Vier Monate nachdem ich Andrew kennenlernte, übergab ich mich in seinem Auto. Ich dachte mir nichts dabei. Durch meine chronischen Schmerzen war ich oft so erschöpft, dass mir übel wurde. Meine Periode kam nie regelmäßig, dass sie mehrere Monate ausblieb, war also eher normal. In den nächsten drei Monaten übergab ich mich täglich und nahm gleichzeitig zu. Ich schob es auf Andrew, der mir ständig Fürst-Pückler-Schnitten mitbrachte, mein Lieblingseis, und es ins Kühlfach packte. Mir war weiterhin übel. Ich war ständig müde. Das war normal.

Manchmal werde ich gefragt: Wie konntest du das nicht wissen? Aber wie hätte ich es wissen sollen? Mein Leben lang hatte man mir eingetrichtert, ich könne nicht schwanger werden. Das Gehirn nimmt die Fakten, mit denen man es füttert, und formt daraus die Realität. Ich hielt es für wahr, also musste es definitiv wahr sein. Bis ich eines Besseren belehrt wurde. Mit siebzehn, als ich meinen ersten Freund hatte, ging meine Mutter mit mir zum Arzt, um einige Tests durchzuführen, damit wir sicher sein konnten. Der Arzt erklärte, dass meine Behinderung meinen Körper untauglich mache. Meine Mutter hatte gegen seine Wortwahl protestiert, worauf er gesagt hatte: Na schön, dann vielleicht »nicht in der Lage, ein neues Leben zu entwickeln«?

Ich pinkelte auf einen Streifen, und Andrew stellte einen Timer. Wir tanzten gutgelaunt in der Küche und warteten, bis der Timer abgelaufen war. Wir sangen mit albernen Stimmen: Unser Leben ist gelaufen, unser Leben ist gelaufen, noch eine Minute Freiheit, noch dreißig Sekunden Glück, zehn, neun, acht – wir sangen die Sekunden herunter, ohne auch nur einen Moment daran zu denken, dass der Test positiv sein könnte. Die Zeit lief ab.

Ich ging in die Küche und riss das Papier von einer Eiskremschnitte. Andrew kam nicht hinter mir her und versuchte nicht, mit mir zu reden. Er blieb mit dem Schwangerschaftstest in der Hand im anderen Zimmer zurück. Ich aß langsam mein Eis und dachte nur: Aber mein Körper ist nicht in der Lage, ein neues Leben zu entwickeln. Ich aß weiter. Wir hatten kein Geld. Andrew hatte das College abgebrochen und arbeitete als Busfahrer. Ich war Doktorandin. Unsere gemeinsamen Bankkonten beliefen sich auf 257 Dollar. Meine Katze schlich in die Küche. Ich betrachtete sie und dachte, wenn unsere Schicksale umgekehrt wären, würde sie einfach unter die Veranda verschwinden und ohne großes Theater ihre Jungen kriegen. Ich würde gern behaupten, dass ich damals an die vielen Leute dachte, die sich ein Baby wünschten und keins haben konnten, die Leute, die Babys bekamen und sie verloren, aber ich war hauptsächlich auf meine Katze und ihre Selbstgenügsamkeit fokussiert. Den Mund voller Eis, sagte ich zu der Katze: »Ich bin klüger als du – wenn du es schaffst, kann ich es auch.« Sie gähnte und leckte sich gleichgültig die Lippen. Da wurde ich panisch.

Zwei Jahre, bevor ich Andrew kennenlernte, schickte mein Vater eine E-Mail mit dem Betreff: Mein Abschiedsbrief. Sie war an mich, meine Mutter, die Frau, für die er sie verlassen hatte, die Frau, für die er diese Frau verlassen hatte, und zwei weitere Frauen adressiert. Er erklärte uns, dass wir – wir alle, einzeln und zusammen – sein schönes Herz genommen und es gebrochen hatten.

Ich übernachtete bei meiner besten Freundin Kate. Es war drei Uhr morgens. Wir waren gerade von einer Party nach Hause gekommen. Ich zeigte Kate die E-Mail. Sie nahm mich lange in den Arm, dann gingen wir in die Küche und machten Kaffee. Ich saß auf ihrem Bett. Ich hatte eine alte Telefonnummer von meinem Vater und rief an. Kate saß draußen vor der Zimmertür. Ich bin da, sagte sie, ich komme sofort, wenn du mich brauchst.

Mein Vater nahm den Hörer ab. Er war betrunken. Er weinte und sagte, er wolle sterben, würde sich aber nicht umbringen. Hinter ihm lag eine weitere Affäre, die ihn eine weitere Ehe, seine vierte, und seinen Job gekostet hatte. Er hatte an einem College in Vermont unterrichtet und eine Affäre mit einer Studentin angefangen, die ihn angezeigt hatte, weil er nicht bereit war, sie nach der Trennung in Ruhe zu lassen.

Ich sollte wissen, sagte er, dass er es am meisten bedauerte, mich und meine Mutter verlassen zu haben. Sie sei die Liebe seines Lebens und ich seine beste Freundin. Ich glaubte ihm.

Meine Eltern hatten gehofft, im Ausland bleiben zu können und mich in Nepal, Thailand, Japan oder Australien großziehen zu können. Viele der Freunde, die sie auf ihren Reisen gefunden hatten, wollten das Gleiche tun. Kinder waren kein Grund, die Party abzubrechen. Aber meine Behinderung zwang meine Eltern zum Umdenken. Das große Abenteuer, das mein Vater mit meiner Mutter begonnen hatte, endete damit, dass er im Anzug in einem Kabuff in Kansas saß, als Vater einer Tochter, die mehr Zuwendung und Fürsorge brauchte, als er zu geben in der Lage war.

Am Tag nach meiner Geburt kam eine Physiotherapeutin ins Krankenhaus in Bangkok und zeigte meinen Eltern, wie man meinen verdrehten Körper sanft dehnt und massiert. Bei ihrer groben Berührung fing ich an zu schreien, wofür mein Vater sie hasste. Meine Mutter befolgte die Anweisungen der Therapeutin, dehnte mich und versuchte mich zu strecken, worauf ich wieder weinte und mein Vater nun wütend auf sie war, die er doch so sehr brauchte. Die Therapeutin erklärte ihnen, mein jetziger Schmerz bedeute, dass ich später umso weniger Schmerzen hätte, doch das konnte mein Vater in dem Moment nicht akzeptieren. Er wollte einfach, dass ich aufhörte zu weinen. Aber ich hörte nicht auf. Ich war dieses unbegreifliche Wesen, das vor Schmerz schrie.

Unter der Angst und seinem Impuls, die Flucht zu ergreifen, empfand mein Vater, so erzählte er mir, mit einem Mal eine Welle von Zuneigung für meine Mutter, die ihn krank machte und in die Tiefen einer neuen Erkenntnis stürzte: dass Liebe und Angst sich vermischten, und ich musste an meinen Vater denken, als Wolfgang schreiend zur Welt kam, nass und schwer in meinen Armen, während ich aufgeschnitten auf dem OP-Tisch lag, die ersten Laute meines Sohnes hörte, dieses Zerstörers, dessen Stimme mein altes Leben auf den Kopf stellte.

Mein Vater bemühte sich zu bleiben. Er vergrub sein Unwohlsein in Lektüre. Er las ein Buch pro Tag. Das reale Leben mit seinen harten Wahrheiten verschwand, aber nie ganz, nie genug. Der Alkohol half. Auch andere Frauen. Wochen nach meiner Geburt verließ er meine Mutter in Japan für eine junge Frau, mit der er ein neues Leben beginnen wollte, ein unbeschwerteres Abenteuer.

Meine Mutter blieb in Kathmandu. Sie legte meinen kleinen Körper auf den Rand eines Brunnens in der Nähe unseres Hauses und massierte mich den ganzen Tag in der Sonne mit Ölen. Stundenlang knetete sie meine geschrumpften Gliedmaßen und ließ die Sonne meine schrecklichen Muskeln auftauen.

Mein Vater saß in Japan in einem Restaurant und sah zu, wie ein Mann einen lebendigen Aal in eine Schüssel mit kochendem Wasser legte. In der Mitte der Schüssel lag ein großes Stück Tofu. Der Aal wollte dem heißen Wasser entkommen und wühlte sich in den Tofu. Der Mann hob den Tofu mit dem lebenden Aal darin heraus, schnitt ihn in Scheiben und servierte ihn meinem Vater.

Meine Mutter kehrte allein mit mir in die Vereinigten Staaten zurück, wo es in Kansas City einen orthopädischen Chirurgen gab, Dr. Asher, spezialisiert auf Wirbelsäulenanomalien. Ich musste an meinen Beinen und Klumpfüßen operiert werden. Die Malerin Frida Kahlo fertigte zum Dank an ihren Arzt Dr. Eloesser ein Porträt von ihm an. Van Gogh malte sein Porträt des Dr. Gachet als Geste des Dankes. Meine Mutter nahm einen dünnen Metallstreifen, formte ihn wie meinen Fuß und machte damit fußförmige Zuckerplätzchen. Die Zehennägel bemalte sie mit einer dünnen Glasur. Sie schenkte die Plätzchen, ihre kleinen Porträts von mir, meinen Schwestern und Ärzten.

»Ich gab ihnen auch einige Kraniche«, sagt meine Mutter am Telefon. Am Abend habe ich sie wieder aus Rom angerufen. Ich rufe sie jeden Abend an.

»Welche Kraniche?«

»Vor deiner Operation haben wir eintausend Origami-Kraniche gefaltet.«

»Du und Dad?«

»Nein, deine Tante Georgeanne und ich. Du kennst das mit den tausend Kranichen, oder? Eine japanische Legende. Jeder, der tausend Kraniche faltet, bekommt von den Göttern einen Wunsch erfüllt. Als du klein warst, habe ich dir das Buch Sadako und die eintausend Papierkraniche vorgelesen, die Geschichte von dem Mädchen, das nach dem Atombombenabwurf in Hiroshima an Leukämie erkrankt. Jedenfalls will Sadako leben und fängt an, tausend Kraniche zu falten, damit sie ihren Wunsch äußern kann.«

»Und danach lebt sie?«

»Nach der Hälfte der Kraniche langweilt sie sich und gibt auf, und dann stirbt sie. Lass dir das eine Lehre sein, dass du zu Ende bringst, was du anfängst, bevor du deine Promotion aufgibst.«

»Die gebe ich nicht auf.«

»Deine Tante Georgeanne und ich haben tausend Kraniche gefaltet, und auch uns war langweilig. Das sind sehr viele Kraniche. Aber wir haben nicht aufgehört, sondern sie alle gemacht und uns gewünscht, dass deine Operation gut verlaufen wird und es dir gut geht. Und es geht dir gut.«

»Du findest, es geht mir gut?«

»Klar, ist doch so, oder?«

»Mir geht es nicht gut.«

»Bist du nicht in Rom? Was fängst du mit deiner Zeit an? In Rom gibt es Museen. Kunst, schöne Kunst. Interessiert dich das nicht?«

Ich erzähle ihr von der Bernini-Skulptur. Und von den Erinnerungen an meinen Vater und die rothaarige Frau im weißen Kleid.

»Du lieber Himmel!«, sagt sie monoton.

»Erinnerst du dich an irgendetwas davon?«

»War sie deine Schwimmlehrerin?«

»Nein, eine Wildfremde in einem Kaufhaus. Wer war die Schwimmlehrerin?«

»Ach, ihr Name fällt mir gerade nicht ein.«

»Wieso bringst du eine Schwimmlehrerin aufs Tapet?«

»Robin. Ronda. Rhoda. Ich weiß nicht mehr.«

»Wovon redest du?«

»Ich hätte ahnen müssen, was vor sich geht, als er plötzlich so darauf erpicht war, mit dir zum Schwimmunterricht zu gehen. Zuerst tat er sich furchtbar schwer damit, und dann gab es plötzlich keinen Menschen, der sich mehr für Wasserschulung einsetzte.«

»Was ist passiert?«

»Er ist eine Zeit lang ausgezogen und hat bei deiner Schwimmlehrerin gelebt, bis er irgendwann wieder zurückkam.«

»Sie hat ihn abserviert?«

»Ja, armes Mädchen. Sie hatte sich in einen Mythos verguckt – ein gutherziger Dad, der seiner behinderten Tochter völlig ergeben ist. Er half ihr, so lange er konnte, daran zu glauben, aber irgendwann kam sie ihm auf die Schliche. Du hattest deine Rolle gespielt und warst plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Das fand sie nicht gut.«

Ich erzähle meiner Mutter von der Oper und dann von Joel, dem Fremden in der Galerie, und wie wir uns durch die Räume gefolgt sind.

»Du hast gehofft, dass er dich anbaggert?«

»Ich schätze ja.«

»Was ist mit Andrew?«

»Da war nichts, ich habe es mir nur vorgestellt.«

»Hast du vor, deinen Abschluss zu machen, oder ist das jetzt erledigt?«

»Ich arbeite daran.«

»Sieht so Arbeit aus?«

Ich überlege, ob ich ihr von dem Abend in der Bar mit Colin und Jay erzählen soll, von dem, was sie gesagt haben, und dass dieser Abend mich hierher, nach Rom geführt hat. Aber ich muss selbst noch herausfinden, warum genau ich hier bin. Ich weiß es nicht, genauso wenig wie sie.

»Dad hat mir erzählt, nach meiner Geburt hätte er dich angesehen und gewusst, dass er nie wieder jemanden so lieben würde wie dich in diesem Moment.«

»Das mag ja sein«, sagt sie und lacht. »Aber am nächsten Tag kam er mit Lippenstift am Hals ins Krankenhaus.«

»Lippenstift?«

»Er hat vergessen, dir die Geschichte zu erzählen? Er kam mit Lippenstift am Hals ins Krankenhaus zurück. Du warst einen Tag alt.« Meine Mutter muss so lachen, dass ich sie kaum verstehe. »Ich hab zu ihm gesagt: Hey, du hast Lippenstift am Hals

»Und was hat er gesagt?«

»Dass er ein Sandwich essen ging und plötzlich hatte sich der Laden in einen Striptease-Club verwandelt.«

Jetzt muss auch ich lachen.

»Warst du sauer?«

»Er war nicht übel, er war kein Monster, er hatte ein paar Nachteile. Er sah die Welt durch seine Brille. Er hat mich geliebt, er hat dich geliebt, und ich bin sicher, er liebt dich auch heute noch, aber seine Liebe für andere übertraf nie seine Sorge für sich selbst. Er war kein Mensch mit reinen Absichten, aber das bist du auch nicht. Ich bin dankbar für das, was er dir beigebracht hat. Er hat seinen Doktor gemacht. Seine Familie verlassen, aber seinen Doktor gemacht. Wie sieht dein Plan aus?«

»Mom.«

»Seien wir ihm gegenüber fair. Sagen wir die Wahrheit und erzählen keine Geschichte. Jeder war ein Teil von seinem Tableau. Wir alle mussten eine Rolle in der Geschichte spielen, die er sich über sich selbst erzählt hat. Du warst nicht allein betroffen. Aber es stimmt, er hat dich gebraucht, um eine bestimmte Rolle zu spielen. Du warst der sichtbare Beweis, dass er ein guter Mensch war. Weil er diese kleine –«

»Weil er diese kleine verkrüppelte Tochter hatte –«

»Und er hat sie geliebt.«

Nach meinen vielen Operationen blieben wir in Kansas, in der Nähe der Familie meiner Mutter und des orthopädischen Chirurgen, der sich mit meiner Behinderung auskannte. Meine Mutter arbeitete in Tonganoxie, einer kleinen ländlichen Stadt in der Nähe von Kansas City, als Lehrerin in einer dritten Klasse. Irgendwann kehrte mein Vater aus Asien zurück und wollte mit uns leben. In den folgenden zehn Jahren kam und ging er immer wieder, bis er uns endgültig verließ. Ich habe meine Mutter oft gefragt, warum sie ihn immer wieder aufnahm, und sie gab stets die gleiche Antwort: Ich dachte, du brauchst einen Vater.

Meine Mutter verdiente nie viel Geld mit dem Unterrichten, aber ihr gutes Auge und ihre Anstrengungen verdoppelten unseren Reichtum. Sie stickte Blumen auf meine Kleider, malte einen Sonnenuntergang auf meine Kommode, schnitzte Tiere in Bücherregale und das Kopfende an meinem Bett. Sie war eine ungeduldige und kreative Köchin, warf einen Blick auf Rezepte und machte sie sich dann zu eigen. Nie gab es das gleiche Essen zweimal. Sie packte jedes Geschenk für andere sorgfältig ein, fuhr mit der Schere über das Band, damit es sich kringelte. Sie bereicherte unser Leben in dem Farmhaus in Kansas mit Licht und Farbe. Von ihr bekam ich meine erste gültige Theorie über Kunst – dass sie persönlich war, dass sie aus Schrott entstehen, dass sie in den düsteren, täglichen Winkeln des Lebens präsent sein konnte. Meine Mutter war und ist eine begabte Malerin. Ihr einziges Thema waren Pferde. Das änderte sich erst, als Wolfgang geboren wurde. Dann malte sie manchmal ihn, aber weiterhin meistens Pferde. Sie rahmte ihre besten Bilder, hängte sie aber nie an einem prominenten Platz im Haus auf. Eines hing an einer Wand im Bad, ein anderes stand auf einem Fenstersims im Keller. Ihre Arbeit war dezent sichtbar.

Mein Vater richtete sich ein Zimmer in unserem Haus ein, und wenn die Tür geschlossen war, durfte ihn niemand stören. Er schrieb Lieder auf seiner Gitarre, tippte Geschichten in unseren einzigen Computer und las viel. Sein Zimmer war vom Boden bis zur Decke mit Büchern vollgepackt. Morgens holte er sich einen Tee und trank ihn allein in seinem Zimmer. Wenn er nachmittags von der Arbeit nach Hause kam, zog er sich augenblicklich in dieses Zimmer zurück. Die Wände waren grau und seine Bücherregale waren grau.

Auch er gab mir eine frühe Theorie über Kunst – sie entstand, indem man sein einzigartiges Genie dem Ich entriss und in eine für andere sichtbare Form brachte. Allerdings war er nie zufrieden mit dem, was aus ihm kam, es stimmte nie mit der idealen Form des Gegenstands in seinem Kopf überein. Immer wieder schrieb er die gleichen Songs neu. Er erzählte mir die Pläne für die vielen Bücher, die er schreiben würde. Einige fing er an, fertig wurde keines. Am liebsten mochte er die Anfangsphase. Der Anfang war wie ein Rausch. Ihm gefielen Möglichkeiten. Genau wie mir.

»Und die Hundegeschichte?«

»Oh«, sagt meine Mutter.

»Wie geht deine Version?«

»Er hat dir seine erzählt, nehme ich an.«

»Er sagt, du konntest nicht bei ihm bleiben, als er den Hund ertränkte.«

»Richtig. Das stimmt. Ich konnte es nicht mitansehen.«

»Er sagt, er hat sich allein gefühlt und dass es schrecklich war, bei dieser Sache allein gelassen zu werden.«

»Dafür sollte ich ihm dankbar sein. Ich fand, es war richtig, das Leiden des Hundes so zu beenden. Ich konnte es nicht tun, er konnte es. Das ist nur gerecht. Ich gebe zu, da war eine Schwäche in mir. Ich habe meine Grenzen, und wenn er sich im Stich gelassen gefühlt hat, dann tut es mir leid.«

Wir schweigen eine Weile.

»Schon komisch, oder? Er ist für den Hund geblieben. Ich bin deinetwegen geblieben.«

»Wieso konnte er das eine und nicht das andere?«

»Wer weiß?«

»Weißt du es nicht?«

»Ich glaube, er war immer auf der Suche nach großen Gefühlen, und wenn sie kamen, erkannte er sie nicht.«

»Und du hast sie erkannt?«

»Wir sollten ihn nicht schlechtmachen. Er war dir ein guter Vater, wenn er einer sein wollte«, sagt meine Mutter und putzt sich die Nase. »Und er hat dir gezeigt, wie das Leben eines Denkers aussehen könnte. Diesen Teil von dir verdankst du ihm.«

Mein Vater machte unsere Küche zum Klassenzimmer. Ich war seine Schülerin, sein einköpfiges Publikum, gefangen von Wissensdurst. Als Kind saß ich gespannt am Tisch und saugte seine Lektionen über die großen Philosophen auf, deren Leben und Ideen er in die Form von Abenteuergeschichten packte. Er wandelte die Philosophen in mangelhafte und tragische Helden ab, die sich auf endlose Missionen begaben, um die Beschränktheit der anderen zu bezwingen, die sie wiederum verspotteten, einsperrten und umbrachten. Dass solchen großen Männern, missverstanden in ihrer Zeit, oft ein schreckliches Ende widerfuhr, gefiel meinem Vater. Der gemeine Mann schirmte die Augen vor der Sonne ab; er hatte kein Durchhaltevermögen angesichts von Größe und griff daher zu Grausamkeit und Ignoranz, nahm Männer mit gutem Geist und brach sie. Mein Vater überdachte dieses Schicksal, während er sein Weinglas füllte. Er hob das Glas und hielt es in den grellen Schein einer Neonlampe. »Sokrates trank den Schierlingsbecher«, erklärte er mir, bevor er sein Glas neigte und es austrank. »Das war sein Weg zur Unsterblichkeit. Sollten sie sehen, dass sie einen guten Mann zerstört hatten. Sollten sie doch sehen, was sie verloren hatten, und dann damit leben.«

Mein Vater verwandelte die Historie der Philosophie in eine Geschichte der Sehnsucht, was nicht schwer ist. Die Philosophie behauptet oft, dass die realsten Dinge woanders sind. Platons Ideenlehre kann als Ausdruck des reinen und unmöglichen Begehrens verstanden werden. Platon sagt, dass es ein Reich der Ideen gibt, das nur über die Vernunft zugänglich ist. Dieses Reich enthält, wonach Platon sich am meisten sehnt: die perfekte, ideale, schöne, ewige Wahrheit. Aber er ist gefangen in seiner Gegenwart, festgehalten in der physischen Welt, die nichts als unvollkommene Reflexionen der Ideen darstellt – bloße Abbildungen von Abbildungen. Die Wahrheit entzieht sich ihm; er weiß, dass es sie gibt, aber er kann sie nicht fassen. Was Platon von der ewigen Wahrheit trennt, ist sein Menschsein. So gesehen hat Platon etwas vom Schwung einer unerwiderten Liebe, die davon besessen ist, eine nicht zu schließende Distanz zu überwinden.

Am besten gefiel meinem Vater Platons Symposion, das die Geschichte von Sokrates bei einem Trinkgelage mit seinen Freunden erzählt. Die Teilnehmer werden nacheinander aufgerufen, sich zu erheben und eine Lobrede auf den Liebesgott Eros zu halten, den Gott des Begehrens. Das Begehren, die Lust und die Liebe, über die Eros herrscht – es wird durch die Schönheit geweckt. Zunächst kann keiner der Sprecher sagen, was Eros ist, nur, was jeder in Eros sehen möchte. Einer möchte glauben, der Sinn des Verlangens bestehe darin, die Menschen zu noblen Taten zu führen; ein anderer möchte glauben, die Liebe mache den Liebenden göttlich; ein Dritter behauptet, Eros sei schuld an seinem Interesse an jungen Körpern, denn »im Blütenlosen und Verblühten … nimmt Eros nicht seinen Sitz.«

Aristophanes erzählt die Geschichte, wie die Menschen von einem eifersüchtigen Zeus ihrer ursprünglichen Natur beraubt wurden. Er sagt, einst waren wir Kugelmenschen mit vier Händen und Füßen und zwei Gesichtern auf jeder Seite des Kopfes. Die männlichen Kugelmenschen stammten von der Sonne ab, die weiblichen von der Erde, und die zweigeschlechtlichen vom Mond. Wir waren sehr mächtig, und so schleuderte Zeus seine Blitze auf uns, die uns in zwei Teile zerschnitten. Dies ist die Quelle des Gefühls, so Aristophanes, der Sehnsucht nach der andren Hälfte. Daran musste ich denken, als man Wolfgang aus mir herausschnitt.

»Liebe«, so Aristophanes, »ist der Name für das Verlangen und das Trachten nach dem Ganzen.«

Als Sokrates an der Reihe ist, erzählt er seinen Zuhörern von der Suche nach der vollkommenen Schönheit. Die Suche beginnt, wenn wir jung sind. Wir wollen Schönheit, aber unser Verständnis von ihrer Natur ist begrenzt. Wir finden sie vor allem in leicht zu erkennenden menschlichen Formen. Mit dem Alter und wachsendem Wissen nähern wir uns der Wahrheit des Schönen. Wir erkennen es stärker im Geist als in Körpern. Wir bleiben auf der Suche und steigen empor, entwickeln uns weiter in unserer Vorstellung von Schönheit. Und währenddessen wächst unsere Fähigkeit, Schönheit zu erkennen. Wir können mehr aufnehmen. Unsere Augen gewöhnen sich an das helle Licht der wahren Natur der Schönheit, bis wir sie schließlich erkennen – vollkommene Schönheit, die »rein, lauter und unvermischt ist, nicht aber angefüllt mit menschlichem Fleisch und Farben und vielem anderen vergänglichen Zeug«. Wenn wir sie schließlich erblicken, werden wir Teil einer größeren Summe, von etwas Gewaltigem und Unsterblichem.

Mein Vater war für solche Botschaften empfänglich. Die Philosophie idealisierte die Idee von der unvollendeten Suche, und so verfügte mein Vater über ein Gerüst, das seiner Rastlosigkeit eine höhere Bedeutung verlieh. Das Leben des Geistes verlangte, dass er sich ständig von dort fortbewegte, wo er sich befand.

Große Kunstwerke sind oft von beabsichtigter Leere umgeben. Die polierten Böden eines Museums, versteckte Schalter, dezent ausgerichtete Lichter, der Schimmer einer glatten weißen Wand – solche Verfeinerungen bringen die erhabene Schönheit zum Leuchten. Ähnlich bemessen Männer manchmal den Wert einer Frau. Für einige könnten zwei konkurrierende Meisterwerke nie nebeneinander bestehen. Mein Vater war auf das Gefühl aus, das ihm die Nähe von Schönheit verlieh, und die Schönheit meiner Mutter vermittelte es ihm; sie richtete den Scheinwerfer auf ihn und ließ ihn glänzen. Die Geschichte fügte sich zusammen: Ein großer Mann heiratet eine schöne Frau. Sie passt zu einer Vision.

Mein Vater schätzte meine Mutter nicht nur wegen ihrer Schönheit, aber sie gehörte dazu. Das zeigte sich im häuslichen Bereich, wenn er Reden schwang, während er zwei Socken hochhielt, die er zusammenlegen und in eine Schublade legen wollte und es dann vergaß. Die Wäsche hörte plötzlich auf zu existieren, sie verschwand im Glanz der neuen Idee, die sich vor ihm auftat. Mit der zerknitterten Einkaufsliste in der Hand philosophierte er in den Gängen des Lebens. Er versuchte, diese oder jene Pastasauce zu finden, wurde aber abgelenkt von einem Song, der sich gerade in seinem Kopf schrieb. Die Rückfahrt war ein Abenteuer; eine verpasste Abzweigung quittierte er mit einem Lachen. Er rollte die Fenster runter und wir trieben dahin, kamen zu spät und mit den völlig falschen Sachen nach Hause, die Liste längst verloren.

Die Wäsche wurde im Off gefaltet und weggepackt; die Hände, die mein Müsli in die Schale kippten und anschließend die Schale saubermachten, waren verschwommen, unsichtbar; die Einkaufsliste, wer schrieb die Einkaufsliste? Sie, die nur selten im Bild war. Immer sichtbar: der wilde und mächtige Geist meines Vaters, seine blauen, immerfort strahlenden Augen, seine Stimme, die von Zitat zu Scherz zu Song sprang. Seine Gedanken saßen gefährlich am Rand seines Bewusstseins und benötigten Rettung, die nur durch das sofortige Lesen einer Passage aus einem Buch erfolgen konnte, das irgendwo in seiner Bibliothek versteckt war. Wenn ich durfte, folgte ich ihm und saß auf dem Boden, während er laut las. Das, so viel stand fest, war echte und ernsthafte Arbeit.

»Was, glaubst du, wollte Dad wirklich?«, frage ich meine Mutter.

»Sich bestätigt fühlen«, sagt sie und gähnt.

»Und was wolltest du?«

»Ich wollte, dass du eine schöne Kindheit hast, und dann, wenn die Zeit reif war, wollte ich, dass du sie hinter dir lässt.«

»Was willst du für dich selbst?«

»Jetzt ins Bett gehen. Gute Nacht. Hab dich lieb.«

Mit dem positiven Schwangerschaftstest in der Hand saß ich in unserer Küche und zählte von dem Zeitpunkt an, als ich mich in Andrews Auto übergeben hatte, die Tage, Wochen, Monate zurück und wusste sofort, dass es für eine legale Abtreibung zu spät war. Ich hatte keine Wahl, die Entscheidung war mir genommen worden. Andrew kam und stand still und blass neben mir. Ich weinte, bis ich ganz benommen war, und dann öffnete ich die Augen und wollte das Zimmer wahrnehmen, aber ich sah nur meine Hand, dahinter war nichts, nur der leere Raum, in dem einst meine Zukunft war. Ich spürte nur die sich bewegende Zeit, die ins Leere tickenden Sekunden.

Die Küche verschwand.

Andrew verschwand.

Draußen zwitscherten die Vögel nicht mehr. Der Straßenlärm verstummte. Die Zeit wurde langsamer, und ich hörte eine Stimme, die ich kannte, aber nicht zuordnen konnte. Sie sagte: Tja. Und was hast du jetzt vor?

Mit der Stimme kam ein Gefühl der Ruhe. Die Zeit war reif. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Kindheit hinter mir zu lassen.

Ich blickte auf. Andrew stand über mir.

»Ich glaube, wir können das schaffen«, sagte ich. Die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, als glaubte auch er, es sei machbar, dass wir, beinahe Fremde, ohne Geld, diese Sache in Angriff nehmen konnten. Er nickte, und wir hielten uns lange in den Armen. Ich war im fünften Monat schwanger.

Die Schönheit meiner Mutter zog die Aufmerksamkeit anderer Menschen auf sich, projizierte Sehnsüchte und Eifersucht. Ihre asiatischen Gesichtszüge lösten fetischisierende Blicke aus. Manchmal behandelte man sie wie einen empfindlichen Gegenstand, fügsam und sanft. Dass sie von Natur aus ruhig war, machte die Sache nicht besser. Sie redete nur, wenn sie es für angebracht hielt, und sie durchschaute Menschen, die ihre Untätigkeit hinter ständigem Gequassel verbargen. Ich lernte, mich vor den Blicken anderer zu wappnen, indem ich beobachtete, wie sie sich wappnete. Sie spielte ihre Schönheit herunter. Sie schminkte sich nie, trug ihr dickes Haar kurz, zog übergroße Männersachen an, die nach Pferden stanken. Bei allem, was sie tat, war sie konzentriert und effizient, sie erledigte jede Arbeit zupackend und schnell und schob Leute, die sie nicht brauchte, wie Unrat beiseite. Wenn man sie schon mit einem Objekt verwechselte, dann wollte sie lieber ein Bulldozer sein – solide, undurchdringlich, kraftvoll. Sie sah ihr authentisches Ich in konkreten Aufgaben angesiedelt; die Wände ihres neutralen Raums waren mit Listen von Pflichten tapeziert.

Sie war bescheiden und gab nur einmal an. Ein einziges Mal.

Andrew, Wolfgang und ich kamen über einen Feiertag aus New York zu Besuch nach Kansas. Wir schlenderten mit meiner Mutter zur Weide und sahen zu, wie ihr Pferd Echo Klee zerriss und kaute. Sie fokussierte ihren Blick auf Echos Hals, und er hob aufmerksam den Kopf. Dann wandte sie ihren Blick auf seine ungeschützte Flanke, und er bewegte sich in eine andere Richtung. Er schaute sie an. Sie konnte ihn mit ihrem Blick völlig kontrollieren. Wir waren beeindruckt.

»Moment«, sagte sie. »Schaut euch das an.«

Wieder blickte sie auf Echos Hals, und er drehte den Kopf. Sie wedelte mit zwei Fingern und sagte: »Seite, Seite«, und Echo kreuzte seine Hufe und glitt seitwärts von ihr weg. »Komm wieder zurück«, sagte sie, und Echo kam seitwärts zu ihr zurück. »Verneige dich«, sagte sie, und Echo streckte höflich ein Vorderbein aus und neigte den Kopf. Sie war eine Pferdeflüsterin! Pure Magie. Als wir klatschten und johlten, huschte ein Hauch von Gefühl über das Gesicht meiner Mutter und sie lächelte fast, riss sich aber zusammen. Sie wurde rot und drehte uns den Rücken zu, aber es war zu spät, wir hatten es schon gesehen.