Mein Bus ruckelt die Via Merulana entlang, eine schöne Allee mit saftigem Grün auf beiden Seiten. Die Leute kaufen an Obstständen ein, sitzen in Cafés, warten an lavanderias, parken Autos. Ein Blätterdach neigt sich über die Straße, und durch die Äste zeichnet das Licht wogende weiße Muster in den schwarzen Asphalt. Mein Handy vibriert, eine SMS von Jay: Ich glaube, es tut ihm leid. Oder es ist ihm peinlich. Ein Mann sitzt neben mir im Bus; das Licht blendet, er blinzelt und schließt die Augen vor den grellen Strahlen. Sein graues Haar wird silbrig, dann weiß und wieder grau, während wir unter einer flirrenden Sonne fahren. Er trägt einen Anzug, und ich überlege, ob ich mit meiner Opernkarte spielen soll, um ihn auf die Möglichkeit aufmerksam zu machen, dass wir vielleicht dasselbe Ziel haben.

Eine Kurve in der Straße bringt uns lange genug in den Schatten, dass der Mann die Augen wieder öffnet, und da ist er, dieser vertraute Farbton, ein dunkles, leuchtendes Blau. Ich bin versucht, eifrig meine Erfolge aufzuzählen und ihm zu versichern, dass ich Rom erst verlasse, wenn ich die Sightseeing-Checkliste abgehakt habe: Ja, ich habe die Treppen und den Brunnen gesehen und, ja, ich habe die Pasta gegessen und, ja, jetzt bin ich unterwegs zu einer italienischen Oper und, ja, natürlich habe ich auch die Berninis gesehen, und wie schön das war! Hatte ich mich nicht gut geschlagen? Bei der nächsten Haltestelle steht der Mann auf. Ich lausche seinem Atem, als er sich vom Sitz erhebt. Seine Schritte verklingen, er ist weg, und ich: Ich werde nie aufhören, mir einen Vater zu wünschen.

Wieder zu Fuß, folge ich einigen Leuten durch die Straßen, bis ich die Schilder sehe, die mich in Richtung Nabucco leiten. Ich zeige einem Wachmann meine Karte und werde durch ein Tor in den Park gewunken, der die Ruinen der Caracalla-Thermen umgibt. Scheinwerfer beleuchten die Schirmkiefern, tauchen die Zweige in einen silbrigen Glanz, wie auf den Himmel gestempelte Blitze. Vor mir steht das Gerippe einer prachtvollen kaiserlichen Badeanlage, eines der sieben Wunder von Rom, die antiken Thermen, wo Menschen einst gemeinsam badeten, redeten, spielten, lasen. Auch Vitruv hat seine Handschrift in dem Bau hinterlassen. In De architectura schrieb er ein Kapitel über die angemessene Einrichtung von Badeanlagen, auf dessen Grundlagen die Caracalla-Thermen errichtet wurden. Die Bäder überdauerten viele Leben, wurden Anfang der 200er Jahre erbaut und dann dreihundert Jahre später im Gotenkrieg beschädigt. Danach dienten sie als Begräbnisstätte, dann als Steinbruch, dann als Weingut und heute werden hier im Sommer Konzerte und Opern aufgeführt, und ich komme in den Genuss von Nabucco, inszeniert auf einer Freilichtbühne, umgeben von Überresten, bröckelndem Marmor, Ziegel, Kalk und Tuffstein.

Mein Sitz ist so niedrig, dass meine Füße den Boden erreichen, eine Seltenheit, und er ist so flach, dass ich bündig an der Rückenlehne sitzen kann, eine noch größere Seltenheit. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass ich etwas Wichtiges vergessen habe, und während ich vor mir ins Leere starre, merke ich, dass mein Unwohlsein schlicht darauf beruht, dass ich mich wohlfühle. Nichts an dem mir zugewiesenen Platz verursacht an irgendeiner Stelle meines Körpers Schmerz. Gewöhnlich sind Sitzgelegenheiten zu weich und bringen meine Hüfte aus dem Gleichgewicht, was schmerzhaft ist. Oder der Sitz ist zu hart und übt Druck auf meinen Rücken aus. Wenn ich mich anlehne, um meine Wirbelsäule abzustützen, hängen meine Beine in der Luft und werden innerhalb von Minuten taub, fangen an zu pulsieren und zu schmerzen. Um mir Erleichterung zu verschaffen, setze ich mich dann nach vorn, mit den Füßen auf dem Boden, bis mein Rücken so wehtut, dass ich erneut die Position wechseln muss. Oberfläche, Abstand, Mangel bereiten allen Körpern Probleme; meine Körpergröße, meine gekrümmte Wirbelsäule, meine ungleichen Hüften verstärken nur die gewöhnlichsten Mühseligkeiten. Unwohlsein verzerrt meine Körpersprache, und die meisten Leute deuten das falsch. Ich bin zappelig. Ich verschränke oft die Arme vor der Brust, um meinen Körper zusätzlich zu stützen, eine Geste, die schnell als Zeichen für Ablehnung missverstanden wird. Einmal beobachtete eine Freundin, wie ich mich bei einer Dinnerparty unruhig hin und her wand. Wenn du hier so unglücklich bist, sagte sie, dann geh doch einfach.

Jay und ich hatten länger darüber diskutiert, wo und wie wir sitzen sollten, als wir uns vor drei Monaten in der Bar in Brooklyn trafen. Vor lauter Vorfreude hatte ich unseren E-Mail-Austausch nicht richtig gelesen und war eine Stunde zu früh gekommen. Am Anfang stand ich an der Bar, studierte die Karte, lernte die Karte auswendig; ich starrte sie an, bis sie mich ebenfalls auswendig kannte. Ich wünschte mir, dass Jay mich so entdecken würde, den Rücken zur Tür gewandt und nachdenklich mit dem Finger einer Zeile der Laminatseite nachfahrend. Ich stellte ihn mir vor, wie er zur Tür hereinkam, den Blick schweifen ließ, mich entdeckte. Bei dem Gedanken, dass er mich von der Tür aus beobachtete, zog sich meine Brust zusammen. Mir war diese Freundschaft wichtig, und sie befand sich in der unsicheren Anfangsphase, die (manchmal abrupt) damit endete, dass neue Freunde entschieden, echte Freunde zu werden oder höfliche Bekannte zu bleiben. Ich wünschte mir Ersteres.

Ich bemühte mich um eine lockere Haltung, was mir nicht gelang. Ich bestellte einen Cocktail, den ich langsam trinken wollte, doch schon als der Barmann ihn brachte, wurde mir mein Fehler bewusst. An dem geschmolzenen Eis würde Jay genau sehen, wie lange ich gewartet hatte. Ich trank ihn schnell aus.

Jay war in unserem Philosophie-Doktorandenprogramm ein Jahr über mir. Eigentlich kannten wir uns gar nicht. Wir hatten uns ein paar Mal auf den Gängen gegrüßt und höflich zugenickt, während wir bei Kolloquiumsempfängen in der Schlange darauf warteten, unseren Plastikbecher mit Wein zu füllen. Am Anfang hatte ich ihn kaum wahrgenommen, aber seine Anwesenheit wuchs in meinem Geist, so wie Schatten wachsen, wenn sich das Licht verändert. Mit der Zeit wurde der Kontrast zwischen ihm und seiner Umgebung so scharf, dass ich ihn selbst in einem überfüllten Raum sofort entdeckte. Diese Veränderung kam durch Kleinigkeiten zustande, durch eine Ansammlung von Gesten. Mir gefiel die Art, wie er während einer Vorlesung skeptisch den Kopf neigte. Mir gefiel, wie er schnell den Blick auf sein Handy senkte, wenn jemand im Kurs einen dümmlichen Kommentar von sich gab, damit man nicht sah, wie er das Gesicht verzog. Besonders gefiel mir der Tonfall, den er anschlug, wenn er eine Frage stellte. Er sprach mit bohrender Energie und aufrichtigem Interesse, zwei Eigenschaften, die – selbst wenn er Kritik übte – einen größeren Gesprächsraum öffneten. Jeder, den Jay befragte, wurde mit ihm in diesen Raum hineingezogen, und so konnte aus einer Debatte Zusammenarbeit werden. Eine Seltenheit in unserem Bereich, wo die meisten – Studenten wie Professoren – Diskussionen als Spielzüge im Spiel Ich bin der Schlaueste behandelten. Mir gefiel Jays Lachen, sein Kleidungsstil und wie er mit Frauen sprach, nämlich so wie mit Männern. Aus dieser Sammlung von Hinweisen entstand die Gewissheit: Wir würden Freunde sein. Ich wusste, dass er ähnlich über mich dachte. Und zwar aus folgendem Grund: Eines Tages saßen wir auf gegenüberliegenden Seiten eines großen Hörsaals. Zwei unserer Kollegen unterbrachen ständig den Professor, um sich gegenseitig rücksichtslos zu übertrumpfen, und Jay hatte dem Scharmützel eine Weile interessiert zugehört und sich dann gelangweilt – zunächst verborgen und dann irgendwann ganz offen. Er hatte dem Raum den Rücken zugekehrt und aus dem Fenster auf die Fifth Avenue gestarrt, wo ein Straßenkünstler einen Briefkasten vögelte. Noch ehe er es wusste, war mir klar, dass er sich umdrehen und über die Menge hinweg meinen Blick suchen würde, und er wusste, ehe er sich umdrehte, dass ich bereits aus demselben Fenster die gleiche Szene beobachtete.

Jay war kurz davor, seinen Abschluss zu machen und sich auf den Arbeitsmarkt zu begeben. Um gute Freunde zu werden, war es zu spät. Wir hatten uns beide nicht richtig bemüht, wie das manchmal so ist. Aber eines Abends ging ich vor unserem Institut an ihm vorbei. Er blieb stehen, um mich zu grüßen. Es hatte geregnet, meine Hände steckten tief in den Taschen meines Regenmantels.

»Oh«, sagte Jay, »woher kommt die denn?«

In meiner ausgestreckten Hand lag eine Mandarine. Ich war selbst überrascht.

»Ähm, nein danke«, sagte Jay.

Ich holte eine zweite Mandarine aus der anderen Manteltasche. Jay lehnte ab.

»Ich habe gehört, du hast eine Vollzeitstelle«, sagte er.

»Stimmt«, erwiderte ich.

»Das ging schnell. Ich dachte nicht, dass du überhaupt schon suchst.«

»Hab ich auch nicht.«

»O Gott, noch eine«, sagte Jay. Er schreckte vor meiner Hand zurück, in der eine dritte, kleine, wohlriechende Mandarine lag. Ich öffnete meinen Rucksack, in dem sich sechs weitere Mandarinen befanden.

»Ein seltsamer Zaubertrick«, sagte Jay.

»Willst du eine?«, fragte ich. »Irgendwie habe ich zu viele.«

»Wozu die vielen Mandarinen?«

»Darf ich dir eine anbieten?«

»Nein danke.«

»Weil du dachtest, ich hätte nur eine? Aber ich habe noch mehr.«

»Ist das so ein Mutterding? Jede Menge Snacks bei sich haben?«

Das »Mutterding« versetzte mir einen schmerzhaften Stich. War das alles, was er in mir sah?

Ich zuckte die Schultern, er ergriff die Flucht, warf ein kurzes Wiedersehen zurück und war verschwunden. Ich versank in Enttäuschung. Irgendwie passte ich nicht in die Philosophie-Fakultät – zu ihren Leuten, Ideen, Zielen, ihrer seltsamen Sprache; ihren Superanalytikern; ihren Grice, Quine, Frankfurt, Foot und Fine. Ich dagegen wollte Plotin studieren, was so sinnlos war, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich es überhaupt jemandem gegenüber erwähnte. Ich hatte weder Gründe für das Studium von Plotin, dem Neoplatoniker, noch eine Verwendung für mein Wissen über Plotin. Und schlimmer noch, die Lektüre von Plotin entfachte meine romantischen Ideale über die Philosophie – dass sie gut sei, weil sie einem eine Ahnung von den großen Mysterien der menschlichen Natur, des Geistes und des Universums gab, und wenn man nicht weiß, wie bescheuert das ist, sollte man zu einem analytischen Philosophen gehen und ihm erzählen, dass man sich von der Philosophie eine Ahnung über die Geheimnisse des Universums verspricht. Niemand nahm mich ernst. Die Leute wechselten das Thema, wenn ich auf sie zukam. Ein Kommilitone hatte mir erzählt, dass die meisten meiner Kohorte annahmen, ich sei nur dank einer Diversity-Quote in das Programm aufgenommen worden. In meinen Bewerbungsunterlagen hatte ich nichts über meine Identitätsmerkmale vermerkt, doch das erwähnte ich dem Kommilitonen gegenüber nicht. Ich glaubte ja selbst, dass ich durch irgendein Schlupfloch gerutscht war.

Aber Jay – ich glaube nicht, dass er je so über mich gedacht hatte. Ich glaube, er respektierte mich, mochte mich sogar. Meine Zeit in dem Doktorandenprogramm wäre vielleicht anders verlaufen, wären wir von Anfang an befreundet gewesen. Doch diese Gelegenheit hatte ich verpasst, und nun, nach dieser merkwürdigen Mandarinenbegegnung, die vermutlich unsere letzte war, hatte ich es sogar vermasselt, ganz normal aus seiner Erinnerung zu verschwinden. Er würde promovieren, eine Stelle in Missouri finden, und das wars. Ich sah seine Zukunft komplett vor mir. Doch dann, eine Stunde später, kam die Wirklichkeit dazwischen. Eine E-Mail von Jay in meinem Posteingang. Hey, Chloé! War schön, dich vorhin zu sehen. Wenn du Lust hast, lass uns demnächst einen trinken oder so.

Die Sonne versinkt in Caracalla. Eine Freundesgruppe kommt an und nimmt in der Reihe vor mir Platz. Sie machen es sich schnell bequem und breiten sich auf ihren eigenen Sitzen und denen davor aus. Sie winken vorbeigehenden Leuten zu, reden mit ihnen. Sie tragen teure weite Sachen, elegant und leicht, als wäre dies ein glamouröses Picknick, was es vermutlich auch ist. Ich bin zu fein angezogen, zu spießig und zu förmlich.

Die Gruppe wirkt glücklich. Plastikbecher und Weinflaschen tauchen auf. Einer fährt den Ellbogen aus, streckt die Zunge heraus und öffnet die Weinflasche mit gespielter Anstrengung. Er sieht, dass ich ihn beobachte, und lächelt. Sagt etwas auf Italienisch zu mir. Ich lächle entschuldigend. Er schenkt seinen Freunden der Reihe nach ein und füllt ihre Plastikbecher, bis die dunkle Flüssigkeit am Rand zittert und jeden dazu bewegt, lachend zu schimpfen und schnell einen Schluck abzutrinken. Eine unerwartete Traurigkeit überkommt mich beim Anblick der zu vollen Becher, ohne dass ich wüsste, warum. Ich runzle die Stirn; der Mann vor mir sieht es, sagt wieder etwas zu mir, worauf sich zwei andere umdrehen. Der Mann füllt einen neuen Becher mit Wein, diesmal nicht so voll, und reicht ihn mir. Ich verstehe nicht, was er sagt, aber er lächelt immer noch, hebt die Augenbrauen und nickt nach oben, vielleicht zum Himmel, als wollte er mich daran erinnern, wo wir sind, nämlich im Schutz eines perfekten Abends, also nehme ich den Becher, atme tief ein und blicke zu den ersten Sternen hoch. Der Geruch des Weins löst einen Knoten in mir. Ich trinke einen Schluck, und ein Schauer der Erleichterung durchläuft mich.

Mit der untergehenden Sonne sinkt auch die Temperatur, und ein kühler Wind kommt auf, angereichert mit dem Duft der Pinien. Hier gibt es keinen Stadtlärm, nur das Lachen der Menschen und das Knarren von Sitzen, wenn jemand Platz nimmt. Die Bühne unten ist völlig kahl, nur ein schwarzes Podest schwebt zwischen den beiden bröckelnden Säulen. Ich trinke meinen Wein und spüre, wie sich etwas Schweres in mir löst. Einen kurzen Moment lang bin ich glücklich. Als die letzten Sonnenstrahlen durch die Bögen der Ruinen fallen und Lichtbalken auf die Bühne werfen, muss ich daran denken, wie vielen Zwecken diese Ruinen gedient haben. Die Zeit ist hier nicht linear, sondern geschichtet.

Ich höre ein Geräusch, und mein Körper verkrampft sich. Ich weiß sofort Bescheid. Jemand lacht über mich. Ich betrachte die Gruppe vor mir. Sie starren mich alle an. Der Mann mit der Weinflasche steht mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht vor mir.

Er sagt, diesmal auf Englisch: »Schmeckt Ihnen der Wein?«

»Ja, danke«, sage ich. Hatte ich mich nicht schon bedankt? Ich erröte, fange an zu schwitzen. Mein Becher ist mittlerweile leer, und er schwenkt die Flasche in meine Richtung.

»Möchten Sie mehr?«, fragt er. Ich lächle und halte ihm meinen Becher hin. Seine Freunde prusten los, pressen ihre Gesichter in die Schultern ihrer Nachbarn.

»Vielleicht«, sagt der Mann, »machen Sie erst, worum ich Sie gebeten habe?«

Im selben Moment spüre ich Blicke von oben und unten auf mich gerichtet. Die Freunde des Mannes sehen mich an, aber nicht nur sie. Ich drehe mich um, hinter mir ist noch ein Paar, das uns genau beobachtet.

»Oh«, sage ich, und langsam nimmt mein Fehler Gestalt vor mir an. »Tut mir leid. Tut mir wirklich leid.«

»Schon gut«, sagt der Mann lächelnd. »Aber diesmal geben Sie den Becher an meine Freunde weiter, statt ihn zu behalten.«

Ich saß in einer Nische in der Bar in Brooklyn und wartete auf Jay. Die Sitzbank war zu niedrig, der Tisch unverhältnismäßig hoch. Das Polster war zu weich, ich versank darin, mein Kinn reichte gerade so über den Tisch. Bei seiner Ankunft verzog ich das Gesicht, weil ich mich mit den Ellbogen abstützte und mir vergeblich einen lässigen Anschein geben wollte.

Jay kam auf die Minute genau in die Bar. Ich beobachtete ihn kurz, ehe er mich entdeckte. Er fuhr sich mit der Hand durch sein lockiges Haar und strich seine Jacke glatt. Seine Pünktlichkeit enthielt die Möglichkeit, dass auch er nervös gewesen und wie ich früher gekommen und vielleicht in der Bodega an der Ecke unruhig auf und ab gegangen war, ehe er in die Bar kam. Er musterte mich in der Nische und zeigte auf einen niedrigen Tisch mit harten Holzhockern, der in einer überfüllten Ecke stand. An der Bar war mehr Platz, aber Jay schüttelte den Kopf und zeigte erneut auf den Tisch.

»Einverstanden?«, fragte er. »Der ist besser.« Er sah mich leicht verunsichert an. »Für dich.«

Wir zogen um. Der neue Tisch war das Gegenteil der Nische, zu niedrig und die Hocker zu hoch; meine Beine waren unter dem Tisch eingeklemmt. Es war schmerzhaft, und ich zog mein Shirt reflexartig über den Mund, eine auffällige, aber eingefleischte Angewohnheit, um mein verzerrtes Gesicht zu verbergen.

Mein Körper war an diesem Abend eine schwere Barriere zwischen uns, ich sah es in der fürsorglichen, unruhigen Art widergespiegelt, in der Jay das Sitzproblem verarbeitete. Er gab sich Mühe, seine Blicke zu kontrollieren und mich nicht ständig besorgt anzusehen. Er betrachtete den Raum, die Tische und wieder mich. Mir war klar, dass seine Besorgnis dem Wunsch entsprang, freundlich zu sein, ein gutgemeinter Versuch, den ich eigentlich lächelnd annehmen sollte. Ich versuchte mich an einem Lächeln, das eher misslang. Ich wollte nur, dass der Scheinwerfer von meinem Körper genommen wurde. Ich wollte ein normaler Mensch sein, der ganz normal mit einem neuen Freund etwas trank.

Jay holte ein Fläschchen mit verschreibungspflichtigen Pillen aus der Tasche, schüttelte eine heraus und spülte sie mit einem Schluck Bier hinunter. Der Raum war schummrig, aber im Schimmer der kleinen Kerze zwischen uns konnte ich sein Gesicht deutlich sehen. Jay, groß und breit, kauerte über dem winzigen Tisch. Er bewegte sich langsam, bedächtig; sein Lachen, ein Nebelhorn. Die Autorität seiner Präsenz lenkte mich von seinem durchdringenden Blick ab. Er hatte jeden in der Bar im Visier, besonders mich; er sah meinen verhaltenen Frust, meine Verlegenheit wegen des Sitzproblems, und mir war klar, dass das hervorgeholte Pillenfläschchen ein Versuch war, mein Vertrauen zu gewinnen.

»Bombe im Kopf«, sagte Jay und schüttelte das Fläschchen.

»Bombe?«

»Ja, genau«, sagte er. »Ein Tumor. Wenn er wächst, sterbe ich, wenn er die gleiche Größe behält, geht es mir gut. Diese Pillen halten ihn schon lange stabil.«

»Aber wenn er größer wird, stirbst du?«

»Ja.«

»Du gehst ziemlich locker damit um.«

»Was soll ich sonst tun, mich ständig vor dem Tod fürchten?«

»Ich mach das ständig.«

»Besteht bei dir die unmittelbare Gefahr, dass du stirbst?«

»Nicht mehr als bei den meisten.«

»Warum dann?«

»Als ich jünger war, wurde befürchtet, dass mein Körper während des Wachstums meine Organe nicht tragen kann.«

»Bist du fachlich gesehen ein Zwerg?«

»Ich schätze ja«, sagte ich.

»Per definitionem bist du einer.«

»Ich bin klein, stimmt.«

»Schlagen wir’s nach.« Er schlug auf dem Handy die Definition von Zwerg nach.

In dem Moment spürte ich, dass uns jemand beobachtete. Er stand zögernd in einem Türrahmen.

Jay winkte die Gestalt an unseren Tisch und sagte zu mir: »Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«

Zuerst erkannte ich den Mann nicht. Er stellte sich als Colin vor und erklärte, dass auch er in unserem Philosophieprogramm ein Jahr über mir war. Colin gab eine Runde aus und setzte sich an unseren winzigen Tisch. Er hatte gerade einen Abendkurs in Ethik am CUNY Graduate Center gegeben und fing an, sich über die Studenten zu beklagen. Er wurde ziemlich laut, und Jay ermahnte ihn, sich zurückzuhalten.

»Ich weiß«, sagte Colin und trank einen großen Schluck Bier. Dann starrte er in sein Glas und sagte traurig: »Warum mussten wir ausgerechnet in diese Bar gehen?«

»Gibt es ein Problem?«, fragte ich.

Ja, es gab ein Problem. In dieser Bar war es zu einem Vorfall gekommen, erklärte Jay.

»Als Erstes musst du wissen«, sagte Colin, Jay unterbrechend, »dass ich ständig wütend bin.«

Jay erzählte weiter. Vor Monaten war Colin eines Abends in die Bar gekommen, hatte eine Rechnung aufgemacht und ein paar Drinks bestellt. Jay gab ihm noch ein paar aus, und dann war Colin betrunken. Er ging an die Bar, vergaß die erste Rechnung mitzunehmen und machte eine zweite auf. Am Ende des Abends bemerkte er seinen Fehler, wollte beide Rechnungen begleichen und beide Kreditkarten zurückhaben, aber es war eine dunkle, laute Bar und, na ja, die Barfrau verstand nicht richtig, was Colin wollte, weil er sehr betrunken war und nicht deutlich sprach, aber er versuchte sich weiter verständlich zu machen und die Barfrau verstand ihn weiterhin nicht, und an diesem Punkt wurde Colin sehr wütend und schrie: Du bist eine blöde Schlampe.

»Moment«, sagte ich, weil ich das Gefühl hatte, dass mir etwas Entscheidendes in der Geschichte entgangen war. »Warum hast du –«

»Es war die asiatische Barfrau«, sagte Colin. »Sehr jung. Heute Abend ist sie nicht da.« Er nahm sein Glas und trank den Rest seines ersten Biers aus.

Ich schaute erst Colin und dann Jay an. Die Geschichte war nicht der ideale Einstand für Colin.

»Sie hat nicht nach der Barfrau gefragt«, sagte Jay. »Sie versucht zu verstehen, was passiert ist.«

»Oh, keine Ahnung«, sagte Colin. »Hinterher tat es mir schrecklich leid.« Er hatte diese sehr junge, vielleicht asiatische Barfrau angeschrien: Du bist eine blöde Schlampe, immer wieder, bis schließlich ein Rausschmeißer kam.

»Colin hatte gerade ein neues Medikament genommen«, sagte Jay. »Und das hat ihn wütend und paranoid gemacht.«

»Und wie bereits erwähnt«, sagte Colin, »ich bin ohnehin immer wütend.«

Wir schwiegen eine Weile, dann rief Colin: »Na und? Ich bin depressiv. So wie Jay. So wie alle.«

Jay zuckte die Schultern und nickte, und dann sprachen sie über Colins frühere Antidepressiva und waren sich einig, dass die jetzigen viel besser seien. Jay hatte viele der gleichen Medikamente und Therapien ausprobiert. Die beiden Männer unterhielten sich über ihre jeweiligen Erfahrungen mit diversen Tabletten. Sie bestellten noch eine Runde und rasselten die Namen von Medikamenten herunter, die ich nur aus der Fernsehwerbung kannte.

Je länger Colin und Jay redeten, umso deutlicher wurde, dass sie viel übereinander wussten. Das überraschte mich. Auf mich wirkten sie nicht wie zwei Männer, die eng befreundet sein konnten. In Umgangston und Temperament waren sie völlig verschieden. Colin hatte sich nicht im Griff. Er trank, als ob er unter Zeitdruck stünde. Er war in seinen Stimmungen gefangen, wurde vom Strom der Worte, die aus seinem offenen Mund drangen, hin und her geworfen. Als er sich über einen Studenten beklagte, war er rot vor Wut. Als er über seinen kranken Hund sprach, war er verzweifelt. Die rationale Seite kämpfte ständig mit dem Teil von ihm, der gerade sprach. Er sagte etwas und warf dann die Hände hoch, als wollte er sagen: O Mann, der Typ ist der Schlimmste, und meinte sich selbst.

Jay war berechnender, selbstbeherrschter. Er war sich der Wirkung bewusst, die er auf seine Umgebung hatte. Er und Colin kleideten sich beide wie unattraktive, schlampige Doktoranden, allerdings mit leichten Abweichungen. Colin gab sich den Anschein des »schludrigen Doktoranden«, während Jay einen bestimmten Typus von schludrigem Doktoranden darstellen wollte. Der Unterschied bestand darin, dass Colin schwarze Converse trug, Jays hingegen waren aggressiv grünblau. Ich mochte Jay, aber mir war klar, dass er die Wahrheit eher für sich behielt, wenn sie ihn in ein ungünstiges Licht stellte; Colin mochte ich nicht, aber durch sein offenes Wesen war er auf seine Weise ehrlicher.

Ungeachtet ihrer Unterschiede einte sie ihr Verständnis für die Depression des anderen, die ihnen, so erklärten sie mir, wohlüberlegte, ständige Wachsamkeit abverlangte.

»Stell dir einen Becher vor«, sagte Colin zu mir, »der bis zum Rand gefüllt ist.«

Jay nickte, um zu zeigen, dass sie diese Analogie schon öfter als Erklärung für andere benutzt hatten.

»Stell dir oben auf dem Becher Wasser vor«, fuhr Colin fort. »Um das Wasser im Glas zu halten, ist eine leichte Oberflächenspannung nötig. So fühle ich mich manchmal. Voller Traurigkeit und Wut, gefährlich bis zum Rand gefüllt.«

»An manchen Tagen«, übernahm Jay das Wort, »wache ich auf, und das Glas ist voll, und wenn ich aufstehe, zur Uni gehe oder mich mit jemandem unterhalte, muss ich den Becher bei mir haben. Ich spüre es immer. Auch jetzt zwischen uns.«

»Jeder zusätzliche Tropfen bricht die Oberflächenspannung, und das Wasser läuft über«, sagte Colin. »Ergibt das einen Sinn? Genau das ist bei der Barfrau passiert. Es ist nicht zwangsläufig so. Nur manchmal. Verstehst du das? Kannst du das verstehen?«

Ich verstand es und auch wieder nicht. Wir waren unterschiedlich, hatten nicht die gleichen Erfahrungen, aber auch ich lebte in ständiger Verhandlung mit einem zu vollen Becher.

Manchmal wache ich mit solchen Schmerzen auf, dass ich nicht weiß, ob ich aus dem Bett komme. Jede Bewegung, jedes Gewicht, jeder Schritt oder jede Treppe, jede Straße, die ich entlanggehe, summiert den Schmerz, sodass er sich zusehends einer Grenze nähert. Ich versuche ständig, Aufgaben aneinanderzureihen, die ich aufrecht und in Bewegung verrichten muss. Ein Teil meines Gehirns ist dauernd damit beschäftigt, endlose Schmerzberechnungen anzustellen.

Ich hörte Colins und Jays Unterhaltung aufgeregt zu: Es bestand die Chance, dass mich jemand verstand, ich sah die Möglichkeit einer neuen Art von Nähe.

»Ich bin wütend«, sagte Colin. »Und falsche Medikamente machen mich noch wütender.«

»Aber ohne Medikamente –«, sagte Jay.

»Sind wir tot«, sagte einer, während der andere sagte: »Oh, wir sind tot.«

Sie erklärten sich mit der Ehrlichkeit offengelegten Wissens. Ihr Leben bot genügend Schnittstellen, um die Realität des anderen zu bestätigen. Sie erkannten sich im anderen, und das verband sie.

Plotin schrieb, dass die Seele durch ein besonderes Vermögen dazu befähigt ist, Schönheit zu erkennen, und dass das aufregende Prickeln angesichts von Schönheit daher rührt, dass sich die Seele in einem Objekt wiedererkennt. Das ist Verwandtschaft. So ist es das Verwandte oder auch nur die Spur des Verwandten, dessen Anblick die Seele erfreut und erschüttert; sie bezieht das auf sich selbst und erinnert sich ihres eigensten Wesens, dessen was sie in sich trägt. Ich sehe das Verwandte zwischen den beiden knistern, während sie sich unterhalten. Ich bin außen vor, aber vielleicht nur ein wenig. Ich sprach nie mit anderen über meine Behinderung, weil wir dann sofort auf ungleichem Boden standen. Mein Schweigen hielt mich auf Abstand. Ich teilte mich niemandem mit. Wenn ich neue Leute kennenlernte, wartete ich darauf, dass sie über meinen Körper hinwegsahen und vergaßen zu starren, was im Laufe der Zeit auch passierte. Die Wirkung meines Äußeren ließ nach, je öfter man Kontakt mit mir hatte. Jeder Mensch, den ich traf, brauchte seine eigene Zeit, um zu vergessen. Und ich konnte geduldig sein.

Während ich zuhörte, wie die beiden über ihre Depression sprachen, fragte ich mich, ob ich diese Verwandtschaft mit ihnen teilen könnte. Sie sagten Dinge, die ich verstand. Sie waren, wie ich, stets wachsam; ihr Schmerz war leicht auf andere übertragbar – auf Fremde, Barfrauen, Studenten oder, am einfachsten, auf die Menschen, die sie liebten. Ich stellte mir vor, dass die beiden eine neue Art von Freund für mich sein und wir vielleicht mehr Mitgefühl füreinander haben könnten. Meine verzweifelte Sehnsucht nach diesem Bündnis erleichterte es mir, einige von Colins hässlicheren Bemerkungen zu überhören. Ich spürte, wie ihr Kreis sich erweiterte, sich mir näherte, und ich sah meinen Platz darin – ich freute mich. Doch dann redeten Jay und Colin immer weiter.

Plotin, der im dritten Jahrhundert n. Chr. lebte, verachtete alles Körperliche. Selbst seine engsten Freunde und Schüler behaupteten, nichts über seine Familie, sein Alter oder seine Herkunft zu wissen. Fakten dieser Art gehörten der körperlichen, wahrnehmbaren Welt an, die Plotin als schädliche Ablenkungen abtat.

Ein Großteil von Plotins Gedankenwelt geht auf Platons Formenlehre und auf dessen Reich vollkommener Ideen zurück. Nach Plotin enthält das Reich der Ideen nicht nur die archetypischen Formen von Liebe, Schönheit, Gerechtigkeit, Bett, Stuhl oder Sofa, sondern auch die archetypische Version des einzelnen Individuums. Der geistige Aufstieg in das Reich der Ideen ermöglicht einen Einblick in das vollkommene Selbst. Dieses vollkommene Selbst ist ein von allem Körperlichen getrennter Geist.

Wie alle Philosophen, die seiner Tradition folgen, lobpreist Plotin das Ideal einer endlosen und unmöglichen Suche. Die Suche nach dem Guten, dem Wahren, dem Schönen kann nur gelingen, wenn wir uns vom Schmutz befreien, den wir im Laufe der Zeit in unserem Körper angesammelt haben. Höchste und ewige Schönheit erwartet jene, die bereit sind, den Geist von allem Körperlichen zu trennen.

Dein Körper ist das Problem, werde ihn los.

Trenne dich von ihm.

Sei einzig und allein Geist.

Reinige dich, lege deine Kleider ab und trete nackt in die Mysterien des Heiligen. Bleibe in der Einsamkeit, in der abgeschiedenen Existenz, im Zustand der Getrenntheit, im Unvermischten, im Reinen.

Die Jungs tranken noch mehr Bier. Die Unterhaltung kehrte zu Colins Ärger über seine Studenten zurück, der im Grunde nur Ärger über die damit verbundene Arbeit und den dünnen akademischen Stellenmarkt war. Um mein Mitgefühl zu zeigen, erzählte ich die Geschichte von Steven.

Ich hatte biochemische Ethik gelehrt, ein Fachgebiet, das ethische Grundsätze auf Dilemmata im Zusammenhang mit dem Körper anwendet. Um bestimmte ethische Grundsätze zu illustrieren, benutzte ich oft reale Fallstudien. An diesem Tag behandelte ich einen Fall, den ich persönlich hasste, aber nie ausließ.

Das Szenario war Folgendes: Ein verheiratetes Paar, das keine Kinder bekommen kann, benutzt künstliche Befruchtung, um schwanger zu werden. Sie befruchten erfolgreich vier Embryonen. Das Paar ist taub, und zwei der vier Embryonen sind ebenfalls taub, die beiden anderen haben keine Beeinträchtigung. Das Paar möchte seine Kultur, seine Sprache, sein Leben mit einem tauben Kind teilen. Gibt es irgendwelche ethischen Grundsätze, die die beiden daran hindern könnten, nur die tauben Embryonen in den Uterus einzupflanzen?

Ich lehrte diesen Fall jedes Semester als Form der Selbstbestrafung, ohne groß zu hinterfragen, warum ich es verdiente, bestraft zu werden. Die Reaktionen auf den Gesichtern einiger meiner Studenten reichten von Unbehagen bis Abscheu, wenn ich den Fall vorlas. Ich fürchtete den Moment, in dem ich allein vor einem Raum stand, Reaktionen ablas und sah, welche Vorurteile sich spiegeln könnten. Aber ich sehnte den Moment auch herbei, freute mich darauf und liebte ihn. Er glich einem sich lichtenden Nebel. Ich sah gern zu, wie sich ihre wohlwollenden Masken auflösten. Zu oft behandelten mich meine Studenten, als müssten sie sich um mich kümmern. »Lassen Sie sich Zeit«, raunte mir eine Studentin gern zu, wenn ich am Vormittag im Raum nach vorne hinkte. »Seien Sie vorsichtig«, sagte sie oft, »es eilt nicht.«

Ich bat meine Studenten um die Einschätzung des Falls, aber niemand wollte anfangen. Mein lauernder Blick gefiel ihnen nicht. Sie waren es gewohnt, ihren Blick auf mich zu richten, nicht aber umgekehrt. Ich ließ ihr Unbehagen auf mich wirken. Ihr Widerwille beglückte mich. Dass es in dem Fall um Taubheit ging und ich nicht taub war, spielte für sie keine Rolle – für die meisten meiner Studenten gehörten die Gehörlosen und ich zu einem festgelegten Kreis geschädigter Menschen. Mit klarer, ruhiger Stimme las ich den Fall vor, dann wartete ich und beobachtete; es war eine Herausforderung, eine Gelegenheit für andere, sich zu offenbaren.

Das Gebiet der Bioethik gründet sich auf vier Prinzipien: Respekt vor der Autonomie des Einzelnen; eine angemessene und gerechte Verteilung von Ressourcen; Wohltätigkeit, zu verstehen als die Verpflichtung, Leiden zu lindern; und Schadensvermeidung, also das Versprechen, keinen Schaden zuzufügen. An einem guten Tag konnte ein Mediziner alle vier Prinzipien bei jeder seiner Entscheidungen einlösen. Oft aber gerieten zwei oder mehr Prinzipien miteinander in Konflikt, und an diesem Punkt ergaben sich die interessantesten, kompliziertesten biomedizinischen Ethikfälle.

Einige Studenten begriffen sofort, dass es bei dem Gehörlosenfall um Selbstbestimmung ging. Diese Studenten lieferten mühelos stimmige Argumente hinsichtlich der Frage, ob Eltern das Recht zugestanden werden sollte, Embryonen auf genetische Merkmale zu testen und auszuwählen oder nicht. Sie sahen keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Testen auf Taubheit und dem Testen auf andere genetische Merkmale. Der große Rest des Kurses hingegen ließ sich bei seinen Argumenten von einer tiefsitzenden, bauchgesteuerten, negativen Reaktion hinsichtlich der Wahl leiten, ein gehörloses Kind in die Welt zu setzen. Eine Studentin sagte, Selbstbestimmung sei gut, aber das gehe zu weit.

»Zu weit inwiefern?«, fragte ich.

»In Bezug auf das, was normal ist«, sagte die Studentin.

Eine andere Studentin hob die Hand und sagte: »Es ist grausam von den Eltern, ein Kind zu zwingen, taub zu sein. Verstößt die Grausamkeit gegenüber einem Kind nicht gegen das Prinzip der Schadensvermeidung?«

»Also wartete ich«, sagte ich zu Colin und Jay. »Ich ließ den Kommentar in der Luft hängen, bis schließlich ein Student das Argument widerlegte.«

»Und wie?«, fragte Colin. Sein Tonfall hätte mein erster Anhaltspunkt sein sollen, doch er entging mir.

»Indem er die Kursteilnehmer daran erinnerte, dass genetische Präimplantationstests bestehende Realitäten des Embryos aufdecken. Die Selektion verändert den Embryo nicht und ›zwingt ihn nicht, taub zu sein‹, genauso wenig wie man ein XX-Chromosom zwingen kann, sich in ein XY-Chromosom zu verwandeln.«

»Hat das die erste Studentin überzeugt?«, fragte Jay.

»Nein, für sie stand fest, dass Taubheit grausam ist.« Ich verdrehte die Augen und fuhr fort. »Sie antwortete sogar tatsächlich, dass es einfach unethisch sei, wissentlich ein taubes Kind zu bekommen. Sie meinte: Sein Leben wird schlechter sein als das eines normalen Kindes! Normal. Normal.«

»Interessant«, sagte Jay. Colin sagte nichts.

Im Kurs war die Auseinandersetzung zwischen den Studenten weitergegangen:

Eine meinte: »Könnte man den Eltern sagen: Gut, Sie müssen sich für den männlich-geschlechtlichen Embryo entscheiden, denn es ist unethisch, einen weiblich-geschlechtlichen Embryo zu wählen, weil das Leben eines Mädchens in einer patriarchalischen Gesellschaft vermutlich schwieriger verläuft?«

»Nein, weil das nicht notwendigerweise stimmt«, erwiderte ein weiterer Kursteilnehmer.

Eine andere sagte: »Aber trifft es notgedrungen zu, dass ein tauber Mensch immer ein schlechteres Leben haben wird als ein hörfähiger Mensch?«

»Also, ich möchte nicht taub sein«, sagte die Erste und wollte die Diskussion beenden.

»Schön und gut«, drängte ihre Kontrahentin weiter, »aber wenn du den Eltern das Recht zugestehst, die Tests zu machen, und sie dann zwingst, einen hörfähigen Embryo zu wählen und die tauben zu entsorgen, dann implizierst du, dass hörende Menschen grundsätzlich lebenswerter sind als Menschen, die nicht hören können. Siehst du darin ein Problem?«

An diesem Punkt hob ein anderer Student die Hand. Steven. Er war mein Lieblingsstudent, witzig und bedachtsam in seinen schriftlichen Arbeiten, ruhig im Unterricht. Während der Stunde zeichnete er in ein Skizzenbuch. Ich rief ihn auf.

»Es ist unethisch«, sagte Steven, »weil es gefährlich ist, taub oder behindert zu sein. Die Eltern setzen ihr Kind also bereitwillig Gefahren aus.«

»Was glauben Sie, ist gefährlich daran, taub zu sein?«, fragte ich.

»Na überlegen Sie doch mal«, sagte er. »Taube Menschen können die Straße allein nicht sicher überqueren, weil sie den Verkehr nicht hören.«

Im Raum war es still. Die beiden Studentinnen, die zuvor miteinander diskutiert hatten, schienen froh zu sein, nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Die Kursteilnehmer warteten darauf, dass ich das Wort ergriff. An diesem Punkt unterbrach ich meine Geschichte und sah Jay und Colin an, um ihre Reaktion zu beobachten. Sie hörten mir verdutzt zu.

»Wie kommen Sie zur Uni?«, hatte ich Steven gefragt.

»Mit der Bahn«, sagte er.

»Und dann gehen Sie den Rest zu Fuß?«

»Klar.«

»Dann überqueren Sie viele Straßen, von denen einige ziemlich befahren sind.«

»Ja.«

»Flatbush zum Beispiel?«

»Ja.«

»Und Bedford.«

»Ja.«

»Geschäftige Straßen, jede Menge Menschen, Autos, Busse.«

»Mhm.«

»Und tragen Sie manchmal Kopfhörer?«

Steven schaute mich kurz an, dann grinste er breit.

»Jeden Tag. Jeden einzelnen Tag«, sagte er, stand auf, kam nach vorne und bot mir ein High five an, auf das ich schaudernd einging.

»Sie haben recht. Ich höre absolut nichts, wenn ich meine Kopfhörer aufhabe, und das ist absolut in Ordnung«, sagte er und lachte über sich selbst. Auch die Kursteilnehmer lachten. »Ich denke überhaupt nicht darüber nach.«

»Klar«, sagte ich.

»Mann, okay, ich lag falsch. Wieso habe ich das gedacht?«

»Weil Sie nicht nachgedacht haben«, sagte ich und beließ es dabei, aber insgeheim dachte ich: Weil ein Gehörloser für dich kein vollkommener Mensch ist.

Nach meiner Geschichte betrachtete ich Colin und Jay. Ich lächelte, wähnte mich noch immer unter Freunden.

»Also«, sagte Colin schließlich. »Das ist doch völliger Quatsch.«

Jay blickte von seinem Bier auf.

»Die Eltern sollten eingesperrt werden, wenn sie vorsätzlich ein gehörloses Kind zur Welt zu bringen«, sagte Colin. »Alle schwangeren Frauen sollten gesetzlich verpflichtet werden, sich auf mögliche Behinderungen zu testen, und wenn man etwas findet, sollten sie gezwungen werden abzutreiben. Und wenn sie sich weigern, sollten sie hinter Gitter wandern oder zu einer Geldstrafe verdonnert werden.«

»Ich glaube nicht, dass du das wirklich meinst«, sagte Jay. Er fuhr fort, die Logik von Colins Vorschlag zu erörtern, und drängte ihn, seine Definition von ›behindert‹ in diesem Zusammenhang zu erläutern.

»Du trittst damit für die Rückkehr zur Eugenetik ein«, sagte Jay. »Willst du das wirklich?«

»Ja!« Colin klatschte in die Hände. »Das war eine großartige Idee, eine mit echtem ethischem Wert, nur will das keiner gern zugeben.«

Die Debatte ging ohne mich weiter. Ich zog mich zurück, bis ich meinen vertrauten Ort erreichte, den neutralen Raum in meinem Kopf.

Dr. Asher, mein orthopädischer Chirurg, hatte mir die Sache mit dem neutralen Raum beigebracht. Er beobachtete meine Wirbelsäulenanomalien viele Jahre lang, und ich kannte ihn gut. Ich war jung, als wir unser erstes Gespräch darüber führten. Ich weiß noch, dass er mir Fragen über das Ausmaß meiner täglichen Unannehmlichkeiten stellte. Damals benutzte ich Krücken zum Gehen, und an den Beinen hatte ich Klammern. Meine Mutter hatte das Behandlungszimmer verlassen und wartete draußen auf mich, daher konnte ich, weil wir allein waren, ehrlich mit Dr. Asher sein. Meine Unannehmlichkeiten waren nicht nur körperlicher Natur. Ich machte mir Sorgen, dass ich meiner Mutter bei unseren täglichen Aufgaben im Weg war. Ich fürchtete das Einkaufen mit ihr, weil wir so viel gehen mussten. Ich geriet in Panik, wenn wir keinen Parkplatz in der Nähe fanden, und während meine Mutter immer weiter suchte, wurde ich noch panischer, weil ich wusste, gleich muss ich einen riesigen Parkplatz überqueren, dann durch lange Gänge in einem kalten Supermarkt gehen und schließlich in langen Schlangen warten. Meine Mutter beklagte sich nie. Ich glaube, sie war immer glücklich, mich bei sich zu haben. Aber ich sah, wie hart sie arbeitete, wie wenig Hilfe sie bekam, und ich liebte sie sehr. Ich wollte keine Last sein. Das ist die deutlichste Erinnerung an meine Kindheit, die Angst, mit meiner Mutter im Auto zu sitzen, während wir auf diesen riesigen Parkplätzen im Mittleren Westen umherkurvten.

Dr. Asher hörte mir zu. Er erklärte mir, dass die Vorstellung von Schmerzen bei künftigen Ereignissen dazu führen konnte, körperliche Schmerzen in der Gegenwart zu empfinden. Mein Verstand und mein Gedächtnis, lehrte er mich, waren mächtig und konnten genutzt werden, den Schmerz zu unterdrücken, statt ihn zu verstärken. Er sagte: Denk nicht an die Gänge und Schlangen im Supermarkt. Konzentriere dich stattdessen auf ein Auto, das ein paar Meter weiter auf dem Parkplatz steht. Du gehst nur zu diesem Auto. Atme tief durch und steuere in Gedanken einen bestimmten Ort an. Es gibt keinen Parkplatz, nur dieses Auto, ungefähr acht Schritte entfernt. Wenn du an diesem Auto vorbeigehst, such dir den nächsten Orientierungspunkt, acht Schritte entfernt. Du musst nur acht Schritte gehen. Zähle die Schritte.

Der neutrale Raum erleichterte den Umgang mit dem Schmerz. Er dauerte immer nur acht Sekunden. Auch andere Dinge wurden einfacher. Alle Probleme ließen sich in einzelne, machbare Schritte zergliedern. Die Schule fühlte sich nicht mehr erdrückend an, meine Leistungen waren hervorragend. Ich atmete tief durch, suchte in Gedanken den ruhigen, geschlossenen Raum auf und konzentrierte mich nur auf den nächsten zu lesenden Absatz oder die nächste Frage bei einem Test. In meinem neutralen Raum gab es tröstliche Gewissheiten: Ich konnte mich dort verstecken, empfindungslos und geduldig. Wo findet man Zuflucht vor einer Realität, die die Seele überfordert? Ich suchte meinen neutralen Raum auf, wo die Zeit in Achterschritten verging und der Abstand zwischen momentanem Schmerz und künftiger Erleichterung objektiv und messbar war.

Manchmal jedoch, wenn die Schmerzen besonders stark waren, zog ich mich so weit in den neutralen Raum zurück, dass ich mich von der Realität distanzierte. Ich schaute aus dem Fenster und plötzlich war es dunkel, und ich merkte, dass mir jegliches Zeitgefühl abhandengekommen war. Ich konnte in Vorlesungen sitzen oder Gesprächen bei Partys zuhören, ohne ein einziges Wort zu speichern. Ich verlor ständig Sachen. Andrew hatte mich einmal »Michael Jordan im Verlieren von iPhones« genannt. Ich wusste nie, wo irgendetwas war. Als wir frisch zusammen waren, hatte Andrew gesagt: Die greifbare Welt ist für dich weniger real als für andere Menschen. Der neutrale Raum war auch Anlass für unsere ersten Streits. Als er mich noch nicht so gut kannte, kam es manchmal vor, dass er vor mir stand, mit mir redete oder mir Fragen stellte, ohne dass ich ihn überhaupt wahrnahm.

Colin und Jay redeten endlos weiter, und anfangs wollte ich ihnen nicht zuhören. Aber mit der Zeit spürte ich etwas Neues: eine Infektion, etwas Fiebriges. Es war Wut, die sich in meinen geschlossenen Raum drängte, ihn verzerrte und durcheinanderbrachte.

Mein Student Steven hatte gelacht und, als könnte er es nicht fassen, leichtfertig gesagt: Wie konnte ich das denken? Auch ich hatte gelacht. Ich hatte ihn vom Haken gelassen. Wie viele Leute glaubten, dass mein Leben grundsätzlich weniger wert war als ihres? Wie viele Leute traf ich, die wie Colin über mich dachten, aber nur zu nüchtern waren, um es auszusprechen?

Und welchen Anteil hatte ich daran?

Ich hörte Colins Stimme und spürte, wie ich aus der Sicherheit meines zurückgezogenen geistigen Raums gezogen wurde. Seine Worte landeten bei mir, ich fing an zuzuhören. Meine Wahrnehmung verdoppelte sich, ich war hellwach, schob meine Ärmel zurück, fuhr mir mit einem Fingernagel lächelnd über die entblößte Haut.

»Du weißt, dass ich behindert bin?«

»Ja«, sagte Colin.

»Findest du, ich hätte nicht geboren werden sollen?«, fragte ich.

»Du bist geboren worden«, sagte Colin.

»Aber in einer idealen Welt hätte man meinen Makel entdeckt und mich abgetrieben?«

»Ja«, sagte er. »Dein Körper macht dein Leben schwerer, härter. Das ist eine ganz offensichtliche Tatsache.«

»Du glaubst, mein Leben ist in jeder Hinsicht schlechter?«

»Willst du das bestreiten? Ich glaube, das ist hier nicht die Kontroverse.«

»Doch, ich glaube schon«, sagte Jay.

»Überrascht es dich, wenn ich sage, dass meine Abweichungen im Grunde viel Positives in mein Leben gebracht haben?«, fragte ich.

»Es überrascht mich nicht, dass du das sagst«, erwiderte Colin. »Das Gleiche meinen taube Menschen, wenn sie von tauber Kultur reden. Aber es ist keine Kultur, sondern Bewältigung.«

»Das ist keine vertretbare Position«, sagte Jay.

»Hör zu«, sagte Colin und sah mich bedauernd an. »Tut mir leid, wenn ich dich gekränkt habe.«

»Sie sagt nicht, dass du sie gekränkt hast«, erwiderte Jay. »Sie sagt, dass du falschliegst.«

»Ich möchte deine Gefühle nicht verletzen«, sagte Colin.

»Sie sagt auch nicht, dass du ihre Gefühle verletzt hast!«, rief Jay. »Sie sagt, dass deine Behauptungen sachlich inkorrekt sind. Verstehst du den Unterschied, Colin? Der Unterschied ist wichtig.«

»Aber wenn du ehrlich bist«, fuhr Colin fort, »wenn du behauptest, Behinderung könnte auch einen positiven Aspekt haben, dann – und ich verstehe, wieso du das tun musst – dann erfindest du nur ein Narrativ, in dem dein Leben nicht schlimmer ist als das anderer Leute. Und hör zu, wir alle müssen uns eine Geschichte erzählen, in der wir, nun ja, für unsere Mühen und Leiden sehr dankbar sind. Es ist schön zu glauben, dass Widerstandskraft Stärke ist oder was auch immer, aber das ist alles erfunden, nichts als Rechtfertigung. Du rechtfertigst das beschissene Blatt, das man dir gegeben hat.«

Er wandte sich an Jay und fragte ihn: »Wenn du nur mit den Fingern schnippen müsstest, um nie wieder depressiv zu sein, würdest du es nicht tun?« Jay gab zu, dass er es tun würde. »Weißt du«, sagte Colin zu mir, »die Depression hat mein Leben in jeder Hinsicht verschlechtert. Und das ist die Wahrheit. Daran gibt es nichts zu rütteln. Ich möchte sterben.« Colin zeigte auf Jay. »Er will auch manchmal sterben. Wir sind jetzt auf dem Arbeitsmarkt, aber was ist, wenn wir nach unserer Assistenzzeit keine Festanstellung kriegen? Nachdem wir all die Jahre auf die Promotion hingearbeitet haben? Wenn alles umsonst war? Wahrscheinlich müsste ich mich einfach umbringen.«

Ich sah Jay an, der nur nickte.

»Aber«, fügte Colin hinzu, »wenigstens bin ich nicht behindert.«

Jetzt war es also raus. Er sah einen Körper wie meinen und dachte: Es könnte schlimmer sein.

Später stand ich mit Jay auf der Straße. In der folgenden Woche erfuhr ich, dass Colin mit anderen Leuten in unserem Fachbereich über den Abend sprach und sich bei ihnen entschuldigte, als wären sie meine Stellvertreter. Einige trugen mir zu, dass ihm seine Äußerungen peinlich waren und er sich in einen betrunkenen Starrsinn hineingesteigert hatte, der verdeckte, was er mir eigentlich hatte sagen wollen.

»Darf ich dich nach Hause begleiten?«, fragte Jay.

Auf der Franklin Avenue wimmelte es von Leuten, da die Bars schlossen und ihre Gäste rauswarfen. Ich spürte einen Regentropfen und blickte auf, blinzelte und sah, dass es kein Regen war, sondern eine tropfende Klimaanlage. Ich hörte ein metallisches Klimpern, das anfangs wie das Windspiel klang, das an einem Pfosten auf der Veranda meiner Mutter hing. Das Geräusch kam von einem sich nähernden Mann, dessen ausgestreckter Arm durch die Luft glitt und etwas nachzeichnete, das ich erst erkannte, als er unter der Straßenlaterne ging. Um seine Hand glitzerten silberne Funken, er schüttelte ein Tamburin, während er singend auf uns zukam. Auf seinem T-Shirt stand in Blockbuchstaben: ICH BRINGE NIE ETWAS ZU EN

»Wie fühlst du dich?«, fragte Jay.

»Mitschuldig.«

»Wieso?«

In diesem Moment fehlten mir die Worte, und ich wusste nicht, ob es vor Erschöpfung war, mich ständig zu rechtfertigen, oder ob ich mich nicht rechtfertigen konnte.

Wir erreichten meine Wohnung, standen vor der Haustür. »Weißt du, was ich während der ganzen Diskussion dachte?«, sagte er. »Ich dachte ständig, hier bin ich, depressiv, ängstlich, einen Tumor im Kopf und anderer Scheiß, aber niemand sieht mich als behindert. Aber du, du wirst immer nur als … Was glaubst du, trennt uns wirklich?«

Jay hatte sich den ganzen Abend an dem niedrigen Tisch unwohl gefühlt. Er hatte gar nicht erst versucht, seine langen Beine darunter zu verstauen, sondern sie ungeschickt um die Kanten gegrätscht. Auch ich, gute sechzig Zentimeter kleiner als er, hatte mich an dem Tisch unwohl gefühlt. Den ganzen Abend hatten wir uns versucht anzupassen; ich in meinem nicht passenden Körper, er in seinem nicht passenden Körper. Tische und Stühle waren für keinen von uns beiden gemacht, das wussten wir und taten unser Bestes, weil wir zusammensitzen, trinken, reden und uns verlegen und ungeschickt einander zuneigen wollten.

»Hast du vor, über Behinderung zu schreiben?«, fragte Jay.

»Nein«, sagte ich. Ich drehte mich zu meiner Wohnungstür. Ich wollte, dass der Abend vorbei war, nicht weil ich von Jay wegkommen wollte, sondern weil ich mir den Rest der Unterhaltung ersparen wollte, ich wollte nicht hören, was ich sagen würde.

»Hast du schon mal über Behinderung geschrieben?«

»Nein«, sagte ich.

»Warum nicht?«

»Ich bin müde.«

»Wolltest du schon mal über –«

»Nein«, sagte ich.

»Weil?«

»Ich will einfach …« Ich wusste nicht, wie ich den Satz beenden sollte.

Das erste Mal hatte ich Jay bei einer Begrüßungsparty für meine Kohorte in der ersten Woche unseres Doktorandenprogramms gesehen. Ich kannte niemanden. Ich war nervös und verspürte noch stärker als gewöhnlich den Drang, meinen Körper zu verstecken. Sechs Monate zuvor hatte ich Wolfgang zur Welt gebracht. Meine Brüste waren schwer, ich hatte mir Klopapier in den BH gesteckt, um auslaufende Milch aufzusaugen. Eigentlich musste ich nach Hause gehen, aber ich wollte auch in diesem Raum mit diesen anderen Philosophen sein, damit mir vielleicht einer signalisieren würde, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte und hierhergehörte, in diesen neuen Fachbereich, in das neue Leben in dieser riesigen Stadt, für die wir Kansas verlassen hatten. Eine Gruppe von Studenten stand in meiner Nähe. Einige waren neu wie ich, andere nicht. Sie besprachen gerade die Gründung einer Lesegruppe in Erkenntnistheorie, redeten über mögliche Lektüre, darüber, wann und wie oft man sich treffen wolle. Ich nahm meinen Mut zusammen, ging einen Schritt auf die Gruppe zu, öffnete den Mund und hielt dann inne. Ich war abwechselnd ängstlich und dann wütend auf mich selbst, weil ich ängstlich war. Ich dachte an Wolfgang, daran, dass er sich anfühlte wie ein klebriger Sack Mehl, wenn ich ihn hielt. Meine Milch kam. Bald würde man es durch meine Bluse sehen. Ich musste nach Hause, zurück in unsere Wohnung, aber ich konnte nicht, weil ich quer durchs Land umgezogen war, um mich Lesegruppen in Erkenntnistheorie anzuschließen, um mich in Bars zu verabreden und mich mit Philosophen zu unterhalten; idiotischerweise war dies die Sache, für die ich so viel geopfert hatte und die ich gleichzeitig am meisten fürchtete.

Schließlich sagte ich zu dem Mädchen, das am nächsten stand: »Ihr gründet eine Lesegruppe?«

»Ja«, sagte sie. »Bist du interessiert?«

»Ja«, erwiderte ich und errötete vor Erleichterung.

»Es wird ziemlich anstrengend, zumindest für Leute, die ihre Dissertation auf dem Gebiet schreiben wollen. Es geht nicht um solchen Kram wie soziale Identität.«

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

»Liegt dein Schwerpunkt auf, na ja, Körper- und Identitätstheorie?«

»Nein«, sagte ich.

»Oh«, sagte sie rasch. »Ich dachte, du hättest mir gesagt, dass du das studierst.«

Ich hatte noch nie zuvor mit ihr gesprochen.

»Nein«, sagte ich.

»Doch, ich könnte schwören, das hast du gesagt.«

Jay hatte in dieser Gruppe gestanden, mich aber nicht bemerkt, sondern direkt durch mich hindurchgesehen.

Ich beobachtete Jay von meinem Schlafzimmerfenster aus. Er zündete sich eine Zigarette an, stand rauchend da und starrte auf die Straße. Dann stieg er in ein Taxi und war verschwunden.

Andrew lag zusammengerollt am äußersten Rand unseres Bettes und schlief. Wolfgang lag horizontal ausgestreckt auf dem Rest des Bettes, die Decke auf den Boden gestrampelt. Er ließ keine Decke auf sich liegen. Selbst in den kältesten Nächten warf er sie von sich. Ich küsste sein feuchtes, verschwitztes Gesicht, lauschte seinem rhythmischen Atem, legte die Decke wieder zurück und steckte sie unter ihm fest. Er wurde unruhig, strampelte mit den Beinen und befreite sich.

Die Mandarinen, die ich Jay in der Uni angeboten hatte, die Zwischenmahlzeiten, waren kein »Mutterding« gewesen, oder vielleicht doch, aber nicht so, wie er es unterstellte. Wolfgang hatte sie mir in die Taschen und den Rucksack gesteckt. Während einer langen Umarmung hatte er meinen Magen knurren gehört und mich gefragt, ob alles in Ordnung sei, und als ich antwortete, ich hätte vergessen, zu Mittag zu essen, war er zum Kühlschrank gegangen und hatte mir das in seinen Augen beste Essen eingepackt.

Wolfgang beobachtete mich immer, machte sich ständig Sorgen. Er war, so kam es mir vor, ungewöhnlich sensibel. Während ich kochte, saß er in der Küche und weinte, wenn ich Knoblauch zerdrückte oder einen Apfel aufschnitt, weil er solche Handlungen als aggressiv empfand. Er glaubte, auf Gras zu treten verletze die Gefühle der Halme. Einmal hatte meine Mutter ein Gesicht auf einen Luftballon gemalt, und diesen Ballon hatte er überallhin mitgenommen, ihn Kartoffel genannt und geweint, als er platzte. Er führte lange, vertrauliche Gespräche mit seinen Stofftieren. Er hatte ständig Angst, dass er anderen wehtat oder ihnen etwas passierte. Er wollte immer in meiner Nähe sein. Er suchte mein Gesicht nach Zeichen für mein Unwohlsein ab, und wenn er etwas entdeckte – ein Zucken oder eine Grimasse –, weinte er. Selbst ein scharfes Einatmen ließ ihn manchmal aufhorchen und er fragte, ob alles in Ordnung sei. Er ließ sich nicht beruhigen. Er hörte nicht auf das, was ich sagte, nahm nur auf, was ich tat. Ich konnte nichts vor ihm verbergen. Er spürte meine Stimmungen und meine grübelnden Gedanken, meinen leeren Magen, meine Zerstreutheit, Frustration, Angst. Er spürte alles und schleppte es mit sich herum.

Früher am Abend, vor meinem Treffen mit Jay und Colin in der Bar, hatte ich in der Tür zu Wolfgangs Zimmer gestanden. Er und Andrew hatten auf dem Boden gesessen und mit Bausteinen gespielt. Wolfgang winkte in meine Richtung, eine Einladung, mich zu ihnen zu gesellen, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich stand in der Tür und beobachtete die beiden wie durch eine Glaswand. Ich konnte nicht zu ihnen, konnte die Schwelle zu Wolfgangs Zimmer nicht übertreten. Ich gehörte nicht dorthin. Ich gehörte woandershin, war abseits, auf Distanz. Die Straßenlaterne warf gelbes Licht auf Wolfgangs Gesicht. Wenn ich ihre Szene betrat, würde ich sie verändern, zu etwas anderem machen. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich oder ob sich die Szene ändern sollte.

Und nun, nach dem Abend in der Bar, stand ich wieder in der Tür und beobachtete sie im Schlaf. Ich zählte ihre Atemzüge, zählte bis acht; ich musste acht tiefe Atemzüge sehen, um zu glauben, dass die beiden real und lebendig waren, es ihnen gut ging und auch ohne mich gut gehen würde. Ich ging ins Wohnzimmer und legte mich auf die Couch, starrte auf die Risse in der Decke, kleine Wirbelsäulen, die sich über mattem Weiß ausbreiteten.

Ich war felsenfest davon überzeugt, dass es meinem Wesen entsprach, auf Distanz zu existieren, grundsätzlich allein zu sein. Plotin und ich: in einsamer Existenz, unvermischt, getrennt. Um mich herum war Stück für Stück eine Hülle gewachsen und hatte eine Grenze zwischen mir und allem anderen errichtet. Sie wuchs wegen der Menschen, die mich anstarrten, immerfort anstarrten, wegen der vielen Male, wenn ich mich durch öffentliche Räume bewegte, empfangen von Getuschel. Was stimmt nicht mit ihr? Was stimmt nicht mit dir? Sie wuchs, als ich im Sportunterricht oder in den Pausen von anderen Kindern getrennt wurde; sie wuchs, als ich von Schulausflügen befreit wurde; sie wuchs, als ich trotzdem teilnahm, weil ich nichts verpassen wollte und die besorgten Blicke meiner Lehrer mich verfolgten. Die Sorge konnte in Ärger umschlagen, wenn Leute sich durch meine Anwesenheit an ihre Gleichgültigkeit erinnert fühlten, an ihre unbeabsichtigte Ausgrenzung, ihr Versagen, einen Stundenplan auszuarbeiten, der mich einschloss. Die Botschaft war klar, und sie kam von überall: Ich durfte nicht teilnehmen. Ich war keine Teilnehmerin.

Mit zunehmendem Alter lernte ich, dass es auch abstrakte Räume gab, die mir verschlossen waren. Sexualität, romantische Liebe, Partnerschaft – dies alles gehörte zu einer Provinz, die ich, als behinderte Frau, nicht betreten sollte. Ich sah, wie andere zusammenzuckten, wenn ich für jemanden schwärmte oder mit meinen Freundinnen eine Berühmtheit anschmachtete. Man erwartete von mir, dass ich weder mit jemandem ging noch heiratete. Man erklärte mir dezidiert, dass auch Mutterschaft einen Raum darstellte, von dem ich ausgeschlossen war. Ich akzeptierte, was ich als Tatsache hinnahm. Und so entwickelte sich nie ein Teil meiner Phantasie, der Teil, der sich fragt, wie es sein könnte, ein eigenes Kind zu lieben.

Ich bereitete den Menschen Unwohlsein, und manchmal waren sie grausam, aber meine weit häufigere Erfahrung war, dass andere es einfach als schwierig empfanden, mich einzubeziehen, und es leichter war, mich am Rand zu lassen. Mein Körper wurde ständig gesehen, doch das, was ich mein »Selbst« nannte, war unsichtbar. Ich lernte, dem Unvermeidlichen zuvorzukommen und mich auszugrenzen. Ich zog mich in meine einsamen Räume zurück, bevor man mich aus dem Fluss des realeren Lebens stieß, des Lebens, das überall ringsum schillerte, hell, angefüllt und unerreichbar.

Mein Vater hatte Reisen, Abenteuer, Theorie, Philosophie und Kunst als Hilfsmittel benutzt, um ein großes Gerüst um seine Theorie des Selbst zu bauen – und sie geschützt, abgetrennt und erhöht. Ich machte das Gleiche und redete mir ein, dass ich ohne Kontakt zu anderen ein besserer Mensch wäre. Zum Teil traf das zu, aber einiges daran stimmte eben nicht ganz. Ich verliebte mich in Philosophen, die mir zeigten, wie man großartige Theorien von göttlicher Einsamkeit errichtet. Ich war Plotins Schülerin, entschlossen, mein perfektes Selbst in der einsamen Existenz, dem Abgetrenntsein, dem Unvermischten zu finden. Schönheit half mir, mich aus dem Schmutz zu erheben, mich von der Realität zu befreien und allein zu sein. Die alten Griechen lehren uns, nach Sophrosyne zu streben – einer moralischen Gesundheit, einem Zustand des Gleichgewichts und der Harmonie mit Vernunft und Weisheit. Für Plotin erreichte man Sophrosyne, indem man die Empfindungen des Körpers, sowohl Schmerzen als auch Freuden, ausschaltete. Der Körper ist unrein, unwürdig, und wenn wir uns von ihm abwenden, entdeckt man die Schönheit. Durch solche Reinigung wird die Seele Gestalt und Form, völlig frei vom Leibe, geisthaft und ganz dem Göttlichen angehörig, aus welchem der Quell des Schönen kommt, und von wo alles ihm Verwandte schön wird.

Aus dem Schlafzimmer drang ein Schrei. Ich rannte los. Wolfgang saß aufrecht im Bett, verloren in einem schlechten Traum. Er war schweißgebadet, die Augen offen, ohne etwas zu sehen, sein Kopf bewegte sich hin und her. Er murmelte eine seltsame Beschwörung. Ich nahm ihn vorsichtig in den Arm. Er schloss die Augen und schlief weiter.

In Caracella gehen die Lichter aus. Ich kann meine Hand nicht vor Augen sehen, niemanden erkennen. Dunkelheit umfängt uns. Die Menge räuspert sich ein letztes Mal, stößt eine nervöse Melodie hervor, ein Lied aus kratzenden, quietschenden Sitzen, Gemurmel, Geflüster. Das Summen und Dröhnen dieser letzten Geräusche steigt auf und verflüchtigt sich. Dann folgt Stille. Wir warten auf den nächsten Moment, doch er hängt in der Schwebe, und die Zeit dehnt sich aus, statt zu vergehen. Anfangs bin ich angespannt und aufmerksam, aber dann dehne auch ich mich aus, mein Geist gleitet, mein Körper löst sich, die kühle Abendluft und mein kleiner Becher gestohlenen Weins entfalten ihre volle Wirkung, und ich werde locker. In der Dunkelheit entschwindet die lärmende Welt hinter mir. Das einzige sichtbare Licht stammt von den Sternen am Himmel.

Die Bühnenlichter erstrahlen sanft. Darsteller in schiefergrauen Kostümen erscheinen. Ihre Körper bilden eine Wand. Das gedämpfte Licht gaukelt dem Auge vor, dass die Reihe der Körper kein Ende nimmt. Ein grünes Licht steigt auf und enthüllt die gewaltigen Ruinen von Caracalla, und obwohl ich sie in den vergangenen Stunden angestarrt hatte, verleiht ihnen dieses Licht, der veränderte Kontext etwas Neues, und die Säulen künden nun von der Autorität der Zeit – ihre antike Natur und dieser Moment existieren gleichzeitig, stürzen ineinander und erheben sich auf der Bühne vor mir. Niemand rührt sich.

Und dann!

Die Hunderte von Körpern krümmen sich und singen gemeinsam, und alles ringsum wird durch ihren Gesang verwandelt. Sie singen den gleichen Ton, die gleiche Phrase, sie sind – so geht die Geschichte von Nabucco – die Israeliten, die zu einem zornigen Gott beten und ihr Schicksal beklagen. Die babylonische Armee rückt auf Jerusalem vor. Die Stimmen rufen in den offenen Raum. Ein Schauspieler, nur ein einziger in der Menge, neigt den Kopf gen Himmel und bittet Gott singend, er möge eingreifen.

Die vereinten Stimmen werfen eine Lanze über die Bühne, die mich trifft. Der Klang, den sie erzeugen, nimmt die Dumpfheit des Tages von mir. Ein Klang, eine Note; rein, abgetrennt. Dieser saubere Klang, diese gemeinsam singenden Stimmen erheben mich über den Schmutz des Gewöhnlichen und meine Körperlichkeit, über meine verwirrten Wahrnehmungen und mein nagendes Verlangen. All das erinnert mich an das unglaubliche Vergnügen, für mich allein zu sein. Einen kurzen Moment lang bin ich das einzige Lebewesen auf der Welt – die Schauspieler verschwinden, das Publikum verschwindet, Rom verschwindet; Autos und Cafés und lavanderias, weg; New York, weg; mein neuer Job ist weg, und die Leute, die zu Hause auf mich warten, haben sich verflüchtigt; meine Ängste sind weg. Noch bis vor wenigen Sekunden hatte ich eine Last gespürt, die Gewissheit, dass ich durch Mutterschaft, durch Ehe, durch Arbeit, durch den Körper, durch Schmerz zu einem Nichts geschrumpft war, doch diese Last ist gewichen. Es gibt keinen Platz für mich unter den Menschen. Die Kunst erhebt mich aus dem Schlamm, Menschen könnten das nicht füreinander tun. Jedes Mal, wenn ich auf sie zuging, wurde ich gedemütigt. Sie haben einfach zu viele Augen, zu viele Phantasien.

Ich denke an Plotin, aber ich denke auch an einen Lieblingsessay der Philosophin Iris Murdoch, in dem sie über die transformative Kraft der Schönheit nachdenkt und darlegt, dass die Erfahrung von Schönheit das »nüchterne Bewusstsein« eines Menschen verändern und ihn über sich selbst und die gesamte Welt erheben kann. Sie sagt, sie sehe einen Vogel, einen schwebenden Falken, und »mit einem Mal ist alles verändert«, und sie sagt noch mehr, aber da ich in diesem Augenblick in Rom bin, ein verletztes, grübelndes und einsames Wesen, erinnere ich mich nicht mehr genau an den Kern von Murdochs Geschichte mit dem Falken. In einem Jahr werde ich Murdoch wieder lesen und mich an diesen Moment in der Oper und an meinen Verständnisfehler erinnern. Doch fürs Erste interpretiere ich ihre Aussage falsch und benutze sie als Beweis für das, was ich glauben möchte, nämlich, dass ich allein besser dran bin, niemandem und nichts verpflichtet, unbehelligt von schrecklicher Normalität. Und in diesem Gefühl von göttlicher Einsamkeit verharre ich und bin erleichtert. Eine einsame Zukunft schreibt sich selbst.

Aber innerhalb einer Stunde wird sie umgeschrieben.

Die Oper geht weiter, führt über diesen einzigen Ton hinaus, ihre Geschichte entfaltet sich. Die Bühne ist kahl. Nichts blendet das Auge, nahezu keine Farbe, keine hellen Lichter. Nur Stimmen, Musik, die aufragenden Säulen und die Pinien ringsum. Die Faszination des ersten Tons lässt nach, die Leute um mich herum rühren sich wieder, amüsieren sich, reichen Becher und Weinflaschen weiter. Es ist wieder ein Picknick, eine Sommerszene.

Im dritten Akt von Nabucco erheben sich alle Italiener im Publikum. Sie kennen etwas mir Unbekanntes. Die Schauspieler stellen sich in eine Reihe wie am Anfang, jetzt allerdings trennt sie ein Metalltor von den Zuschauern. Hinter diesem Tor singen sie, strecken uns die Arme entgegen. Manchmal sehen wir etwas aufblitzen, ein Stück Haut, einen Stofffetzen. Sie greifen nach uns, dem Publikum, und das Publikum greift zurück. Alle fangen an zu singen: Va, pensiero, sull’ali dorate. Ich werde von meinem Sitz gerissen. Es ist der Mann, dessen Weinbecher ich fälschlicherweise für meinen hielt. Er hat sich zu mir umgedreht, legt einen Arm um mich und singt. Hinter mir, vor mir werde ich von Händen gepackt. Klangwellen brechen sich an den Mauern der alten Ruinen. Einen Moment lang prallt alles aufeinander, in komprimierter Zeit. Dieser Augenblick ist mit Geschichte verwoben. Verdi hatte ein Libretto geliefert, dessen erster Vers lautete: Va, pensiero, sull’ali dorate. »Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen.«

Bei der Premiere von Nabucco 1842 in Mailand wollte das Publikum, dass die Darsteller »Va, pensiero« noch einmal sangen, aus Protest gegen das österreichische Kaiserreich und das Zugabenverbot. Die revolutionäre Botschaft der Oper wird heute eher angezweifelt, aber die Wahrheit spielt keine Rolle, wichtig ist nur die schriftlich festgehaltene Geschichte. »Va pensiero«, auch bekannt als Gefangenenchor oder Freiheitschor, wurde ein patriotisches Lied, eine Hymne des Risorgimento.

2011 unterbrach ein Dirigent seine Aufführung von Nabucco, um eine pathetische Rede über den Wert der Kunst zu halten, und dann forderte er alle auf, aufzustehen und »Va, pensiero« zu singen. Die Zuschauer folgten seiner Aufforderung und warfen ihre Theaterzettel in die Luft, die sodann in einem sanften Wirbel herabschwebten.

Auch die Italiener um mich herum stehen alle und singen, und ich singe mit ihnen, obwohl ich den Text nicht kenne. Ich stottere mich durch, umgeben von fremden Armen und Händen, wir alle inmitten einer sentimentalen und unvollkommenen Geschichte, die Stimmen vereint, gemeinsam singend. Ein vages Gefühl überkommt mich, ich kriege Gänsehaut, und dann gebe ich nach und lasse mich berühren, halten, ich bin ein Teil der Menge. In diesem Zusammenprall von Echos, kollabierenden Schatten, verschmolzenen Stimmen, menschlicher Haut und Schweiß liegt eine neue Schönheit. Die Reinheit des ersten Tons, der mich von den anderen fortgetragen hatte – all das ist jetzt verschwunden. Die ausgelassene Menge reißt mich mit. Wir sind ein einziger Körper, der winkt, sich streckt, singt, kein Dach hält unsere Stimmen vor Gott zurück. Ich spüre den schweißnassen Mann neben mir, die Hüfte einer Frau, die mich anrempelt. Ich bin hier bei ihnen. Aber irgendwann geht »Va, pensiero« zu Ende. Die Oper geht zu Ende. Die Darsteller verneigen sich, dann wird die Bühne dunkel.

Ich fahre allein in einem leeren Bus, gehe brennend wie eine Wunde durch die Straßen, bis ich zurück in meinem Hotelzimmer bin, wieder ein abgetrenntes Ich, hart und einsam.