, aber den Sturz konnte er nicht leiden. Er musste an einem sicheren Ort verankert sein, und meine Mutter war seine Leine.
Aber sie überraschte ihn. Sie konnte nicht bleiben und ihm beim Töten des Hundes helfen, sondern versteckte sich im Schlafzimmer, hielt sich Augen und Ohren zu. Also drückte er den Kopf des Hundes allein unter Wasser, und währenddessen löste sich etwas, das ihn mit meiner Mutter verband. Sie hatte ihn verraten, indem sie ihm ihre Rolle aufzwang. Er konnte ihr das nie verzeihen. Er konnte nicht verzeihen, dass er diese Bürde allein tragen musste.
Auch meine Mutter war empfänglich für Leid, aber sie besaß die Disziplin, sich Gefühllosigkeit aufzuerlegen. Ich neige dazu, meine Gefühle zu unterdrücken, sagte sie oft zu mir, immer gleichermaßen resigniert und stolz. Aber als es in Kathmandu darum ging, diesen Hund zu töten, konnte sie es nicht. Vielleicht lag es an mir. Sie konzentrierte sich völlig auf mich und meinen unbekannten, aber sicherlich anormalen Zustand. Andere Mütter in Kathmandu erzählten ihr Geschichten über Babys, die in ihren Bäuchen strampelten und sich drehten, die sie nachts wach hielten, aber ich war jeden Tag fällig, und sie hatte noch keine Regung von mir in sich gespürt. Ich war ein ominöses Rätsel, schwer und leblos. Mein Vater, der nichts mehr fürchtete als Stille, wusste nicht, dass ich mich nicht bewegt hatte. Meine Mutter hatte es ihm verschwiegen. Sie wusste, dass ich nicht real für ihn war – ich war nur eine Idee, eine Schwellung unter der Haut. Sie entschied sich, mir ihre ganze Kraft zu schenken, sodass an diesem Abend keine für ihn übrig war; in den Monaten, Wochen und Tagen vor meiner Geburt trug ihre Umlaufbahn sie näher zu mir und weiter weg von ihm. Ich war real für meine Mutter, und sie war eine Frau, die sich harten Fakten stellte, und die Möglichkeit, dass ich vielleicht mehr Opferbereitschaft und Arbeit erfordern würde, als sie erwartet hatte, machte mich noch realer.
Ich öffne mein Hotelfenster, und herein kommen Stechmücken, ein träger Wind und der modrige Duft des Tibers. Auf der anderen Flussseite steht die Basilica di Santa Maria in Cosmedin; der elegante, siebengeschossige Glockenturm ragt in den lauen Nachthimmel. Dahinter befindet sich der Palatin, einer der sieben Hügel Roms, und dahinter schimmert das Kolosseum, geöffnet die ganze Nacht für schlaue Touristen, die auf Besichtigungstour gehen, wenn die Julisonne ihr gleißendes Auge geschlossen hat. Was sah mein Vater vor sich, als er den Hund ertränkte? Ich habe ihn nie gefragt. Starrte er auf die Fugen zwischen den Kacheln oder sah er nur das Wasser, sein klares, stilles Instrument? Regulierte er die Temperatur, als er das Wasser einließ, bis es sich weder heiß noch kalt, sondern wie nichts anfühlte? Und was ging in ihm vor, als er den Hund nach unten drückte, bis er sich nicht mehr bewegte? Ich bewunderte sein großes Einfühlungsvermögen und beneidete ihn darum, aber ich wollte es damit auch nicht übertreiben. Ich wollte nicht die dazugehörige Verzweiflung. In dieser Hinsicht war ich widersprüchlich, ungerecht. Ich verehrte ihn, aber ich wollte ihn nicht wirklich kennen, weil ich ihn nicht so akzeptierte, wie er war. Ich stelle mir vor, dass er sich einsam und verängstigt über die Wanne neigte und zusah, wie das Blut gleich Seerosen aus den Wunden des Hundes aufstieg. Versuchte er, mein Vater, ein Mann, für den der Sinn des Lebens in ästhetischen Erfahrungen bestand – versuchte er dem Ganzen Schönheit abzugewinnen?
In Kathmandu gab es keine Krankenhäuser, also brachen meine Eltern nach Bangkok auf. Es war Juni, heiß. Es gab ein Kino, in dem amerikanische und europäische Filme aus den Siebzigern liefen. Meine Eltern kannten diese Filme, die in Thai untertitelt waren, aber das Kino war klimatisiert. Die Fruchtblase meiner Mutter platzte mitten in Der Pate – Teil II. Sie fuhr rückwärts auf dem Motorrad meines Vaters ins Krankenhaus, ihr schwangerer Bauch in die Nachtluft gereckt. In den Gängen streunten Hunde und Katzen herum. Ich war in Steißlage, bewegte mich nicht und die Nabel… –
»Stimmt nicht«, fällt meine Mutter mir ins Wort. »Woher hast du solche Geschichten?« Sie schnaubt ins Telefon. Ihr Atem knistert durch den Hörer. Ich hatte mich so nach ihr gesehnt, als ich aus meinem Hotelfenster schaute.
In Kansas ist es Abend, in Rom früher Morgen. Eine metallische Melodie erklingt, das Geräusch von Wasser, das aus einem Lappen über dem Waschbecken gewrungen wird. Meine Mutter wäscht das Geschirr vom Abendessen ab. Ich schließe die Augen und sehe die Szene deutlich vor mir: Sie steht allein in der Küche, das Mondlicht fällt auf die Ränder der nassen Teller, die auf dem Gestell trocknen, und das ganze Haus ist nur von der einzigen eingeschalteten Lampe im Wohnzimmer erhellt. Ihre Farm steht in der Mitte einer grasbewachsenen Lichtung, und hinter der Lichtung befinden sich knorrige Baumstümpfe; der Tiber vor meinem Fenster, ein Ölteppich unter demselben schimmernden Mond, den auch meine Mutter sieht, wird zu einer schwarzen Leinwand, auf der ich vor meinem geistigen Auge das Bild des – mit all seinen Kratzern und Dellen – weißen Porzellanwaschbeckens in der Küche meiner Mutter male, und darin ihre Becher und Gläser, ihre Hände.
»Was stimmt nicht?«, frage ich.
»Es gab kein Motorrad. In Nepal, ja, da hatte er eins, aber er hat es nicht mit nach Bangkok genommen. Hat er dir das erzählt?«
»Er hat dich rückwärts auf das Motorrad gesetzt –«
»Ein schönes romantisches Bild, aber falsch«, sagt sie.
Es war ein schönes Bild, eines, das ich liebgewonnen hatte, die Vorstellung meiner schwangeren Mutter, herrlich und frei auf dem Sozius des Motorrads dahinschwebend und die immer länger werdende Straße betrachtend –
»Was ist mit dem Taxifahrer?«, meldet sich meine Mutter.
»Welcher Taxifahrer?«
»Du kennst die Geschichte nicht?«
»Mom«, sage ich, »falls es deine Geschichte ist, würde ich sie gern hören.«
»Hmm«, sagt sie.
»Mom?«
»Was?«
»Taxi?«
»Meine Fruchtblase ist in der Dusche in unserem Hotel geplatzt. Dein Vater hat ein Taxi angehalten, das uns ins Bangkok Nursing Home bringen sollte, aber als mich der Fahrer sah, hat er den Preis verdreifacht.«
»Hast du gezahlt?«
»Nein, ich hab gesagt: Geh zum Teufel. Dieser Typ wollte handeln, aber ich dachte nicht daran, am Tag der Geburt meiner Tochter zu handeln.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich bin gelaufen.«
»Wie –«
»Langsam.«
»Nein, wie weit, Mom?«
»Ziemlich weit. Ich weiß noch, dass ich mich an einem Zaun festgehalten habe. Da war kein Motorrad. Ich bin gelaufen! Diesen Teil kennst du nicht? Wie ich den ganzen Weg zum Krankenhaus gewatschelt bin?«
Mein Vater konnte Menschen gut durchschauen. Er kannte sich mit Erwartungen aus. Er erkannte, was andere glaubten, dass man ihnen schuldete, und was sie wirklich wollten, und er gab ihnen entweder das eine oder das andere, aber nie beides. Das machte ihn zu einem brillanten Geschichtenerzähler, einem Traumgast bei Dinnerpartys. Wer neben ihm saß, fühlte sich geehrt. Er brachte andere zum Lachen und ließ sie glauben, er sei der leuchtendste Punkt in jedem Raum, und wer in seine Nähe geriet, käme dem wahren Zentrum näher. Auch mir ging das so. Als Kind wollte ich ihm nie von der Seite weichen. Ich war sein hingebungsvollstes Publikum und wurde mit seinen Geschichten belohnt: Wie er sich in Asien in labyrinthartigen Basaren verirrte, einer Motorradgang anschloss, in einer Band spielte. Er erzählte mir von den Sherpas, die ihn den Everest hochführten, wie dünn sich die Luft in seiner Lunge angefühlt und er sich ausschließlich aufs Überleben fokussiert hatte.
Er war der Klügste in seiner Familie gewesen, der Klügste, den er kannte, und später war er gut im College, und die Gewissheit seines Intellekts verlieh ihm das Gefühl, die Schulden des Lebens seien abgegolten und er müsse jetzt nur noch seiner blendenden Zukunft entgegengehen.
Die physische Schönheit meiner Mutter war ihr Eintritt in die Geschichten meines Vaters. Sie war, hatte er mir oft erzählt, die schönste Frau der Welt. Er hatte sie zum ersten Mal in einem Konferenzsaal gesehen. Sie war jung, langes dunkles Haar, dunkle Augen. Sie wurde angeworben, um in Gebieten in den Vereinigten Staaten zu unterrichten, in denen Lehrer gebraucht wurden, und er war der Anwerber. Er ging durch den Saal zu ihr und bat sie, ohne sich vorzustellen, ihn später am Abend zu treffen. Sie stimmte zu, und er verschwand.
Als die Rekrutierungssitzungen des Tages vorbei waren, blieb sie in der Lobby, wo er sie gebeten hatte zu warten, aber er war nicht da. Sie gab ihm noch eine Minute und dann noch eine, aber er kam nicht. Sie blieb in der Lobby, bis die Lichter ausgingen, und kehrte dann zurück in ihr Hotel.
»Warum hast du gewartet?«, frage ich sie.
Sie atmet laut ins Telefon, um mir zu vermitteln, dass ich eine unangenehme Frage stelle, nicht wegen des Themas, sondern weil es um einen Moment geht, der längst vergangen ist. Sie wird unruhig. Ihre Stimme schwankt, weil sie den Hörer zwischen Schulter und Kinn klemmt, damit sie die Hände frei hat. Sie würde das Gespräch gern beenden, aber ihr fehlt ein Grund, da sie weiß, dass ich ihren Arbeitsablauf kenne. Sie ist bereits in ihren schwarzen Gummistiefeln über das Feld gestapft, um die Boxen auszumisten und die Futtersäcke mit Heu zu füllen. Ihre Pferde Echo und Jimmy sind inzwischen gestriegelt und unter ihren Fliegenmasken gekratzt worden, versorgt bis zum Morgen. Ich höre sie in der Küche umhergehen, auf der Suche nach weiteren Aufgaben. Ihr eigenes Abendessen und der Abwasch kommen zum Schluss, und beides ist jetzt erledigt. Aber meine Mutter findet immer irgendeine Kleinigkeit, um die sie sich kümmern muss.
»Mom, warum hast du auf ihn gewartet?«, wiederhole ich.
»Ich weiß es nicht. Warum nicht? Wen interessiert das schon?«
Sie saß wartend auf ihrem Hotelbett und dann klopfte es. Mein Vater, ein Fremder, stand in der Tür, eine Augenbraue hochgezogen, das Gesicht vor Stolz strotzend, während er ihr lächelnd erklärte, es tue ihm leid, sie in der Lobby verpasst zu haben, er sei bei einem Treffen mit anderen Bewerberinnen aufgehalten worden, und irgendwie hatte sich das Treffen zu einer Orgie entwickelt.
»Warst du sauer?«, frage ich.
»Kann sein, dass ich da seinen Namen noch gar nicht wusste«, erwidert meine Mutter.
Er stand in der Tür und erzählte in monotonem Tonfall von der Orgie, um ihr eine erstaunte Reaktion zu entlocken, da er sie für jemanden hielt, der leicht zu beeindrucken war. Sie betrachtete ihn distanziert, parierte sein Gehabe. Sie war und ist vollkommen eigenständig, eine verschlossene und einsame Person, die genau den Platz einnimmt, der ihr zusteht, und nicht mehr. Sie beobachtete, wie sich seine blauen Augen unruhig bewegten. Sie verunsicherte meinen Vater, machte ihn verlegen. Er fragte sich, was ihre Schönheit für ihn bedeuten könnte, ob meine Mutter sein Ansehen steigern und er in ihrer Nähe glänzen könnte. Besaß sie die Fähigkeit, ihm zu verzeihen? Bestimmt, warum nicht, klar, sie konnte es.
»Wieso reden wir jetzt über das alles?«, fragt meine Mutter.
»Übrigens, ich nehme unser Gespräch auf«, sage ich.
»Das solltest du besser nicht.«
»Sag mir einfach, warum du dich nach alldem mit ihm verabredet hast.«
»Hmm.« Sie klingt ärgerlich und wiederholt das hmm, aber diesmal klingt es eher wie ein Schulterzucken. Wir schweigen eine Weile.
Schließlich sagt sie: »Eigentlich sollte man den Leuten im Voraus sagen, dass man sie aufnimmt.«
»Ich weiß.«
Sie misstraut mir. Sie ist gelangweilt. Für sie ist das Eintauchen in die Vergangenheit Energieverschwendung. Sie beschäftigt sich lieber mit ihren Aufgaben, die alle in der Gegenwart liegen. Um sie zum Reden zu bewegen, brauche ich ein Stichwort, das einem schief aufgehängten Bilderrahmen gleichkommt. Sie würde sich genötigt fühlen, ihn auszurichten.
»Ich kenne die Geschichten nur in Dads Version«, sage ich.
Kühle Luft weht durch das offene Fenster in mein Hotelzimmer. Der Staub hat sich gelegt. Das pulsierende Zirpen der Zikaden wird lauter. Ich höre, wie meine Mutter etwas in der Spüle abwäscht. Einen kurzen Moment lang bin ich nicht in Rom, sondern bei ihr. In Kansas. Ich sehe, was sie sieht, und ich sehe ihr Stirnrunzeln, ich höre den Wasserhahn laufen, dann wird der Lappen noch einmal ausgeschüttelt; ich weiß genau, wie der Lappen aussieht, mit dem sie die Küchentheke abwischt, ich weiß, welche Seite sie zuerst säubert und wo sie innehält, ich bin bei ihr.
»Hmm, na schön«, sagt meine Mutter. »Mach weiter. Aber lass mich die Fakten überprüfen.«
Am Anfang war mein Vater nur ungern nach Asien gereist. Die Familie meiner Mutter kam ursprünglich von den Philippinen und war vor ihrer Geburt in die Staaten immigriert, wo sie in Kansas aufwuchs. Sie und ihre Schwester Georgeanne wollten reisen. In Kathmandu arbeiteten sie beide als Lehrerinnen in einer internationalen Schule. Als meine Mutter verkündete, dass sie nach Nepal zöge, erklärte mein Vater sie für verrückt, worauf sie erwiderte, er könne mitkommen oder nicht, sie werde jedenfalls gehen und vermutlich nicht mehr so schnell zurückkehren. Eine Heirat vereinfachte die Reiselogistik, und so lieh sich meine Mutter einen Rock von ihrer Schwester, und meine Eltern schlossen im kleinen Kreis den Bund der Ehe.
Die laschen Drogengesetze in Nepal machten es zu einem beliebten Land für Leute, die vor etwas fliehen wollten. Mein Vater hatte immer eine Clique, mit der er sich die Nacht um die Ohren schlug. Er stand auf Drogen, Frauen, vor allem aber trank er gerne. Er war gerade mal dreißig. Ein Leben im Ausland konnte er sich unschwer vorstellen, das Umherziehen von einem Land ins nächste, ohne je lange zu bleiben oder sesshaft zu werden. Sein Lieblingsfilm war Lawrence von Arabien. In seinem Herzen war er T.E. Lawrence, ein mutiger Fremder in einem fremden Land, ein komplizierter Anführer, ein Mann mit gespaltenen Loyalitäten. Er war auf ein großes Abenteuer aus und hatte es schließlich gefunden, aber es war nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Er hatte das Beste verpasst, den wahren Höhepunkt der Hippie-Utopie im Ausland. Er war ein Mensch, der gerne im Mittelpunkt einer großen Geschichte stehen wollte, sich aber immer irgendwie einen Schritt außerhalb befand. Jetzt bekam meine Mutter seine ständige Unzufriedenheit ab. War es nicht allein ihre Schuld, dass alles so falsch lief? Sie und keine andere hatte ihn an die heruntergekommenen Ränder dieses gewaltigen Kontinents geschleppt.
Ich glaube, mein Vater ging mit nach Asien, weil er meine Mutter liebte, aber auch, weil er nicht wollte, dass sie ein erfüllteres Leben führte als er. Außerdem wollte er sich für seine Jugend rächen. Er war arm und unbeliebt im ländlichen Pennsylvania aufgewachsen und hatte beobachtet, dass die Raufbolde seiner Kindheit wie ihre Väter wurden und mit ihnen in den Kohlenminen der Stadt arbeiteten. Von Nepal aus bemitleidete er sie. Während Drogensucht und Alkoholismus den Rest seiner Familie in Pennsylvania dahinrafften, war er sicher, dass sein eigener Alkoholismus etwas Nobles hatte. Er konnte ein Abenteurer mit Lastern werden, die, vor dem Hintergrund des Himalaya, als modern und literarisch galten, doch am wichtigsten, er würde nicht wie sein Vater werden, der tot war, gestorben an einem Herzinfarkt im Monat vor seiner Geburt.
Von seinem toten Vater wusste er nur, dass er ein »Heiliger« war und dass sein Leben einen besseren Verlauf genommen hätte, wenn dieser Heilige am Leben geblieben wäre. Meine Großmutter sprach nie über ihren toten Mann, weil sie es entweder zu schmerzhaft oder nicht lohnenswert oder, am wahrscheinlichsten, beides fand. Sie heiratete nie wieder, traf sich auch nicht mehr mit anderen Männern, sondern klammerte sich an den Geist meines Großvaters, ohne sein Gedächtnis lebendig zu halten. Sie erzählte meinem Vater nicht, wie er gewesen war, was er gemocht oder woran er geglaubt, wie er sie behandelt und für seine Familie gesorgt hatte. Mein Vater fand, dass man ihn seines wichtigsten Vorbilds beraubt hatte.
Die Schwester meines Vaters, Sarah, war zwanzig Jahre älter als er. Die beiden lebten nie unter einem Dach und standen sich nicht nah. Sie hatte ihre ganze Kindheit mit meinem Großvater verbracht, während ihm nicht ein einziger Tag mit ihm vergönnt gewesen war. Und so war mein Vater eifersüchtig auf Frauen, weil die beiden, die ihm am nächsten standen, ein Leben lang das Leitbild meines Großvaters hatten, des verschwundenen Heiligen. Dieser Verlust war eine tiefe Kränkung, die er nie verwand.
Meine Tante Sarah besuchte uns einmal in Kansas, nachdem wir von Nepal dorthin gezogen waren. Ich weiß nicht, was es war, aber irgendetwas in Sarahs Kindheit machte sie im Erwachsenenleben anfällig für gewalttätige, hasserfüllte Männer. Ihr erster Mann versuchte sie umzubringen. Ihr zweiter war ein wohlhabender Witwer, der sie verachtete und in der Öffentlichkeit bittere Auseinandersetzungen mit ihr führte. Zu erleben, wie Sarahs zweiter Mann sie in Restaurants und Lebensmittelgeschäften anschrie, war eine der tiefsitzendsten Erinnerungen meines Vaters aus seiner Kindheit. Für den Rest seines Lebens fürchtete er jede Form von Streit in der Öffentlichkeit.
Als Sarah uns besuchte, war sie die meiste Zeit in einem Zustand extremer Wachsamkeit, weil sie überall Gefahr witterte. Sie hatte solche Angst, dass ich in der Dusche ausrutschen könnte, dass sie den Boden mit sämtlichen Badetüchern auslegte, die wir besaßen. Wenn wir unterwegs waren, bestand sie darauf, mich an die Hand zu nehmen, und drückte sie so fest, dass blaue Flecken zurückblieben. Als sie einen jungen Schwarzen sah, der über unseren Rasen die Einfahrt hoch zu einem Schuppen ging, rief sie die Polizei. Später, als die Polizei kam, stand mein Vater zwischen den Beamten und unserem jungen Nachbarn, den er bezahlte, um unseren Rasen zu mähen, beschimpfte Tante Sarah wüst und entschuldigte sich bei allen anderen. Er fühlte sich durch diesen Vorfall, der sich vor aller Augen auf seinem Rasen abspielte, zutiefst gedemütigt und brüllte Tante Sarah an. Sie weinte, weil sie nicht verstand, dass sie plötzlich die Böse war.
Mein Vater glaubte, so wie die von ihm verehrten griechischen Philosophen, dass Unwissenheit allegorisch gesehen eine Höhle war, aus der wir befreit werden können, wenn nur jemand unsere Ketten sprengte und uns aus dem Dunkel ins Licht führte. Aber mein Vater hatte das Gefühl, dass ihm diese Führung nicht gewährt worden war. Man hatte ihm keinen Gott, keinen Vater, keinen Lehrer beschert – nur eine trauernde Mutter und eine distanzierte Schwester, beide ins Unglück gestürzt durch Heirat und ihre Weigerung, West Pittston, Pennsylvania zu verlassen – er nannte es das Ödland ihrer Jugend –, aus dem er physisch mit siebzehn geflohen war. Geistig war er weniger erfolgreich.
Er wollte eine eigene Familie, er wollte uns, meine Mutter und mich, aber er war nicht in der Lage, seine Kindheit hinter sich zu lassen – sie lebte in seiner Gegenwart fort, zerrüttete seine Zukunft. Er hatte kein Vorbild für familiären Zusammenhalt, nur Auflösung, und er konnte nur wiederholen, was er kannte, und das war Abwesenheit. Ich bin überzeugt, dass er sich ändern wollte. Er las wie besessen, suchte in Büchern nach der Hilfe, die ihm das Leben versagt hatte. In dieser Hinsicht waren wir uns ähnlich. Wir hatten beide das Gefühl, keinen Kompass zu haben, und so klammerten wir uns an die Orientierung, die wir in Büchern, Kunstwerken und Ideen, in den Geschichten mutiger und brillanter Menschen fanden. Mein Vater suchte in Büchern nach seinem verlorenen Vater, und auch ich suchte dort nach meinem, aber wir waren beide immer allein und suchten einen Geist.
Ich kam als ein Knäuel aus verdrehten Muskeln und eingeklemmten Knochen zur Welt. Meine verkrüppelten, leblosen Füße berührten meine Ohren. Ich war in zwei Hälften geknickt. Meine Beine waren verschrumpelt und kurz. Die Kugeln meiner Hüftknochen ragten aus ihren Gelenkpfannen. Meine Mutter war bewusstlos, stand nach dem Notkaiserschnitt noch unter Narkose, und so war mein Vater allein, als er mich sah.
Mein Vater wollte jedes Land bereisen und jede Sprache sprechen. Er war sicher, dass er zu großer Kunst fähig war, dass er zehn Romane schreiben könnte. In seiner Geschichte hatte er Platz für ein Kind gelassen, das mit ihm reiste, diese Abenteuer miterlebte und noch viele Jahre später Geschichten von dem großen und komplexen Vater erzählen würde. Für einen Körper wie meinen gab es in seinem imaginären Leben keinen Platz. Wessen Kind war das also?
Als meine Mutter aus der Narkose aufwachte, suchte sie mich, doch ich war nicht da. »Wo ist mein Baby?«, fragte sie meinen Vater. Er sagte nichts. Ich habe mir diesen Moment zwischen meinen Eltern vorgestellt: Mein Vater, der meine Mutter ansah und sie um diese letzten Sekunden in einem reinen und begrenzten Raum beneidete, in dem sie wusste, dass ich existierte, aber nicht in welchem Zustand. Ich stellte mir vor, wie der sichere Raum sich auflöste, als die Schwestern mich ihr übergaben, verstümmelt, rot und nackt, schreiend vor Elend.
Die Ärzte in Bangkok waren ratlos. Das kaudale Regressionssyndrom ist selten, und sie hatten es noch nie gesehen, wussten nicht, wie sie es meinen Eltern erklären sollten. Sie hatten keinen Namen für das, was ich war, aber sie zählten eine Liste von Dingen auf, zu denen ich ihrer Einschätzung nach nie fähig wäre. Sie sagten, wenn ich lebte, würde ich nie laufen, nie ohne Hilfe stehen, nie schmerzfrei sein können. Sie sagten, dass ich nie in der Lage sein würde, meinen Darm allein zu entleeren – so drückten sie es vor meinen Eltern aus. Mein Vater stellte sich ein Leben vor, in dem er meinen Abfall entsorgte. Sie sagten, eine Exartikulation, die chirurgische Amputation meiner unteren Gliedmaßen an der Hüfte, sei ziemlich wahrscheinlich. Die Liste wechselte, schrumpfte und erweiterte sich im Laufe der Jahre. Einiges wurde gestrichen, als es sich als falsch erwies, aber durch anderes ersetzt. Sie erklärten meiner Mutter, ich könne niemals schwanger werden. Es gab so wenig Fälle von Sakralagenesie, so wenig Beispiele, keine Forschung. Meine Eltern hörten den Ärzten zu, glaubten ihren Prognosen und später glaubte auch ich sie.