Im Zug nach Mailand schlafe ich ein und träume von Wolfgang. Es ist ein wiederkehrender Traum, immer derselbe, beginnend mit einem abrupten Nichts, einer Stille, die nicht die Abwesenheit von Klang ist, sondern das Gegenteil von Klang, eine hallende Leere, die mir sagt, dass etwas nicht stimmt. Ich horche nach meinem Sohn – seinem Weinen oder schweren Atem. Ich habe Angst, ihm könnte etwas passiert sein, und befürchte, dass sich meine Angst bestätigt. Ich versuche, zu seiner Zimmertür zu gelangen, schaffe es aber nie bis zum Ende des Flurs. In dieser Hinsicht ist der Traum gnadenlos, er hält mich fest, schwebend in grauem Licht, in Bewegung, ohne voranzukommen.

Ich wache vom Poltern und Kratzen von Koffern auf. Der Zug ist in Milano Centrale angekommen. Ich steige in einen Bus, der mich zu meinem Hotel bringen wird. Mailand sieht für mich aus wie Midtown Manhattan, grau und zielorientiert, eine Stadt voller Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Ich beobachte eine Frau, die im Power Walk die Straße überquert, und spüre, wie mein eigenes Selbstvertrauen durch die Beobachtung ihrer Entschiedenheit wächst. Sie sieht aus wie meine Mutter, nicht ihr Gesicht, sondern wie sie sich bewegt.

Ich checke in meinem Hotel ein und lege mich auf den rauen, zweckmäßigen Teppich. Ich bin steif und leicht beunruhigt wegen des bevorstehenden Ereignisses. Ich gehe meine Schmerzberechnungen durch. Ich müsste etwas essen, aber es gibt keinen Zimmerservice. Das nächste Café ist zwei Straßen entfernt, und ich bin mir nicht sicher, ob ich es mir leisten kann, die für den Weg nötige Energie zu verschwenden. Mir bleibt nur noch eine Stunde, dann muss ich nach San Siro aufbrechen. Ich weiß nicht, wie viel Gehen, Stehen und Durchhaltevermögen ich aufbringen muss, und während ich darüber nachdenke, werde ich panisch. Ich sehe nur noch Schmerz, der an dem näher rückenden Abend auf mich zukommt. Ich schalte den Fernseher ein und finde einen Kanal, auf dem gerade ein James-Bond-Marathon beginnt. Die Filme sind auf Italienisch synchronisiert und werden alle zehn Minuten durch Werbung unterbrochen. Der Hotelboden ist kühl und bequem. Auf dem Bildschirm jagt Bond Bösewichte durch Europa. Ich wünsche mir nichts mehr, als auf dem Rücken liegenzubleiben und gleichgültig Stunde um Stunde vorbeiflackern zu lassen.

Ich atme ein und finde meinen Platz im neutralen Raum. Dort kann ich meine Ängste loslassen und mich ganz auf die nächste Aufgabe konzentrieren, nämlich meine Wirbelsäule zu strecken. Ich gehe meine Drehbewegungen durch, zähle die Sekunden und bin froh, allein zu sein. Vor anderen würde ich mich gehemmt fühlen, nicht nur, weil ich lächerlich aussehe, sondern auch, weil es andere oft stresst, wenn sie meine schmerzverzerrte Miene sehen. Meistens wollen sie dann helfen, wissen aber nicht wie, und das irritiert sie, was alles nur noch erschwert. Es ist einfacher, meine Gefühle zu verbergen, und mit Wolfgang, der inzwischen fast sechs ist, bekommt dieses Verbergen eine neue Bedeutung. Ich will nicht, dass er sich Sorgen um mich macht oder meine Ängste übernimmt, und so schweige ich, um ihn zu schützen, allerdings oft vergeblich, weil er alles aufsaugt. Er beobachtet mich ganz genau, folgt mir überallhin, mustert geduldig mein Gesicht, klebt an meiner Seite und will, dass wir nie getrennt sind. Er nennt sich selbst meinen kleinen Schatten. Ich sehe auf die Uhr und stelle ihn mir zu Hause vor. Zeit fürs Bett, mein kleiner Schatten.

Ich nehme die U-Bahn bis zum Bahnhof Lotto und steige dann in eine Straßenbahn um, die mich zum San Siro bringt, dem größten Stadion Italiens. Auf dem Gelände ringsum hat sich ein kleines Geschäftsdorf angesiedelt. Händler rufen den Passanten aus ihren Kiosken zu und preisen ihre Waren an – T-Shirts, Hochglanzposter, Nippes, Schlüsselanhänger, Wasser in Flaschen, frittierte Snacks.

Ich beobachte einen Mann, auf der Jagd nach Käufern für seine geflochtenen Armbänder. Er pirscht sich durch die Menschenmenge, die durch die Stadiontore drängt. Er nähert sich einem jungen Mädchen, das ihn ignoriert, und während sie weitergeht, legt er ein Armband um ihren Ärmel, und die Fäden verfangen sich auf dem Stoff. Sie merkt nichts, bis er anfängt zu schreien. Er braucht die Aufmerksamkeit der Leute, er braucht die Augen anderer, damit sein Trick funktioniert. Immer wieder beschuldigt er das Mädchen des Diebstahls. Sie sieht sein Armband an ihrem Ärmel kleben und schreit, schüttelt ihren Arm, doch die dünnen Fäden bleiben haften. Der Mann diskutiert mit ihr, verlangt Geld. Das Mädchen wird rot vor Scham. Die Umstehenden beobachten die Szene. Das Mädchen schaut die Leute an und nicht ihn, und das verrät ihm, dass er sie an der Angel hat. Ihr Unwohlsein ist sein bestes Druckmittel. Er fährt fort, das Mädchen zu beschimpfen, und setzt alles daran, die Aufmerksamkeit der Menge zu gewinnen und die Demütigung des Mädchens ins Unerträgliche zu steigern. Die Menge wird größer, aber niemand sagt etwas. Alle starren nur, genau wie ich. Schließlich stößt das Mädchen einen zittrigen, wütenden Seufzer aus und gibt ihm einen Euro. Der Mann nimmt das Geld und verschwindet. Das Mädchen, nicht älter als vierzehn, hält seinen unfreiwilligen Kauf in die Luft, geht damit zum Abfallkorb und wirft ihn hinein.

Die Erde dampft. Weiße, heiße Luft, dick wie Klebstoff, steigt vom Asphalt auf und füllt meine Lunge, bis sie schmerzt. Ich zupfe mir mein schweißnasses Kleid vom Bauch und den Rückseiten meiner Beine. Mit der vorausahnenden Angst, mich selbst zu bestrafen, gehe ich in Richtung San Siro, eine massive Festung aus Stahl und Beton, und sehe bestürzt die langen Schlangen vor dem Stadion. Ich hatte mir vorgestellt, sofort zu meinem zugewiesenen Platz zu gehen und mich auszuruhen, aber noch wird niemand eingelassen. Ich überlege kurz, wieder zu gehen, aber ich fürchte die Scham und den Schmerz, die mich einholen werden, wenn ich mir ehrlich eingestehe, wie unerreichbar das Ganze für mich ist. Ich will nicht außen vor sein. Alle wirken unbekümmert. Ich höre Lachen und fröhliches Geplapper. Einen Moment lang sehe ich San Siro durch die Augen der Menschen ringsum, ein Bauwerk, gedacht für Vergnügen, Freizeit und Freude. Wir sind hier, um uns zu amüsieren.

Das Stadion fasst knapp achtzigtausend Menschen, von denen mich einer umstößt, als er an mir vorbeirast, um sich einen Platz in der Schlange zu sichern. Ich falle auf den Beton, schramme mir Hände und Knie auf. Zwei Frauen erscheinen, murmeln mir etwas auf Italienisch zu, packen meine Ellbogen und drücken sie an meine Seiten. Meine Mobilitätseinschränkung erfordert, dass ich beide Arme auf eine Weise einsetze, die sich anderen nicht erschließt. Und aufgrund der verminderten motorischen Kontrolle über meine Beine brauche ich meine Arme zum Ausbalancieren, wenn ich aufstehe oder Treppen steige. Die beiden Frauen zerren mich ungeschickt auf die Füße, sie wollen, dass ich stehe, aber weil sie mir den Gebrauch meiner Arme verwehren, erschweren sie mir genau das, was sie unbedingt erreichen wollen.

»Mir geht es gut«, sage ich. »Tutto bene, tutto bene

Ich versuche, die beiden Frauen abzuschütteln, worüber sie lachen.

»Tutto bene«, wiederhole ich, ohne meinen Frust zu verbergen, und die Frauen lachen noch lauter. Es ist rasend komisch, mich wütend zu sehen. Sie murmeln und lächeln und halten mich noch fester. Es passiert oft, dass meine Emotionen als nicht bedrohlich und kindisch empfunden werden. Meine Schüchternheit, meine geringe Größe und scheinbare Gebrechlichkeit sind für andere ein Grund, mich zu bevormunden und mir meine Handlungsfähigkeit abzusprechen.

Die Frauen setzen mich am Ende einer langen Schlange ab. Alle müssen warten, um ins Stadion zu kommen. Eine Welle der Niedergeschlagenheit überkommt mich, und mir wird übel. Mein Knie blutet. Vor mir steht eine Gruppe schicker Männer. Sie rauchen und trinken etwas aus Wasserflaschen, das nach Wodka riecht. Sie tanzen auf der Stelle und umarmen einander. Sie sprechen eine Sprache, die ich nicht verstehe, nicht weil es Italienisch ist, sondern eindeutig die Geheimsprache intimer Freundschaft. Einer sieht mich und zieht die Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln nach oben. Verschwitzt, rotgesichtig, blutend in einem feuchten Kleid – vermutlich sehe ich aus wie ein böses Omen. Er schaudert und zündet sich eine Zigarette an.

Ich werfe einen Blick in die Runde und sehe, dass andere Schlangen sich bewegen. Ich prüfe nochmals meine Eintrittskarte, um sicherzugehen, dass ich am richtigen Einlass zum Stadion bin. Der rauchende Italiener sieht meinen besorgten Blick und lächelt mitfühlend.

»Englisch?«, frage ich. Sein Lächeln wird breiter.

Ich zeige ihm meine Eintrittskarte und frage, ob ich in der richtigen Schlange stehe. Er nickt und zeigt dann auf die Stelle auf meiner Karte, aus der hervorgeht, dass ich keinen Sitzplatz habe, sondern einen Stehplatz in der Mitte des riesigen offenen Feldes im Stadion mit freier Platzwahl. Ich werde nicht sitzen können, sondern eingequetscht sein zwischen großen Menschen, ohne etwas sehen zu können.

Ein Bus steht auf dem Parkplatz hinter mir. Ich könnte einfach gehen, einsteigen und mich zum Hotel zurückfahren lassen. Neben Demütigung spüre ich Erleichterung. Tee, Heizkissen, Schmerztabletten; keine Schlangen, kein Stehen mehr, keine Fremden. Ich wollte eine Ausrede und habe sie bekommen. Dann sehe ich den Gauner mit den geflochtenen Armbändern auf dem Parkplatz umherstreifen, auf der Suche nach seinem nächsten Opfer, und mir kommt eine Idee.

Ich drehe mich der kühlen, höhlenartigen Unterseite des Stadions zu und gehe zu den Wachmännern an der Spitze der Schlange. Ich gehe langsamer, verstärke mein Hinken und starre die Wartenden in der Schlange an. Es ist wichtig, dass ihre Blicke mir folgen. Der rauchende Italiener und seine Freunde drehen sich neugierig um und sehen mich vorbeigehen. Im Näherkommen nicke ich den Wachmännern feierlich zu. Einer öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber seine Worte verflüchtigen sich, als er mich in seine Richtung und dann an ihm vorbeihinken sieht. Ich ducke mich unter der dünnen Kette am Tor durch, überquere die Schwelle und bin im Stadion, weg von der langen Warteschlange. Niemand sagt ein Wort zu mir. Ich gehe einfach weiter.

Zwei Monate vor meiner Ankunft in Mailand wiederholte ich mit meinem Abendkurs den Stoff für die Abschlussprüfung. Es war Ende Mai, ein paar Wochen nach dem Abend in der Bar mit Jay und Colin. Ich hatte beide seitdem nicht mehr gesehen, aber die Erinnerung an unser Gespräch ging mir immer noch durch den Kopf.

Ich stand an der Tafel und fragte meine Studenten, was sie noch von Descartes’ Meditationen wussten. Wir gingen zu Kant über, dann zu Hume. Wir hatten den Punkt erreicht, an dem die Studenten die Wanduhr über meinem Kopf beobachteten, statt auf das zu achten, was ich an die Tafel schrieb. Einige fingen an, ihre Taschen zu packen.

In diesem Moment platzte Sharon fluchend durch die Tür. Sie setzte sich in die erste Reihe. Ich hielt an der Tafel inne. Sharon war älter als meine anderen Studenten und ins College eingestiegen, um eine neue Karriere zu starten. Sie war perfekt geschminkt und trug einen Hosenanzug, einen von dreien, die sie im Wechsel trug. Sie kam oft zu spät, setzte sich nach hinten und schlief ein.

Zu Beginn des Semesters hatten wir uns mit Platons Höhlengleichnis beschäftigt, und ich hatte die Studenten um einen Essay gebeten, in dem sie analysieren sollten, worin Platon die Bürde des Wissens sieht. Sharon hatte daraufhin über ihren Umzug von Nigeria nach New York geschrieben, um bei ihrem Mann zu sein. Sie hatten drei Kinder, waren aber fünfzehn Jahre lang getrennt gewesen. Er hatte Nigeria verlassen, um in den Staaten als Fahrer zu arbeiten. Sechs Monate, nachdem sie ihm nach New York gefolgt war, verließ er sie und die Kinder.

Am Ende des Essays stellte sie eine Theorie auf, die in etwa so ging: Alle waren Idioten und versuchten immer wieder, allein aus ihren Höhlen zu kommen. Ich fand das interessant und schrieb Wow! an den Rand, zog ihr aber Punkte ab, weil sie den Gedanken nicht konkreter mit Platons Allegorie in Verbindung brachte.

Sharon zappelte auf ihrem Platz herum. Ich fuhr mit der Wiederholungsstunde fort. Sharons Handy klingelte, und sie ging nach draußen. Ich hörte sie schreien, ging zur Tür und spähte hinaus. Sie bewegte sich mit beängstigender Geschwindigkeit auf einen Spind zu und schlug dagegen. Ein metallisches Scheppern hallte durch den Flur. Ich ging in den Raum zurück und schloss die Tür.

Am Ende der Stunde war Sharon nicht zurückgekehrt. Ihr Rucksack stand verlassen da, ihre Autoschlüssel lagen auf dem Pult. Ich musste den Raum abschließen, wollte aber Sharons Sachen nicht in den Flur stellen und blieb deswegen länger, korrigierte Arbeiten und wartete. Die Minuten verstrichen. Ich starrte auf Sharons leeren Stuhl. Schließlich stand ich auf und sah im Flur nach, aber sie war nicht da. Und dann kam sie plötzlich angerauscht, drängte an mir vorbei und sammelte ihre Sachen ein.

»Ist alles in Ordnung, Sharon?«, fragte ich. Sie ignorierte mich. »Sharon?«, fragte ich erneut.

Der vordere Reißverschluss an ihrer Tasche hatte sich gelöst, und der Inhalt fiel heraus – Stifte, Bonbons, Make-up. Ich ging zu ihr, um ihr beim Einsammeln zu helfen, aber sie wischte meine Hand beiseite, als wollte ich etwas wegnehmen.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte nur helfen.«

»Ja, schon verstanden«, sagte sie. Dabei stolperte sie nach vorne und ihre Absätze rutschten ein wenig auf dem Linoleum aus. »Schon verstanden!«, wiederholte sie.

Sie verstaute rasch den Rest ihrer Sachen, richtete sich auf, ging zur Tür, drehte sich auf der Schwelle um und sagte über ihre Schulter: »Vergessen Sie nicht, mich als anwesend einzutragen.«

»Aber … nein«, sagte ich.

»Wie meinen Sie das?« Und schon war sie wieder zurück und stand so schnell vor mir, dass ich erschrak.

»Sie haben den ganzen Kurs verpasst«, sagte ich.

»Hab ich nicht«, sagte sie. Ihre Stimme hatte sich verändert, klang schrill. »Meine Sachen waren hier.«

»Aber Sie waren nicht anwesend.«

»Ich war anwesend. Sie haben meine Taschen gesehen, ich war da. Ich bin erschienen.«

»Hören Sie, es geht nicht darum, ob ich Sie als anwesend oder fehlend eintrage. Das wirkt sich nicht auf Ihre Note aus. Was zählt, ist die Tatsache, dass Sie die Wiederholungsstunde verpasst haben.«

»Aber ich war da. Ich war anwesend. Sie müssen mich als anwesend eintragen.«

»Man gilt nicht als anwesend, nur weil man erscheint, man muss tatsächlich anwesend sein

»Was soll das überhaupt bedeuten?«

»Mit Ihrem Verstand, Ihrer Aufmerksamkeit.«

»Glauben Sie, dass Sie das jemals erreichen?« Sie zeigte auf die Stühle, wo andere Studenten gesessen hatten und mich den ganzen Abend leer angeblinzelt hatten. »Hören Sie«, sagte Sharon. »Ich soll erscheinen und das bin ich. Ich stehe direkt vor Ihnen.«

»Ja, aber Sie müssen hier sein

»Machen Sie Witze?«, sagte Sharon. »Soll das ein verdammter Witz sein?« Ihre Stimme wurde noch lauter. »Ich bin doch hier. Ich bin anwesend. Ich bin –«

Sie verstummte, rührte sich nicht. Ich rührte mich nicht. Alles war still. Sie beugte sich herunter, bis ihr Gesicht auf einer Höhe mit meinem war. Sie war mir sehr nah, ihre Augen starrten in meine. Sie öffnete den Mund und schrie.

Es war Abend, nach neun, die Büros waren geschlossen, die Gänge leer, die Pförtner noch nicht im Dienst. Sharons Geschrei hallte durch den Flur, ihr Atem war nah, ihre Wärme, ihr pulsierendes Blut, die Adern in ihrem Gesicht; auch mein Blut pulsierte, meine Sinne schärften sich, der Raum wurde heller, mein Gehör wanderte hinaus auf den Gang, durch das Gebäude, in den Hof, und fand nichts und niemanden.

»Ich werde jetzt gehen, Sharon«, sagte ich und ging hinaus. Sie folgte mir und schrie mich an: »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Ich bin hier, ich bin doch hier.«

Ich ging nach draußen. Der Hof war dunkel und leer. Es regnete leicht.

»Sie können mich mal«, schrie Sharon.

Die U-Bahn war vier Blocks entfernt, dann drei, dann zwei.

»Sie können mich mal!« Sharon lief neben mir her. »Sie können mich mal, Sie Zwergin.«

Die Leute auf der Straße blieben stehen und starrten. Ein Mann kaum aus dem McDonald’s an der Ecke und sagte: Hey, hey, hob die Hände und hielt Sharon auf.

Zuhause rief ich sofort Kate an, die in Kansas lebte.

»Moment, was hat sie zu dir gesagt?«, fragte Kate am Telefon. Ich wiederholte die ganze Geschichte. »Oh, Jo«, sagte sie. »Jo« war ein alter Spitzname aus meiner Kindheit. Auch meine Mutter nannte mich Jo. »Wie hast du reagiert?«

»Gar nicht, ich bin einfach in die U-Bahn gestiegen.«

»Warst du sehr wütend?«

»Nein«, erwiderte ich, und irgendwie klang es falsch, aber es entsprach der Wahrheit. Ich hatte mich nur benommen gefühlt.

Leute, die mich kennenlernten, fragten oft: »Was ist mit dir passiert?« Es war schwieriger, sich vorzustellen, dass ich mit einer Behinderung geboren worden und nicht Opfer eines Unfalls oder einer Krankheit war. Das war eine Geschichte, die sie schon öfter gehört hatten. Jemand führt sein Leben und dann schlägt das Unglück zu. Viele Erzählungen über Behinderung folgen diesem Schema; die Protagonisten haben ein Vorher, in dem sie normal waren, und ein Nachher, in dem sie es nicht mehr sind. Aber ich hatte immer nur diesen Körper gehabt, meinen normalen Körper. Mein Selbstverständnis wurde im Bewusstsein der Wahrnehmung anderer geformt, immer in Erwartung der Veränderung ihrer Einstellung mir gegenüber und des Augenblicks, wenn die Akzeptanz eintrat und das Unwohlsein ablöste. Bei manchen stellte sich die Akzeptanz rasch ein, bei manchen nie, aber ich sehnte mich immer danach.

Wenn ich wütend wurde, dauerte dieser Übergang länger. Wenn ich mich still verhielt, zurückzog und wartete, fühlten sich die Leute weniger bedroht, gewöhnten sich schneller an mich und dann konnten wir anfangen zu kommunizieren. In seinem Aufsatz The Handicapped schreibt der Autor Randolph Bourne über seine eigene Erfahrung mit Behinderung: »… die Türen des deformierten Menschen sind immer verschlossen, und der Schlüssel steckt außen.« Er fährt fort: »Er mag Schätze an Liebenswürdigkeit in sich vereinen, aber sie werden nie geborgen, solange die Person draußen nicht mit ihm zusammenarbeitet und die Tür aufsperrt. Ein Freund wird, weit mehr als beim gewöhnlichen Menschen, zum unverzichtbaren Mittel, um die eigene Persönlichkeit zu entdecken. Man existiert gewissermaßen nur mit Freunden.«

Kate wusste über den Abend in der Bar mit Colin und Jay Bescheid. Sie war mein ganzes Leben lang meine beste Freundin, und wir redeten über alles. Da wir uns schon so lange kannten, hatte es keinen Wechsel zwischen vorher und nachher gegeben. Wir waren schon immer zusammen gewesen. Die Jahre hatten uns auf unseren Wesenskern reduziert, sie war für mich Kate und ich war nur ihre Jo. Wenn ich ihr Geschichten erzählte, wie Leute manchmal auf meine Behinderung reagierten, brauchte sie einen Moment, bis ihr einfiel, dass ich überhaupt einen Körper hatte, der bestimmte Reaktionen hervorrufen könnte.

Ich bat sie, diesen Aspekt unserer Freundschaft zu beschreiben, und sie sagte: »Manchmal kommt es mir verrückt vor, aber gefühlt kenne ich dich seit dem Tag deiner Geburt. Es gibt dich, so lange meine Erinnerung zurückreicht. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Mein Bewusstsein ist ohne dich nicht vorstellbar. Ich schätze, das versteht man unter Familie.«

In der folgenden Woche erschien Sharon pünktlich zur Abschlussprüfung und saß in der ersten Reihe. Sie beendete ihr Examen ohne ein Wort und marschierte zur Tür hinaus, und ich dachte: Tja, das ist vorbei. Ihren Test korrigierte ich zuerst. Sie bestand ihn mit »sehr gut.«

Am Tag, nachdem die Noten gepostet wurden, überprüfte ich meine Mails und sah Sharons Namen fettgedruckt hervorstechen. Ich wartete den ganzen Tag, ehe ich die Nachricht öffnete. Sie schrieb: Ich muss Sie sehen, Frau Professorin! Wir müssen uns treffen. Es ist wichtig!

Ich senkte den Kopf in meine Arme, die gekreuzt vor mir auf dem Tisch lagen. Ich öffnete die Augen in dem kleinen Raum zwischen mir und der harten Oberfläche und ging meine Optionen durch.

Andrew hustete. Ich blickte zu ihm hoch. Er hielt Wolfgang im Arm.

Er sagte: »Wir gehen mit dir.«

Ich schrieb Sharon, sie könne mich in dem großen Büro treffen, das den Assistenten vorbehalten war. Ich wählte den Tag und die Uhrzeit, an dem vermutlich am meisten Betrieb war, doch als ich ankam, war der Raum leer. Das Semester war vorbei, alle waren in den Sommerferien. Ich schaltete sämtliche Lichter an. Andrew und Wolfgang blieben draußen, um Fangen zu spielen. Ich sah sie aus dem Fenster. Ich breitete meine Sachen aus, damit ich nicht so einsam wirkte, stellte meine Tasche auf ein Pult, meinen Kaffeebecher auf ein zweites und setzte mich an ein drittes. Als ich Schritte hörte, ging ich zur Tür und sicherte sie besorgt, damit sie offen blieb. Die Schritte kamen näher. Sharon trat in den Raum, hielt irgendetwas unter dem Arm und schloss die Tür hinter sich.

»Hallo«, sagte sie leise.

»Hallo«, erwiderte ich.

»Das ist für Ihren Sohn«, sagte sie und reichte mir eine in Papier eingewickelte Schachtel.

»Hatte ich Ihnen erzählt, dass ich einen Sohn habe?«

»Sie bringen ihn im Kurs ständig zur Sprache.«

»Tatsächlich?«

»Wolfgang«, sagte sie.

»Ja, richtig«, erwiderte ich und stellte die Schachtel ab.

»Frau Professor«, setzte sie an und machte dann eine lange Pause. Sie konnte mich nicht ansehen, und ich konnte sie nicht ansehen. Mein Blick war auf das Fenster hinter ihr gerichtet. Ich wünschte mir ein Geräusch, ich stellte mir ein Geräusch vor, ich sehnte mich nach einem Geräusch, das mich durch die zu dicken Glasscheiben nicht erreichen würde – ich wollte meinen Sohn hören, glücklich, lachend, im Gras vor meinem Fenster wild umherrennend. Dieser Wunsch hatte eine stumpfe Kraft, die mich umhaute.

Sharon sagte: »Ich habe mit meinen Kindern geredet. Sie sind sauer auf mich.«

Sie wartete, wollte mir Raum zum Sprechen geben, wenn ich es wollte.

Sie sagte: »Wie ich Sie genannt habe. Was ich gesagt habe.«

»In Ordnung, Sharon.«

»Es tut mir unendlich leid.« Ihre Hände lagen auf ihrem Schoß.

»In Ordnung, Sharon.«

»Hassen Sie mich?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte ich. Ich wusste nicht, wie ich mit ihr sprechen sollte oder wie ehrlich ich sein konnte. Sie war nicht mehr meine Studentin. Ich hatte ihre Abschlussnote abgegeben, und sie hatte meinen Kurs bestanden. Keine Ahnung, wo wir jetzt standen.

Sharon sah mich an, als könnte sie genau diesen Gedanken lesen. Vielleicht spürte sie die angespannte Neutralität in meiner Stimmung. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so die Steifheit zwischen uns auslöschen.

»Frau Professor«, sagte sie leise. »Ich möchte es erklären.«

»Sie müssen nicht –«

»Ich war von einer Sache überwältigt und dachte nicht, dass ich es überhaupt zum Kurs schaffen würde.«

»Das spielt jetzt keine Rolle mehr.«

»Es tut mir leid, wie ich Sie genannt habe.«

Die Erinnerung kehrte nicht in Form eines Gedankens zurück, sondern als Hitze, die sich hinter meinen Augen ausbreitete, als Enge in meiner Kehle.

»Das Wort, das Sie benutzt haben. Wissen Sie, warum es beleidigend ist?«

»Nein«, sagte Sharon.

Ich überlegte, wie viel Belehrung ich ihr schuldig war.

»Schlagen Sie es nach«, sagte ich.

»Es tut mir leid, unendlich leid.«

»Danke, Sharon. Das Semester ist vorbei. Schauen wir nicht zurück.« Ich sah wieder aus dem Fenster. Ich war gekränkt und erschöpft und hatte keine Lust, diese Unterhaltung auch nur eine Minute länger als nötig fortzusetzen. Ich schuldete ihr vielleicht meine Professionalität, aber nicht mein Mitgefühl. Ich stählte mich gegen ihre Worte, zog mich von ihr zurück.

»Darf ich es Ihnen erklären?«

»Bitte, mir wäre lieber, Sie täten es nicht.«

»Es war ein so hartes Jahr gewesen«, sagte Sharon.

»Das tut mir leid«, sagte ich. »Sie waren gerade aus Nigeria gekommen, oder?«

»Ghana.«

»Oh, haben Sie in Ihrem Essay nicht geschrieben, dass Sie aus Nigeria kommen?«

»Alles dasselbe, nicht wahr?«

»Nein –«, begann ich abwehrend.

»Schon okay«, sagte sie.

»Tut mir leid. Mein Fehler. Ghana.«

»Ja.«

»Sind Sie mit drei Kindern hierhergekommen?«

»Ja. Ich kam, um bei meinem Mann zu sein, aber er wollte nicht bei mir sein.«

»Das muss hart gewesen sein«, sagte ich.

»Es ist kompliziert, aber für alle das Beste. Er war sehr unglücklich. Er trank ständig und verschwand tagelang. Er musste uns verlassen, um herauszufinden, wer er außerhalb der Erwartungen seiner Familie wirklich war. Inzwischen sind wir alle viel glücklicher. Er ist seinen Kindern ein besserer Vater. Aber das war nicht der Grund, warum ich an dem Tag verletzend und grausam zu Ihnen war. Sie tun mir wirklich leid und ich möchte nicht gemein zu jemandem wie Ihnen sein.«

»Ich tue Ihnen leid?«

»Für das, was Sie durchmachen.«

»Sie tun mir leid für das, was Sie durchmachen.«

»Weil ich keinen Mann habe?«

»Nein, nicht deswegen.«

»Warum dann?«

»Eigentlich weiß ich es nicht. Was Sie beschreiben, klingt einfach schwierig.«

»Bitte!«, sagte sie mit einem Hauch von Empörung. »Haben Sie kein Mitleid mit mir. Mir geht es gut.«

»Schön«, sagte ich. »Mir geht es auch gut.«

»Okay, dann geht es uns beiden gut. Verstanden«, sagte Sharon.

Draußen veränderte sich das Licht. Durch das große Erkerfenster hinter Sharon sah ich, wie es von Blau zu Gold zu Grün mutierte. Smaragdfarbene Wolken fächerten sich schimmernd am Himmel auf wie Pfauenfedern. Ein Sommergewitter braute sich zusammen. Ich dachte an Andrew und Wolfgang irgendwo unter einer Markise. Und dann dachte ich an gar nichts mehr. Ich tauchte tief in meinen neutralen Raum ein. Ich betäubte mein Innenleben, bis ich sicher war, dass ich den Rest dieser Begegnung als bloße Oberfläche überstehen würde. Es war richtig. Rückzug aus der Intensität eines gegenwärtigen Moments konnte eine Form des Handelns sein, die oft mit Passivität verwechselt wurde. Ich war verärgert, meine rechte Hüfte pochte, mein Rücken war steif, die Erinnerung an Sharons Beleidigung war frisch, meine eigenen Tränen bedrohten mich, meine Vergangenheit bedrohte mich; der Vorfall mit Sharon war aufgeladen mit Vergangenheit, mit all den grausamen Worten, die andere vor ihr zu mir gesagt hatten. Deshalb war ich starr und wachsam. Ich legte eine Distanz zwischen uns, damit ich meinen Schmerz nicht auf sie übertrug.

Sharon beobachtete mich geduldig, suchte in meinem Gesicht. Unsere Blicke trafen sich. Sie sagte nichts. Es dauerte eine Minute, bis ich merkte, was passierte. Sie spürte, dass ich mich weigerte, mit ihr ein Gespräch zu führen, und sie war bereit, mir alle Zeit zu geben, die ich für die Entscheidung brauchte, ob ich diese Weigerung aufheben und mit ihr reden konnte. Die Zeit verstrich, und ein Gefühl der Ruhe stellte sich zwischen uns ein, aber Sharon versuchte nicht, uns durch diesen Moment zu hetzen. Ich empfand das als großzügig von ihr.

»Frau Professor«, sagte Sharon, »darf ich erklären, was passiert ist?«

»Ja.«

»Ich war sehr wütend, weil ich vor kurzem bei einem Beyoncé-Konzert war.«

»Was?«, sagte ich.

»Ja.« Sie lachte ein wenig.

»Beyoncé?«

»Genau.«

»Erzählen Sie weiter.«

»Ich war bei ihrem Konzert. Sehen Sie« – Sharon holte ihr Handy heraus und zeigte mir ein verschwommenes Bild, auf dem sie dastand und strahlte wie die Sonne. Ihr Haar hing in losen Locken herab. Verschwunden waren die Hosenanzüge aus Polyester, die sie im Kurs trug. Auf dem Bild trug sie ein enges schwarzes Kleid, Absätze und einen glitzernden Goldgürtel. Drei Frauen in ähnlich schillernden Outfits standen bei ihr, auch sie wunderschön. Sie waren, erklärte mir Sharon, mit zwei Zügen und einem Bus zum MetLife Stadion in New Jersey gefahren. Sie erzählte auch von den vielen Stufen, die sie in ihren hohen Schuhen zu ihrem Platz hochsteigen musste. Und dann blickte sie auf die Bühne hinunter, und da war Beyoncé.

»Ich war überglücklich«, sagte Sharon. »Ich konnte nicht aufhören zu weinen!«

Sie und ihre Freundinnen hatten sich aneinandergeklammert und bei jedem Song den Text mitgesungen.

»Man muss sie gesehen haben«, sagte Sharon, und ihre Stimme wurde lauter. »Man muss sie erlebt haben. Es ist eine Erfahrung. Es ist die Erfahrung. DIE BEYONCÉ-ERFAHRUNG

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück.

»Verstehen Sie? Nein, nein, natürlich nicht.« Sharon machte eine wegwerfende Handbewegung. »Man kann das unmöglich verstehen, wenn man nicht dabei gewesen ist. Ich hatte großes Glück, sie leibhaftig zu sehen.« Sharon beugte sich vor, sie wirkte ein wenig verlegen. »Frau Professor«, sagte sie. »Glauben Sie an Erscheinungen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Glauben Sie daran, dass eine göttliche Stimme zu Ihnen sprechen kann?«

»Nein«, sagte ich, was ich für wahr hielt, aber vielleicht war es das nicht. Vielleicht glaubte ich doch an Erscheinungen und göttliche Stimmen. Mein Onkel Jon – der Mann meiner Tante Georgeanne – hatte mir mal eine Geschichte erzählt, wie er die Toilette in seinem Haus reparieren wollte, dabei einen kostspieligen Fehler machte und die Rohrleitungen schlimm beschädigte. Er saß im Bad auf dem Fußboden, der ziemlich nass wurde, und weinte. Er erschrak selbst darüber, wie heftig er weinte. Es war ein Moment, in dem Vergangenheit und Gegenwart aufeinanderprallten und jedes einzelne Scheitern vor seinem inneren Auge erschien, als wäre es gerade passiert. Eine Welle unerwarteter Verzweiflung überrollte ihn, er wusste nicht, was er tun sollte, und dann hörte er eine Stimme. Mein Onkel Jon ist ein sehr praktisch denkender, systematischer Mensch, der nicht zu religiösen oder mystischen Gefühlen neigt. Deshalb kam es ihm sehr bedeutsam vor, als er weinend auf dem Boden neben seiner kaputten Toilette eine Stimme in seinem Kopf hörte.

Die Stimme sagte ruhig, aber fest: Also. Was hast du jetzt vor?

Er richtete sich auf und sagte sich: Ich werde diese Toilette reparieren.

Und dann machte er sich an die Arbeit.

Sharon sagte: »Als ich bei dem Konzert war und sie beobachtete, hörte ich eine Stimme in mir, die sagte: Schau sie dir gut an. Das tat ich, und ich sah eine Frau, die genau wusste, wohin sie gehörte. Das war ihr Raum. Ich konnte mir nie vorstellen, mit Sicherheit sagen zu können, wohin ich gehörte und wo mein eigener Platz war, doch in dem Moment konnte ich es mir vorstellen, weil sie da war und mir zeigte, wie es aussah.«

Sharon schniefte. Ich reichte ihr ein Taschentuch, sie schnäuzte sich. Ich lächelte verhalten. Irgendetwas hinderte mich daran zu verstehen, was sie mir wirklich sagen wollte.

»Eigentlich wollte ich an dem Abend überhaupt nicht in Ihren Kurs gehen. Ich war nicht wütend auf Sie, aber Sie haben die Wut in mir ausgelöst. Es war dumm, mit Ihnen zu diskutieren, wann jemand als anwesend zählt. Ich hätte mich fragen sollen: Wohin gehöre ich? Was sollte ich eigentlich machen? Was braucht es, um sich in einem Moment sicher zu fühlen?«

Ich nickte, ohne zu wissen, was ich sagen sollte.

»Am Montag nach dem Beyoncé-Konzert«, fuhr Sharon fort, »meldete ich mich für Gesangsunterricht an. Und ich dachte: Vielleicht schmeiße ich das Studium, vielleicht ist das der letzte Kurs, den ich durchhalte. Aber dann klingelte mein Handy. Meine Tochter hatte den Familienvan zu Schrott gefahren und sich den Arm gebrochen. Es geht ihr gut, sie hatte großes Glück. Die Krankenhausrechnungen werden sehr teuer sein. Jedenfalls kein Gesangsunterricht. In dem Moment hatte ich das Gefühl, dass ich meine Chance verpasst hatte, einen neuen Weg einzuschlagen, was nicht stimmt, aber es hat sich so angefühlt. Ich war gekränkt. Und aus diesem Gekränktsein schrie ich Sie an.«

Auf unserer Zugfahrt nach Hause gab ich Wolfgang Sharons Schachtel. Er öffnete sie. Ein Spielzeuglaster. Alle drei starrten wir schweigend den Laster an, als wäre er ein Gegenstand aus einer unbekannten Zivilisation. Dann fing ich etwas zu laut an, sämtliche Gründe aufzuzählen, weshalb ich nie auf ein Beyoncé-Konzert gehen wollte. Andrew hörte zu und beobachtete mich genau. Letztlich verwarf ich es als unbezahlbar, worauf Andrew den Kopf schüttelte und mich sanft daran erinnerte, dass ich mir aufgrund meiner kürzlichen Beförderung zum ersten Mal in meinem erwachsenen Leben ein Konzertticket kaufen könnte, ohne in Panik zu geraten.

»Na ja, trotzdem glaube ich nicht, dass ich bei einem Popkonzert irgendwelche Erscheinungen hätte«, sagte ich spöttisch.

»Vielleicht, vielleicht nicht«, sagte Andrew.

»Wenn ich mir ihre Musikvideos ansehe, verstehe ich das Wesentliche der Erfahrung

»Manchmal bist du so ein Snob«, sagte Andrew. »Mir war das nicht klar.«

»Was genau war dir nicht klar?«

»Wie gern du gehen würdest.«

»Hörst du mir eigentlich zu?«, rief ich.

»Natürlich«, sagte er. »Sehr gut sogar.«

Aber ich wollte nicht zu einem Beyoncé-Konzert, oder vielleicht verwechselte ich Angst mit Vorliebe. Ich hatte Sharon zugehört, als sie mir ihre Erfahrung erklärte, aber nicht genau genug. Ich hatte mich von unserem Gespräch abgespalten, als hätte ich es vom Flur vor meinem Büro aus gehört. Ich stellte mir ihren Weg zum Stadion vor. Zwei Züge und ein Bus, hatte sie gesagt. Dann der Fußweg, das Stehen, die Treppen, stundenlanges Sitzen auf harten Plastiksitzen, ohne sich strecken zu können. All das würde meinem Körper zu viel abverlangen. Man muss sie gesehen haben, hatte Sharon gesagt. Man muss sie erlebt haben. Es ist DIE ERFAHRUNG. Aber ich konnte nicht gehen. Die Stätte der Erscheinung, für mich unzugänglich.

Mein vertrauter Verteidigungsmechanismus setzte ein: Ich fühlte mich überlegen und zog mich in die Theorie zurück. Ich konnte mir einreden, dass ich, was Geschmack und Intelligenz anging, über der Erfahrung eines Popkonzerts stand. Alles, was so viel Anziehungskraft hat, muss definitionsgemäß unzureichend sein – nur oberflächliches Vergnügen oder was der britische Philosoph Bernard Bosanquet als einfache Schönheit bezeichnete.

Einfache Schönheit war offensichtlich und anspruchslos: »Eine schlichte Melodie; ein schlichter räumlicher Rhythmus … eine Rose; ein jugendliches Gesicht oder die menschliche Gestalt in ihrer Blütezeit, all das erzeugt ein einfaches, unkompliziertes Vergnügen …«

Schwierige Schönheit hingegen, schrieb Bosanquet, erfordere mehr Zeit, Geduld und ein höheres Maß an Konzentration. Unsere Fähigkeit, schwierige Schönheit wertzuschätzen, hing von unserer Bildung, Ausdauer, Aufmerksamkeitsspanne und unserem Verständnis ab. Bei schwieriger Schönheit stoße man oft auf Kompliziertheit, Spannung und Weite. Die Kompliziertheit eines schwierigen ästhetischen Objekts kann Unmut und Abneigung in uns auslösen, wenn wir nicht in der Lage sind, die komplexen Elemente des Objekts zu erkennen und einzuordnen. Schwierige Schönheit verlange außerdem, in einem »Zustand hoher Gefühlsspannung« zu bleiben, und es sei unsere eigene Schwäche – die »Schwäche der Betrachter«, sagte Bosanquet in Anlehnung an Aristoteles –, die uns vor der Herausforderung schwieriger Schönheit zurückschrecken lässt. »Die Fähigkeit, Gefühle in hoher Spannung zu ertragen und zu genießen, ist ziemlich selten.«

Eine eingängige Melodie, unmissverständlicher Text, den alle mitsingen können, ein bisschen Glitter, Lichter, Spektakel – das war meine Vorahnung von der Beyoncé-Erfahrung. Stumpfe, triumphierende, einfache Schönheit. Eine nette Erfahrung, klar, aber keine, bei der ich meine Offenbarung finden würde! Trotz alledem behielt ich ihre Tourdaten im Auge, lief gelegentlich durch unsere Wohnung und erklärte laut, dass ich kein Interesse hatte, eins ihrer Konzerte zu sehen.

Im Juni, am Morgen meines Geburtstags, wachte ich auf, und Andrew und Wolfgang waren weg. Ich lief allein durch die Wohnung. Zwei gegensätzliche Gefühle wetteiferten in mir, und gerade als ich sie benennen wollte, öffnete sich die Tür. Andrew und Wolfgang brachten Kaffee und Gebäck.

Andrew sagte: »Happy Birthday. Willst du ein Geschenk?«

»Ein Geschenk für mich?«

Andrew zeigte mir etwas auf seinem Handydisplay.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Ein Ticket.«

»Wofür?«

»Für ein Beyoncé-Konzert.«

Ich war verwirrt. Ihre Tournee durch New York war gerade vorbei. Er zeigte mir den Rechnungsbeleg auf seinem Handy. Das Konzert war in Mailand. Er hatte unsere Kreditkartenmeilen eingelöst und mir einen Flug gekauft. Andrew fand, ich müsse weg, um allein etwas herauszufinden, ohne Familie.

Bosanquets dritter Begriff »Weite« ist abstrakter. Er schreibt, dass schwierige Schönheit die Fähigkeit hat, uns zu stören und zu verwirren, indem sie unsere vertrauten Denk-, Verhaltens- und Seinsweisen untergräbt. Unser kleines Haus der Selbstgefälligkeit besteht aus Gewohnheiten, und schwierige Schönheit überflutet dieses Haus und zwingt den Betrachter, »eine Art Auflösung der konventionellen Welt [zu] ertragen«. Um an dieser Auflösung Gefallen zu finden, bedarf es ungewöhnlicher Kraft, denn es ist nicht immer angenehm, wenn einem vor Augen geführt wird, wie klein und albern das eigene Haus der Selbstachtung angesichts größerer und wichtigerer Dinge, also fast allem, ist. Genau das zeigt schwierige Schönheit auf sehr pointierte Weise. Um sich dem zu stellen und es als Schönheit zu erkennen – während die eigene Sichtweise und die bekannte Welt sich auflösen –, muss man laut Bosanquet lernen, »in alldem eine Befreiung [zu] fühlen; es ist ein wenig wie Urlaub in den Bergen oder eine Reise ans Meer; der gewohnte Maßstab verändert sich, und man selbst entpuppt sich vielleicht als unbedeutendes Insekt oder Moralapostel«.

In den Eingeweiden des Stadions von San Siro herrscht reges Treiben. Mit Bühnenequipment beladene Plattformen rollen vorbei. Konzessionsstände leuchten auf. Arbeiter wischen Theken ab. Ich gehe so ruhig wie möglich ins Stadion. Vor mir ist eine Gruppe sehr offiziell aussehender Menschen versammelt. Sie tragen Walkie-Talkies und Ausweise an Tragebändern und blockieren einen Durchgang, der in die offene Arena des Stadions führt. In der Nähe des Durchgangs sind Kisten mit Wasserflaschen gestapelt. Ich gehe hin, nehme eine Flasche und trinke. Niemand hält mich auf.

»Scusi«, sage ich. Die Leute blicken auf mich herab und machen dann Platz, um mich durchzulassen. Im Stadion winkt ein Wachmann und fragt mich etwas auf Italienisch.

»Englisch?«, frage ich.

Er wackelt mit der Hand, um mir ein Geht so zu signalisieren.

In Zeichensprache gibt er mir zu verstehen: Dies ist eine Sperrzone, und ich brauche ein Armband, um reinzukommen.

Ich nicke begeistert.

Mit fragendem Blick umschließt er sein Handgelenk.

»Tutto bene«, sage ich und nicke, als antworte ich auf eine Frage, die nur ich hören konnte.

Er neigt den Kopf. Ich nicke wieder. Dann warten wir. Wir sind in einer Sackgasse. Wieder umschließt er sein Handgelenk, zeigt auf meines und fragt: »Wo?«

Langsam hebe ich meine Handtasche hoch, ziehe den Reißverschluss auf und spähe hinein wie in einen tiefen Brunnen. Mein Auftritt beginnt. Seelenruhig wühle ich mich durch Papierschnitzel, Zugfahrkarten, Notizen, Quittungen. Ich blättere jede Seite eines Notizbuchs durch. Ich grabe Münzen, Flusen, ein Spielzeugauto von Wolfgang aus. Ich blicke zu dem Wachmann hoch und lächele einen Tick zu lang. Die anderen Leute in der Nähe müssen auf mich aufmerksam werden und die Szene beobachten, sonst funktioniert der Trick nicht. Ich lächle und lächle und halte Augenkontakt, bis der Wachmann es nicht mehr aushält und anfängt, die anderen hinter mir besorgt anzusehen. Daraufhin treten sie näher. Niemand weiß, was er von mir halten soll. Niemand weiß, wer ich bin. Ich muss dafür sorgen, dass ihr Unbehagen einen Moment länger anhält, als es erträglich ist. Die Leute betrachten mich mit einer Spannung, die in Abscheu kippen könnte. Mein Körper ist ein Objekt, das »die Schwäche der Betrachter« enthüllen könnte. Und wenn ich das weiß und es akzeptiere, kann ich diese Schwäche ausnutzen.

»Armband«, sagt jemand hinter mir.

»Armband«, wiederhole ich.

»Armband«, sagt der Wachmann.

»Armband«, wiederhole ich. »Ich weiß nicht. Weiß nicht, weiß nicht, weiß nicht.«

Wenn man behindert ist und sich in der Öffentlichkeit bewegt, lernt man immer wieder eine Lektion: Die Menschen wollen, dass alles seine Richtigkeit hat. Um zu bekommen, was ich will, muss ich nur die Rolle des verwirrten kleinen Krüppels spielen. Mich zu schikanieren wird nicht richtig aussehen. Der Wachmann sucht Hilfe in der versammelten Menge. Ein Fehler, der mir in die Hände spielt. Jetzt hab ich ihn.

»Ist in Ordnung.« Der Wachmann beugt sich zu mir herunter und sieht mir in die Augen. Er ist unglücklich, und das ist mein bestes Druckmittel. Hinter mir atmet jemand ein. Alle sind angespannt. Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange, um nicht zu lachen. »Sie haben es verloren. Ist in Ordnung«, sagt er, bindet mir ein VIP-Armband ums Handgelenk und schickt mich weiter.

Als ich als Kind merkte, was meine Behinderung für andere bedeutete, dachte ich: Ich sollte anfangen, bei den Pfadfinderinnen zu stehlen.

Für unsere Leiterin war es sehr wichtig, dass wir mehr Kekse verkauften als unsere rivalisierenden Gruppen. Von den Treffen schickte sie uns mit Kopien von Veranstaltungsterminen nach Hause: Football-Heimspiele an der Highschool, Konzerte, Aufführungen, sonntags Gottesdienst in der Kirche und dienstags AA-Treffen. Unter jede Veranstaltung schrieb sie die Namen der Mädchen mit bestimmten Aufträgen. Mir fiel auf, dass mein Name auf dem Kalender fehlte. Als ich sie darauf hinwies, umarmte sie mich und sagte, es sei in Ordnung, wenn ich die Kekse nur an meine Nachbarn und Familienangehörigen verkaufte.

Wir gaben unsere Bestellscheine ab und holten die Kekse eine Woche später ab, um sie an unsere Käufer zu verteilen. Als ich meine bekam, sah ich sofort, dass ein Fehler vorlag. Man hatte mir mehr Schachteln zum Ausliefern gegeben, als ich bestellt hatte. Ich erzählte es unserer Leiterin, worauf sie dünn lächelnd sagte, ich sollte ein paar übrighaben. Nur für den Fall. Ich fragte die anderen Mädchen, ob sie nur für den Fall zusätzliche Schachteln bekommen hatten, was sie verneinten.

Nachdem ich meine Bestellungen ausgeliefert hatte, hob ich die übriggebliebenen Schachteln auf und versteckte sie in meinem Schrank. Ich setzte mich hinein, schloss die Türen und aß die überschüssigen Kekse auf.

Unsere Gruppenleiterin fragte mich, wie es gelaufen sei und ob ich Hilfe brauche. Ich sagte nein, aber sie wirkte nicht überzeugt. Sie gab mir noch mehr Schachteln, nur für den Fall. Dann zog sie mich an sich und drückte mich unangenehm an ihre Brust.

»Gott hat dir so viele Herausforderungen gegeben, aber er hat auch dafür gesorgt, dass wir uns begegnet sind, damit ich dir helfe.« Sie ließ mich los, ihr Gesicht sah nass aus. »Meine Tochter und ich machen uns ständig Sorgen um dich, Liebes, aber eigentlich bist du eine Inspiration für uns alle.«

Sie umarmte mich, als wäre ich der Aufbewahrungsort für alles Pech der Stadt, und weil ich es auf mich genommen hatte, war die Stadt frei, war ihre Tochter frei. Einige Leute glaubten, dass das geballte Pech in der Welt ein Zuhause suchte, und weil es mich erwählt hatte, blieben sie verschont. Solche Leute zeigten mir ihre Version der Dankbarkeit. Ich half ihnen zu sehen, wie frei sie selbst waren. Ich war der dunkle Regen, der, sobald verschwunden, den hellen, sauberen Morgen zurücklässt.

Der Begriff »Behinderung« half mir nicht, mich zu verstehen, vielmehr war er ein Werkzeug, um die seltsamen und verwirrenden Momente zu entschlüsseln, in denen Fremde mich ansahen und entschieden, wer ich war und was ich tun konnte. Die Menschen sahen den Unterschied zwischen ihrem Körper und meinem. Sie sahen Abwesenheit, Mangel. Aber ich, die seit jeher in diesem Körper wohnte, spürte keinen Mangel. Treppensteigen fühlt sich an wie Treppen steigen. Gehen fühlt sich an wie gehen. Vermutlich sieht es komisch aus für die, die mich beobachten. Es sieht geringer aus. Aber ich hatte keinen Grund, mich geringer zu fühlen. Dafür brauchte es Lektionen, für die ich viele willige Lehrer hatte.

Menschen schaffen Räume, die ich nicht betreten kann, und lehren mich, wie vergessen und ausgeschlossen ich vom »wirklichen Leben« bin. Ich wurde angestarrt, aber nicht gesehen. Ich stand sowohl in als über der Welt, ich sah aus der Ferne, mein Bewusstsein formte sich aus der Distanz.

Ich schämte mich, wenn man mich ausschloss, als hätte man mir eine ungewöhnliche Strafe auferlegt und ich wüsste nicht, wofür ich sie eigentlich verdiente. Aber die Zwillingsschwester meiner Scham war meine selbstgerechte Abneigung gegen körperlich gesunde Menschen, für die ich nicht real war, die sich nicht bemühten und es vorzogen, mich auf Distanz zum wirklichen Leben zu halten. In der Politeia gliedert Platon die Bürger in Stände, an deren Spitze die Philosophen stehen, deren vergebliches Bemühen, die Trennung zwischen Erfahrung und Wahrheit zu verringern, sie nobel machte. Durch Platons Brille konnte ich meine Trennung von anderen als ehrenvolle Auszeichnung betrachten. Ich konnte diese Theorie als Schild benutzen. Nicht von der Welt sein war genau das, was mich besser machte, weiser, eine Philosophin, meine Seele Gold und die der anderen Eisen. Solche Theorien enthielten per se eine Überlegenheit, und sobald ich sie verinnerlicht hatte, hob sie mich empor und bewahrte mich vor weiterem Abstieg. Verurteilung wurde ein starkes Gegenmittel zur Verzweiflung. Ich dachte: Wenn ich schon mit Abstand existieren muss, dann von oben.

Ich fing an, die zusätzlichen Schachteln mit den Pfadfinder-Keksen zu verkaufen. Den Gewinn steckte ich ein. Schon bald stellte ich fest, dass ich mehr verdiente, wenn ich die Schachteln öffnete und eine Auswahl von drei verschiedenen Sorten in eine Sandwichtüte umpackte. Ich nannte sie »Sonderpackungen« und verkaufte sie mittags an meine Klassenkameraden.

Im dritten Jahr erfand ich zusätzliche Käufer auf meinen Bestellscheinen. Je mehr Käufer, desto besorgter wurde unsere Gruppenleiterin und bestellte zu viel, um meine drohenden Misserfolge auszugleichen. Meine Sonderpackungen füllten eine wichtige Lücke in unserem Schulmarkt. Unsere Grundschule bestand aus kekshungrigen Kindern mit Essensgeld. Ich konnte mit der Nachfrage kaum Schritt halten, da ich konkurrenzlos war. Die anderen Mädchen hatten entweder nie an den Verkauf an ihre Mitschüler gedacht oder sie wussten – was wahrscheinlicher war –, dass es strikt gegen die Schulregeln verstieß. Ich hingegen konnte es mir vor aller Augen erlauben. Die Lehrer versuchten, nichts zu sehen. Ich erhöhte den Preis.

Das Geld steckte ich in Schuhe, die ich selten trug. Mein Geschäft funktionierte, bis meine Mutter bei einem Frühjahrsputz unsere Schränke ausräumte. Wortlos stellte sie die mit Geld ausgestopften Schuhe auf den Esstisch. Ich nickte, erkannte die Situation an. Sie sammelte das Geld und die verbliebenen Keksschachteln ein und ging mit mir nach draußen. Wir stiegen in ihren Truck und fuhren zum Haus der Gruppenleiterin. Sie kam an die Tür und bat meine Mutter herein, aber meine Mutter schüttelte den Kopf und überreichte meine Beute. Die beiden Frauen standen in der Tür und unterhielten sich ziemlich lange – so jedenfalls kam es mir vor. Ich konnte sie nicht verstehen, sah aber das Gesicht meiner Mutter. Als sie zurückkam, erklärte sie mir, dass ich für immer aus der Gruppe geworfen war.

Ich fragte, ob sie sauer auf mich sei. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf. Dann fuhren wir schweigend durch die Straßen unserer kleinen Stadt in Kansas, vorbei am Schwimmbad, wo ich im kommenden Sommer am Sprungbrett in der Schlange stand und hörte, wie die Jungs meinen Körper mit dem der Mädchen verglichen, die vor und hinter mir standen; wir fuhren an der kleinen Bücherei vorbei, wo ich Zuflucht suchte und fand; wir fuhren vorbei an der Mittelschule, wo ich später lernte, Trost in der Einsamkeit zu finden, und weiter auf die Schotterstraße, die zu unserem Farmhaus führte. Schließlich ergriff sie das Wort.

»Manche Leute werden dich anschauen und sehen, dass etwas nicht stimmt«, sagte sie. »Das wird ihr erster und einziger Gedanke über dich sein: etwas stimmt nicht. Sie werden keinen zweiten Gedanken daran verschwenden.«

Bosanquet schrieb, dass schwierige Schönheit auch deshalb schwer zu analysieren sei, weil die meisten Menschen die »Anstrengung der Konzentration« scheuten. Meine Mutter wollte nicht, dass ich diese Anstrengung von anderen erwartete. Bosanquet sprach weiter von einer »nicht unbedingt intellektuellen Anstrengung; es ist etwas mehr, es ist eine imaginative Anstrengung«.

»Hör zu«, sagte meine Mutter, die nichts auf die Imagination anderer Leute gab, »spiel einfach deine Karte aus, hol dir von den Leuten, was du brauchst, und schau nicht zurück.«

Erst heute, da ich Wolfgang habe, kann ich begreifen, wie schmerzhaft das Ganze für sie gewesen sein muss. Sie wollte mich wappnen und stark machen, doch das ging auf Kosten der Bindungsfähigkeit. Ich war immer vorsichtig, rechnete ständig damit, dass jemand unfreundlich war. Sowohl meine Mutter als auch Colin hatten Behinderung als eine Karte in meiner Hand beschrieben. Colin hielt es für ein schlechtes Blatt, das ich bloß verdrängte. Meine Mutter hingegen hatte es immer als Werkzeug betrachtet, das ich zu meinem Vorteil oder zumindest zu meinem Schutz nutzen konnte.

Mit meinem Armband geselle ich mich zu einer Gruppe von VIPs in einem kleinen, abgetrennten Bereich gleich links von der Bühne. Ich lehne mich an die Barrikade und sehe zu, wie Roadies das Equipment anschleppen. Nichts versperrt mir die Sicht. Die Einlasstore werden geöffnet, und der Rest der Menge drängt herein. Die Sommersonne strahlt intensiv, ich schwitze wieder. In der Arena sehe ich den rauchenden Italiener mit seinen schick angezogenen Freunden tanzen. Ich vermisse Kate und wünschte, sie wäre bei mir. Auch meine Mutter fehlt mir. Ich könnte mit ihnen zusammen sein und müsste mich jetzt nicht so zerrissen fühlen.

Das Konzert beginnt zu spät. Mein Rücken ist steif, meine Hüfte blockiert. Eine Vorgruppe plätschert dahin und verschwindet von der Bühne. Die Leute drängen an die Barrikade, drücken von allen Seiten. Ich drücke zurück, um mir ein wenig Platz zu verschaffen. Ich dehne meine Wirbelsäule, beuge mich nach vorne. Ein DJ erscheint, der niemanden sehr beeindruckt. Wir warten nur. Wieder halte ich mich an der Barrikade fest und beuge mich vor. Meine Wirbelsäule knackt, Wirbel für Wirbel, und ich spüre Erleichterung durch meinen Körper strömen. Meine Fersen tun schrecklich weh, es fühlt sich an, als würde eine Rasierklinge über meine Achillessehne gezogen. Der Schmerz strahlt aus. Ich verlagere mein Gewicht von einer Körperseite auf die andere. Wenn ich mich hinsetze oder weggehe, kann ich meinen Platz vergessen. Die Frau neben mir beobachtet mich skeptisch.

»Tutto bene?«, fragt sie, und ich nicke. Sie erwartet, dass ich das Gesicht verziehe, um ihre Sorge zu bestätigen.

Ich blicke über die Barrikade auf die offene Bühne vor mir und fühle mich dankbar und elend und verärgert über mich selbst. Als ich vor dem Stadion in der Schlange stand, hatte ich mir keine großen Hoffnungen gemacht. Ich konnte entweder den Hang der Leute ausnutzen, mich zu bevormunden, oder komplett von der Sache ausgeschlossen werden, wegen der ich gekommen war. Ich hatte bereitwillig die reduzierenden Vermutungen der Leute über mich bestätigt, damit ich bekam, was ich wollte. Wolfgang dürfte mich niemals so sehen. Ich durfte das nie wieder tun. Ich hatte ein Leben geführt, das vielleicht meiner würdig war, aber seiner war es nicht würdig.

Ich brauchte einen neuen Weg.

An dem Abend in der Bar mit Colin hatte ich zu erklären versucht, dass meine Behinderung mich auf positive Weise geprägt hatte. Das stimmte, aber meine Erklärungen waren nicht überzeugend gewesen, weil mir die Sprache fehlte, um die Beziehung zu meiner Behinderung zu beschreiben. Ich sprach nie darüber. Ich schrieb nicht darüber, erkannte sie nicht an, befasste mich nicht wissenschaftlich damit. Auf Fotos versteckte ich sie. Ich hatte mein Leben lang darauf gewartet, dass Menschen sich irgendwann mit meiner Behinderung anfreunden, sie vergessen und dann mich sehen. Natürlich habe ich dadurch nur einen Teil von mir ausgelöscht. Das gleiche Gefühle hatte meine Unterhaltung mit Sharon beherrscht. Ich hatte die Gelegenheit verpasst, von ihr zu lernen und eine Verbindung herzustellen. Sie war zu einem aufrichtigen Gespräch mit mir bereit gewesen, ich war es nicht.

Ein schreckliches Geräusch dringt aus mir, ein unbeabsichtigtes Schluchzen, ein Stöhnen und Keuchen. Die argwöhnische Frau neben mir wirbelt herum, und da bin ich, die kleinste Frau weit und breit, knallrot, völlig verschwitzt, vornübergebeugt, mit knackendem Rücken.

»Tutto bene?«, ruft sie.

»Ja, ja, alles gut«, sage ich. »Tutto bene

Mit großen Augen wendet sie sich ab und ruft nach der Security. Ein Wachmann erscheint, zu dem sie in schnellem Italienisch etwas sagt und dabei auf mich zeigt.

»Nein«, sage ich. »Tutto bene

Sie bleibt skeptisch und beobachtet mich, versucht meinen Schwindel zu entlarven.

»Sie muss raus, raus«, sagt sie. Der Wachmann kneift die Augen zusammen.

»Mir geht es gut«, sage ich. »Bitte sagen Sie ihm, es geht mir gut.« Aber sie ist sich da nicht so sicher.

Die Leute in der Nähe starren uns an.

Der Wachmann winkt einem Kollegen. Gemeinsam kommen sie auf mich zu. Ich erröte und spüre Tränen der Wut in mir aufsteigen.

»Stopp. Alles ist gut. Stopp, bitte.« Ich schlage nach ihren Händen, die nach mir greifen, mich unter den Achselhöhlen packen. Ich drehe mich um. Alle sehen zu. Einige grinsen, reißen die Augen auf, freuen sich auf die Möglichkeit eines bevorstehenden Zwischenfalls. Die Männer wollen mich hinausschleppen; ihre Finger gleiten an meinen Armen entlang, legen sich um die weiche Haut an den Ellbogen; sie ziehen mich hoch, aber ich stecke fest, bin an der Hüfte über die Metallbarrikade gebeugt. Die Männer ziehen, aber die drängelnden VIPs, begeistert von dem sich öffnenden Raum, stürmen vor und klemmen meine Beine ein. Die Männer fluchen auf Italienisch über meinen unbeweglichen Körper.

»Medico, medico«, ruft ein Wachmann in sein Walkie-Talkie. »Medico, medico

»Mir geht es gut!«, wiederhole ich immer wieder, aber niemand hört mir zu.

Schließlich befreien mich die Männer aus der Menge und heben mich über die Barrikade. Zwei Sanitäter mit einer Trage eilen in meine Richtung. Beobachtet mich etwa das ganze Stadion? Einer der Sanitäter tritt zu mir.

»Englisch?«, sagt er.

»Ja.«

»Wir können Sie zum Arzt bringen«, sagt er.

»Ich kann nicht weg!«, sage ich. »Sie haben mich aus der Menge geholt, obwohl ich es nicht wollte.«

»Aber Ihre Sicherheit«, sagt der Sanitäter und blickt über die Barrikade. Mein Platz ist inzwischen von anderen besetzt. Zurück kann ich nicht mehr. Der Sanitäter reicht mir eine Flasche Wasser, dann dreht er sich zu seinem Kollegen und den Wachmännern um. Im Kreis stehen sie da, beratschlagen sich und zucken abwechselnd die Schultern.

»Können Sie von hier aus sehen?«, fragt der Sanitäter und legt seine Hand auf den Bühnenrand.

»Wo?«

»Hier, auf der Bühne?«

»Ich soll das ganze Konzert auf der Bühne sehen?« Meine Stimme wird unwillkürlich schrill.

»Ja, ist das besser?«

»Ob es besser ist, auf der Bühne zu sitzen?«

»Für Sie?«

»Ja«, sage ich. »Klar. Viel besser für mich.«

Die Lichter gehen aus. Die Menge kreischt. Beyoncé kommt und holt uns sofort in die Gegenwart zurück. Sie steht reglos auf der Bühne. Ihr Anblick erfüllt uns. Sie genießt es. Die Show beginnt.

Der Sound durchdringt mich, lenkt meine Aufmerksamkeit vom Kopf in die Glieder, ich werde nach vorne gezogen. Der Lärm der Menge, ihr wildes Vergnügen und die unbändige Freude drängen von allen Seiten auf mich ein. Der Schmerz von vorhin ist verschwunden, ich spüre, wie der Sound ihn durch meine Fingerspitzen verdrängt. Später wird er zurückkommen. Morgen im Bad, wenn ich auf die blauen Flecken starre, die die Männer auf mir hinterlassen haben. Aber ich werde mich nicht an das Unwohlsein erinnern, es war nur vorübergehend.

Beyoncés Energie ist überall spürbar, doch am meisten beeindruckt mich ihre Fähigkeit, im Moment aufzugehen und völlig präsent zu sein.

Ich habe so etwas noch nie gesehen.

Es scheint, als ob jedes Molekül ihres Körpers auf uns eingestimmt ist, um in diesem Moment bei uns zu sein. Sie gibt sich uns allen hin, und das Publikum gibt sich ihr hin. Wenn sie singt, singen wir mit einer Stimme zurück. Wenn sie sich bewegt, folgen wir ihr. Wir sind ein einziger Organismus. Eine verschmolzene Masse. Wenn sie nach rechts geht, gehen wir nach rechts. Wenn sie sich nach links bewegt, tun wir es auch. Wenn wir sie nicht sehen können, seufzen wir resigniert. Wenn sie an den Rand der Bühne tritt, strecken wir ihr die Arme entgegen, um ihr näher zu sein. Wir winken, sie winkt zurück. Alle stehen auf den Zehenspitzen, die Arme ausgestreckt, und sehnen sich danach, ihr näher zu sein, und von den achtzigtausend Menschen bin ich ihr am nächsten. In den folgenden zwei Stunden vollführt sie einen Akt totaler Großzügigkeit und zeigt uns, wie absolute Präsenz aussieht. Sie zieht uns in die Sphäre des Hierseins, und ganz kurz sind wir, wie sie, nur in diesem Moment.

Von der Bühne blicke ich auf ein Meer von Menschen, alle vereint in der Erfahrung ungeschminkter, triumphierender Schönheit. Ich denke an all die Rechtfertigungen, die ich mir zurechtgelegt hatte, um mir solche Ereignisse schlechtzureden, an die vielen Schichten von Überlegenheit, Theorie, Vortäuschung, mit denen ich mein kleines Haus der Selbstachtung aufgebaut hatte, um abgeschirmt im Inneren zu verharren. Ich schäme mich für meine Schwäche als Betrachterin, für meinen Unwillen, mich in die Öffentlichkeit zu begeben, mich harten Fakten und hoher Gefühlsspannung zu stellen. Was ist mir durch meine Abwehrhaltung noch entgangen?

Schwierige Schönheit, sagt Bosanquet, »schenkt einem in einem Moment zu viel von dem, was man durchaus gern genießen würde, wenn man nur alles in sich aufnehmen könnte«. Die Fähigkeit, wahrhaft komplexe Schönheit zu erkennen und zu schätzen, erfordert die Bereitschaft, sie langsam, Stück für Stück, zu verarbeiten. Wir dürfen nicht erwarten, dass sie sich uns auf den ersten Blick erschließt.

Ich denke an Wolfgang und meine Gefühle bei seiner Geburt, an den Tag, der zu komplex war, um rundherum glücklich zu sein, und zu schwierig, um alles auf einmal zu verarbeiten. Ich spüre Wolfgang an meiner Brust. Ich spüre sein Gewicht in meinen Armen. Ich erinnere mich an den Abend, als ich in der Tür stand, während er und Andrew auf dem Boden mit Bauklötzen spielten. Ich erinnere mich an die Kluft zwischen uns, die beiden in ihrer Gegenwart, ich in meiner Vergangenheit. Veränderung ist möglich. Ich weiß nur nicht wie. Aber ich bin dazu fähig.

Auf der Bühne sehe ich, wie Präsenz aussieht, wie sie sich anfühlt, wie sie auf andere wirkt. An diesem Abend ist nichts in mir gespalten, ich bin ganz da, mit all den begeisterten Menschen, gefangen in der Welle von Beyoncés Schaffen, das allmählich einen Winkel meiner konventionellen Welt auflöst und das Modell für eine neue Zukunft in der Ferne aufschimmern lässt. Ich versuche, all das Stück für Stück in mir aufzunehmen.