Die Tage vergehen gleichförmig.
Der Müll in den Tonnen dampft in der feuchten Augusthitze. Verwelkte Blütenblätter fallen von den Ästen, und der Wind weht sie wie flatternde Käfer durch die Alleen. Mit dem September kommt eine plötzliche Kühle, die den Bäumen die Blätter entreißt. Der sanfte Oktoberhimmel färbt sich orange vom Rauch der kanadischen Waldbrände. Die letzten Blätter sterben ab, vertrocknen am Stängel. New York ist laut, bleibt laut. Unter unserer Wohnung eröffnet eine Bar, und die betrunkenen Gespräche fremder Leute sickern durch unser Schlafzimmerfenster, verzerren meine Träume, dringen in sie ein.
Unter der Woche unterrichte ich. Es läuft gut. Bei meinen Studenten im Klassenzimmer bin ich glücklich und fokussiert, doch sobald ich später in meinem Büro sitze und Arbeiten korrigiere, geht meine Konzentration flöten. Ich bin zu nervös. Jede Zeile, die ich zu lesen versuche, erscheint leicht unscharf. Irgendwie bin ich nicht ganz wach. In meinen Ohren summt es. Ich bin nicht in meinem Körper. Mein Bewusstsein funktioniert wie ein Scheinwerfer, der einen winzigen Ausschnitt der Realität auswählt. An einem Tag Anfang November öffne ich mein Bürofenster und blicke hinaus auf Harlem. Eine Taube kackt auf den Gehsteig, die Luft ist stickig und trifft mich wie ein feuchter Lappen. LKW-Räder quietschen. Ich schließe das Fenster. Auf dem Boden in meinem Büro finde ich Haarsträhnen. Fallen mir etwa die Haare aus? Meine Gedanken driften aus dem Fenster, bis mich ein Klopfen an der Tür in die Wirklichkeit zurückholt. Die Dekanin meiner Schule. Ich bekomme Ärger. Ich hatte das Zeitgefühl verloren und die Lehrerkonferenz verpasst.
Nachts im Bett schaue ich mir auf dem Handy Bilder von fernen Orten an. Gebirgszüge und Wasserfälle, Eisenbahnen, Flüsse, Strände; die Welt greift durch den Bildschirm nach mir. Ich kann nicht schlafen. Ich hatte Italien überaus zuversichtlich verlassen, doch bei meiner Rückkehr nach Brooklyn war ich immer noch die Alte. Das Wissen, dass man sich ändern muss, lässt es noch nicht Wirklichkeit sein. Ich wollte das glückliche Gefühl aus Italien mit nach Hause nehmen, aber ich kann es nicht festhalten. Ich starre an die Decke, bis ich mich in schwarzen Wirbeln verliere. Die Sonne geht auf. Ein neuer Morgen. Wolfgang kratzt mit dem Löffel über den Boden seiner Müslischale. Der Geruch von Joghurt, der säuerliche Gestank von Speichel; gebrochene Lichtfetzen auf Gebäuden; schrille Kreissägen, Geschrei von der Straße; Füße stampfen auf Metallgitter und Beton. Eine Tür strapaziert ihre Scharniere. Andrew hustet und niest: alles Explosionen, die mich erschrecken und sich gegen mich wenden. Ich kann weder lesen noch schreiben. Ich finde keine Ruhe. Tagesdröhnen.
Ich nehme die Pflichten des Alltags wieder auf. Ich koche, ich unterrichte, ich bemühe mich, E-Mails rechtzeitig zu beantworten. Ich halte meinen Sohn und lese ihm vor, bis er einschläft, ich küsse meinen Mann, ich treffe meine Freunde, ich esse in Restaurants, besuche Lesungen und Museen, ich bewege mich überzeugend durch mein sehr gutes Leben. In der Dunkelheit jedoch, wenn meine Familie schläft, klicke ich Bilder von Tempeln, Dschungeln, Wüsten, Seen und Flüssen an, immer weit weg, möglichst weit weg. Außerdem sehe ich mir häufiger Tennisspiele an. Es ist ein unerbittlicher Sport, immer weitergespielt, Tag und Nacht. Seine Geräusche klingen rhythmisch, langweilig. Matches mit langen Ballwechseln lullen mich ein. Ich lausche, wie der Ball von den Saiten abprallt – dieses befriedigende plopp –, immer und immer wieder.
Mein Freund Bobby ruft aus Kalifornien an und erzählt, dass ihn seine Frau verlassen hat. Ich sage ihm, er soll seine Sachen packen. Zwei Wochen später kommt er mit ein paar Schachteln in Brooklyn an und richtet sich ein Zimmer in meinem ehemaligen Büro ein.
Er sitzt auf der Couch und isst mit Wolfgang und Andrew Müsli. Die drei sehen aus wie eine Familie.
Ein Freund von mir ist Redakteur bei einer Kulturzeitschrift und fragt mich, ob ich eine Rezension über eine Hannah-Arendt-Dokumentation schreiben will. Ich erkläre ihm, dass mich nichts dazu qualifiziert außer der Tatsache, dass ich Hannah Arendt gelesen habe, für ihn, wie er mir versichert, die beste Qualifikation. Ich sehe mir die Dokumentation im Film-Forum im Village an und mache mir danach in einem nahegelegenen Café fieberhaft Notizen auf Servietten. Zum ersten Mal seit Italien fühlt sich mein Verstand scharf und kompetent an. Am folgenden Tag treffe ich die Regisseurin. Sie ist großartig, ernst und fokussiert. Sie erkennt den Platz, der ihr in einem Raum zusteht, und nimmt ihn unumwunden ein. Sie spricht klar und deutlich über ihre Ideen und Absichten. Ich bewundere sie.
Meine Filmbesprechung landet in der Leere des Internets und verpufft, bringt mir aber auch ein Schulterklopfen des Redakteurs und seines Chefs in der Kulturredaktion ein. Im Januar steht das Sundance Film Festival an, und sie überlegen, ob ich für sie darüber schreiben soll. Sie brauchen jemanden, dem sie nicht viel zahlen müssen.
»Hast du nicht eine Freundin in Utah, bei der du wohnen kannst?«, fragt mein Redakteur und erklärt mir, dass alle anfallenden Kosten von mir zu tragen seien. Ich habe tatsächlich Freunde in Salt Lake City, Iris und ihren Mann Judd. Sie ist im fünften Monat schwanger mit ihrem ersten Kind.
Mein Redakteur versichert mir nicht, dass ich qualifiziert sei, über das Sundance zu schreiben, und selbst nachdem sie mich gefragt haben, suchen sie weiter nach jemandem, den sie an meiner Stelle schicken können, nur will jeder, den sie fragen, fair bezahlt werden. Wegen meines Laienstatus und meiner mangelnden Erfahrung bin ich nicht in der Position, meinen Preis auszuhandeln, und das ist mein Vorteil. Und so gestehe ich meine Niederlage ein, das Magazin erteilt mir den Auftrag und stellt mir einen Presseausweis aus.
Mein Redakteur erklärt mir, dass ich in den zehn Tagen täglich zwei Artikel abliefern müsse, beide jeweils fällig morgens um zehn. Mit meinem Presseausweis solle ich so viele Filme wie möglich ansehen. Vier oder fünf pro Tag.
»Aber wann soll ich dann die Artikel schreiben?«, frage ich.
»Falsche Frage«, sagt er. »Frag dich lieber: Wann soll ich die E-Mails schreiben?«
Es wird eine endlose E-Mailerei, erklärt er.
»Wenn du dir diese Reise vorstellst«, sagt er, »hast du dann ein bestimmtes Bild vor Augen?«
»Ja«, sage ich.
»Ersetze es durch E-Mails«, sagt er. »Pressesprecher, Agenten, Festivalmitarbeiter, ich, die anderen Redakteure in der Kulturredaktion. Rückfragen, Bestätigungen, Verhandlungen, Terminabsprachen – und dann sagt jemand ab und der E-Mail-Wahnsinn geht von vorne los. E-Mails schreiben wie atmen, ständig.«
An dem Tag, als mein Presseausweis genehmigt wird, bekomme ich E-Mails in aggressiver Zahl, wie eine auf mich anmarschierende Armee, alle Betreffzeilen verkünden ein **MEDIA ALERT**!
Ich werde mit Links zu »Vorabaufführungen« von Filmen verhöhnt, die nur mit dem richtigen Passwort abgespielt werden. Ich habe es nie. Ich werde gewarnt, dass die Sitzplätze bei den Vorführungen für »Press & Industry«, für Blogger und bei den Pressekonferenzen begrenzt sind. Es gibt Einladungen zu Aperitifs vor den Filmen und Ankündigungen von Sperrfristen. Ich kann ihre Bedeutung nicht entziffern, aber solche Schreiben kommen ständig.
Am Abend gehe ich nach Ditmas Park, um Jay im Sycamore zu treffen, das tagsüber ein Blumenladen und abends eine Bar ist. An der Decke hängen getrocknete Sträuße. Ein Blütenblatt fällt in meinen Drink. Auf jeder Fensterbank und jedem Sims ringsum befinden sich verfallende Pflanzen. Ich fange sofort an, mich über die E-Mails zu beklagen. Jay nippt an seinem Whiskey und hört zu.
Ich räuspere mich und lese: »Hi, Girl, kurzer Gruß von deiner FemHealth-Marke, die im Kampf gegen das Patriarchat hohe rote Wellen schlägt.«
Jay wirkt verwirrt.
»Versteh ich nicht«, sagt er.
»Nach dem Witz mit den roten Wellen steht in Klammern ein LOL«, sage ich.
»Ist das eine PR-Mail von einer Tampon-Firma, die … auf ein Filmfestival geht?«
»Keine der E-Mails ergibt Sinn. Die hier am allerwenigsten.«
Er beugt sich über meine Schulter, und wir lesen gemeinsam: Ich weiß, du und deine Leser wollt die volle Enthüllungsstory darüber, wie man in Trumps Amerika eine kreative Firma führt, die verdammt feministisch ist. Wie aufregend!!!
»Das zu lesen hat mich ganz schön gefordert«, sagt Jay. »Fast schon ausgelaugt.«
»Sie versprechen mir die volle Enthüllungsstory.«
»Arbeitest du an deiner Dissertation?«
»Irgendwann ja.«
Nachdem ich aufgrund meines ersten Doktortitels eine volle Lehrstelle bekommen hatte, fehlte mir jede Motivation, meinen zweiten zu beenden.
»Geht es immer noch um kambodschanische Kunst?«
»Gute Frage.«
»Warum machst du das?«, fragt Jay. »Warum der Stress mit diesem Sundance-Auftrag? Bei der ganzen Arbeit für das Magazin kannst du offenbar nicht mal das Festival und die Filme genießen.«
»Stimmt«, sage ich. Er sagt nichts mehr und lässt mich in einer Länge nachdenken, die schon nicht mehr höflich ist. Er wartet, trinkt einen Schluck, ohne ein äußeres Zeichen des Unwohlseins. Schließlich erzähle ich ihm von der Hannah-Arendt-Dokumentation, und wie es mir anschließend beim Schreiben in dem Café erging. Ich denke an den Brief meines Vaters und seine Frage am Ende. Wie kann ich in der Gegenwart ein authentisches Leben führen? Als ich über den Film schrieb und später das Gespräch mit der Regisseurin führte, hatte ich mich authentisch gefühlt. Warum also Sundance? Ich war hinter diesem Gefühl her.
»Versteh mich nicht falsch – ich finde, du solltest schreiben, was du willst –, aber mich würde interessieren, warum du dich nicht mit Behinderung befasst und darüber schreibst.«
»Das Thema hatten wir schon«, sage ich.
»Nein, ich hatte dich das schon mal gefragt«, sagt Jay. »Aber du hast nicht geantwortet. Wobei du mir natürlich keine Antwort schuldig bist.«
»Schon gut«, sage ich. »Die Frage ist ja berechtigt.«
»Wehrst du dich dagegen, dich mit etwas zu identifizieren? Zum Beispiel diese PR-Mail. Sie ist schrecklich. Aber kommt deine Abneigung vielleicht von der Tatsache, dass sich das Unternehmen explizit verdammt feministisch nennt?«
»Wie aufregend!« Ich versuche, auf unsere Biere anzustoßen. Jay verdreht die Augen.
»Ja, aufregend«, sagt er.
»Ich finde es großartig, öffentlich zu sagen, dass man feministisch ist«, sage ich. »Es nur aus Marketinggründen zu behaupten, ist daneben.«
»Aber wo liegt die Grenze zwischen den beiden? Wann wird der Akt des Behauptens zum Akt des Brandings?«
Die Aufgabe der analytischen Philosophie besteht darin, das Unbenennbare und Undefinierbare zu benennen und zu definieren, Unterscheidungen zwischen unklaren Begriffen zu treffen. Jay, ein hervorragender analytischer Philosoph, forscht an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Kognitionswissenschaft. Seine Forschung zielt darauf ab, die spezifische Grenze im Geist besser zu verstehen, bei deren Überschreiten das Sehen zum Denken wird.
»Die Grenze wird überschritten«, sage ich, »wenn man Identität um des persönlichen Profits willen einsetzt.«
»Okay, aber dein Handeln scheint durch die Angst motiviert zu sein, wie andere deine Absichten wahrnehmen, und nicht durch die Absichten selbst.«
»Du weißt, dass alle denken, ich hätte meine Behinderung benutzt, um in das Philosophie-Programm zu kommen.«
»Nein, das denken nicht alle.«
»Wenn man Behinderung nicht als Studieninhalt wählt, ist man ein schlechter Behinderter. Wenn man es tut, werden die Leute sehr misstrauisch. Sie fangen an, einen Klugscheißer zu nennen. Darf ich meine Identität zu meinem eigenen Vorteil ausnutzen? Ich darf.«
»Klar«, sagt Jay.
»Und das ist bei manchen die erste Annahme. Es gibt keine Grenze zwischen Erforschen und Ausnutzen. Sobald man sich als etwas identifiziert, fangen die Leute an, einem zu sagen, wer man ist und was man bedeutet. Sie stecken dich in eine kleine Schachtel und lassen dich dort. Sobald man sich zu einer Community bekennt, beschwört man solche auferlegten Beschränkungen herbei.«
»Niemand zwingt dich, diese Beschränkungen zu internalisieren.«
»Aber man entkommt ihnen nicht. Man spürt sie. Man trägt sie wie Kleider.«
»Okay, aber sich zu einer Community zu bekennen, ist mit einem offensichtlichen Vorteil verbunden, richtig?«
»Nämlich?«
»Nämlich, dass du weniger allein bist.«
Am Abend vor meiner Abreise nach Utah ruft mein Redakteur an. »Alles wird gut«, sagt er. »Du weißt, was zu tun ist.«
»Weiß ich nicht.«
»Hm«, sagt er resigniert. Aber jetzt ist es für uns beide zu spät.
Ich schlage in Utah auf wie ein Stein, der von einem Felsvorsprung gekickt wurde; mein Sturz in den Untergang ist unmittelbar und absolut. Ich gehe zur falschen Zeit in die falschen Kinos. Die Sitzplätze bei den Press-&-Industry-Vorführungen sind begrenzt, und ich schaffe es nicht in die Auswahl. Interviews werden angesetzt und abgesagt. Iris und Judd möchten Pläne machen. Der Ablauf eines Tages gleicht einer Fata Morgana – sie ist da, verändert sich, verschwindet.
Iris und Judd, die ihre letzten Monate genießen, bevor sie Eltern werden, laden auch Andrew und Bobby nach Salt Lake City ein. Sie werden gemeinsam ausgehen, versuchen, in ein paar Filme zu kommen, und gut essen gehen, während ich arbeite. Andrew bringt Wolfgang nach Kansas zu meiner Mutter und kommt ein paar Tage nach mir an. Bei seiner Ankunft in der Wohnung unserer Freunde legt er sich – angesichts einer Woche Freiheit – auf den Fußboden und schläft ein. Seine Anwesenheit gibt meinem Glück, wenn auch unbewusst, einen kleinen Schub. Ich bekomme ein Interview mit dem Regisseur und zwei Stars des Films, der am Ende der Favorit des diesjährigen Festivals sein wird. Unser Gespräch ist unspektakulär, ein Wiederkäuen oberflächlicher Antworten auf meine langweiligen Fragen, doch am Ende des Interviews sieht mich einer der Stars lange an. Er ist ansehnlich wie ein Hotelmöbel, typisch und zweckmäßig, kneift die Augen zu glitzernden Schlitzen zusammen und fragt mich lächelnd, ob ich zu der Peter-Dinklage-Party gehe.
Die Presseagentin des Stars kauert neben ihm auf der Couchlehne, wickelt sich ihr langes, schwarzes Haar um die Hand. In der anderen hält sie eine nicht angezündete Zigarette, die sie sanft zwischen Daumen und Zeigefinger dreht. Der Star erklärt mir, dass Peter Dinklage einen Preis von einer Filmdatenbank-Website für den am häufigsten aufgerufenen Schauspieler im Internet in diesem Jahr entgegennehmen wird. Der Star mochte es fast nicht glauben. Auf der gleichen Filmdatenbank hieß es übrigens, dass der Mann vor mir einen Meter fünfundneunzig groß sei, eine, wie ich jetzt feststelle, Übertreibung um zehn Zentimeter.
»Ich möchte Sie etwas fragen«, sagt er und macht ein Gesicht, das ich gut kenne. Es ist das Hört sich vielleicht schlimm an, aber Sie wissen, was ich meine-Gesicht. »Wer, glauben Sie, wurde wirklich häufiger aufgerufen? Ich oder Dinklage?«
»Du weißt, sie wird sagen …« Die Presseagentin lässt den Satz in der Luft hängen.
Die blauen Augen des Stars werden groß. Er hat in vielen Filmen mitgewirkt, von denen er viele aufzählt, während er auf meine Antwort wartet. »Wer würden Sie schätzen? Wenn Sie wählen müssten – ich oder er?« Er klopft sich auf die Brust. Seine Presseagentin starrt die weiße Wand vor ihr an.
»Peter Dinklage«, sage ich.
Der Star verlässt den Raum. Als ich meine Sachen packe, höre ich ein dumpfes Geräusch, schaue auf und sehe, wie er mich durch das Fenster anstarrt. Er hebt sein T-Shirt und presst seine Brustwarze ans Glas, macht Kussgeräusche, streckt die Zunge raus und winkt zum Abschied.
Die Türsteher von Utah entschuldigen sich für alles Mögliche. Für den Schnee, die Hügel, die vereisten Gehwege, die Pfützen, in die ich trete. Ich stehe keine Minute auf der Straße, und schon verlässt ein riesiger, weißer Türsteher seinen Posten und reicht mir gequält lächelnd seinen Arm. Mein Anblick, sagen sie, schmerze sie. Es schmerze sie zu sehen, wie ich auf der Straße gegen den Wind ankämpfe, der überall Schneewehen auftürmt. Die Türsteher halten mir Türen auf, obwohl es ihr Job ist, sie geschlossen zu halten.
Ich schicke meine Freunde und Andrew ohne mich zum Essen und mache mich auf den Weg zur Peter-Dinklage-Party. Ich komme fünfzehn Minuten zu früh am Veranstaltungsort an, um festzustellen, dass ich tatsächlich eine Stunde und fünfzehn Minuten zu früh dran bin. Es ist mein Fehler, der auf den ungenauen Angaben des Stars beruht und darauf, dass ich kein geladener Gast bin, und trotzdem entschuldigt sich der Türsteher. Er bedaure wirklich sehr, dass er mich noch nicht einlassen kann, aber wenn es so weit ist, werde ich als Erste durch die Tür gehen, es tue ihm leid, wirklich.
»Sie sind nett«, sage ich zu ihm und frage ihn nach seinem Namen. Er heißt Tim. »Tim«, sage ich und stelle mich neben ihn, um ihm zu zeigen, wie viel größer er ist als ich. »Ich verwechsle ständig die Zeiten, Tim.« Sicherheitshalber zittere ich erbärmlich. »Es ist nicht einfach, immer den Überblick zu behalten, finden Sie nicht auch, Tim?« Er stimmt mir zu und beruhigt mich, dass jeder seine Probleme damit hat.
Die nächste Stunde nutze ich gut, indem ich in Sichtweite von Tim stehenbleibe. Auf meinem unbedeckten Kopf sammelt sich Schnee. Tim zuckt zusammen. Ich gehe ein bisschen auf und ab, schüttle meine Beine aus, um zu zeigen, dass ich müde bin, mir alles wehtut, ich friere. Ich manipuliere ihn gnadenlos. Später am Abend, als ich vergeblich versuche einzuschlafen, fällt mir das Versprechen ein, das ich mir in Mailand gegeben hatte: Andere nicht mehr ermuntern, mich zu bevormunden. Ich hatte meinen Vorsatz schnell vergessen und wenig zu seiner Umsetzung getan. Es ist wie ein tief in mir verwurzelter Automatismus, dass ich den Hang anderer, mich zu bemitleiden, zu meinem eigenen Vorteil nutze. Mein wachsendes Bewusstsein für das Problem hat es nicht unbedingt gelöst. Aber mir ist gar nicht bewusst, was ich da gerade mache, als ich draußen im Schnee stehe und darauf warte, dass die Peter-Dinklage-Party beginnt. Die Stunde vergeht, dann winkt mich Tim zu sich und ich gehe rasch zu ihm. Tim malt sich mein schlimmes Schicksal aus. Ein »Seien Sie vorsichtig« entweicht zwischen seinen besorgten, nach unten gezogenen Mundwinkeln. Als ich nah genug bin, schlittere ich auf dem vereisten Gehsteig zu ihm, und er fängt mich auf, führt mich an der Person vorbei, die Namen auf einem Blatt Papier abhakt, und zum nächsten verfügbaren Stuhl.
»Danke, Tim«, sage ich. »Vielen, vielen Dank.«
Früher am Tag hatte mich meine Freundin Iris gefragt, ob man ihr ansähe, dass sie schwanger sei. Wir standen draußen. Mit ihrer riesigen geschlossenen Jacke sah sie lediglich schwer eingemummt gegen das Wetter aus, und das sagte ich ihr.
»Gut«, sagte sie.
Ohne die dicke Jacke war ihre Schwangerschaft sichtbar, und das hieß, dass die Leute sie anstarrten und ihr aufdringliche Fragen stellten.
»Ich glaube, ich verstehe dich jetzt etwas besser«, sagte Iris. »Die Leute sehen dich an und setzen voraus, weil du behindert bist, bist du netter, als du es eigentlich bist. Das begreife ich inzwischen. Wenn die Leute meinen Bauch sehen, denken sie, sie können mich einfach anfassen.«
Die Leute strichen Iris gern über den Bauch, ohne dass sie es ihnen erlaubte. Sie sagten ihr, wie sie die Zeit verbringen sollte, wofür sie die Energie oder den Willen hätte. Sie stellten Vermutungen an. Nachdem sie ihr das Etikett Mutter aufgeklebt hatten, fanden sie ihren Geist transparent, ihren Willen statisch, ihren Körper entsexualisiert. Sechs Jahre zuvor, als ich wie Iris schwanger war, ging ich in meinen Lieblingsbuchladen, um eine Neuerscheinung zu kaufen. Als der Verkäufer mich sah, sagte er: »Die Babybücher sind links.«
Etwa um die gleiche Zeit lud mich eine Bekannte ein, in den sozialen Medien einer Selbsthilfegruppe für Mütter beizutreten, und ich schimpfte mit jedem, der es hören wollte, wie mich diese Einladung empörte. Ich lehnte die Vorstellung ab, dass die Unterstützung von Fremden – mit denen mich einzig die Mutterschaft verband – jemals sinnvoll sein könnte. Aber ich las trotzdem in den Foren mit, ohne mich zu beteiligen.
Ich wurde als Erste in meinem engen Freundeskreis schwanger und war mir sicher, dass ich dort jede nötige Unterstützung finden würde. Iris und Judd waren noch nicht nach Salt Lake City gezogen. Wir lebten damals noch in derselben Stadt, und sie verpflichteten sich, mir zu helfen. Sie kochten, machten Besorgungen, und als mein Bauch nicht mehr hinters Lenkrad passte, fuhr Judd mich überall hin. Jeden Dienstag holte er mich von der Schule ab und fuhr mich nach Hause, während Andrew arbeitete.
Andrew und ich lebten in einer Wohnung, die nur über eine marode Holztreppe erreichbar war. Ein Geländer fehlte. Auf dieser Treppe war ich langsam, aber ich konnte sie bewältigen und ging die Stufen viele Male am Tag hoch und runter. Ich balancierte mich vorsichtig nach oben. Wenn der Schmerz in den Hüften zu stark war, nahm ich die Stufen auf dem Hintern wie ein kleines Kind. In einer Zeit, da ich mir die Schuhe nicht selbst zubinden konnte, war es mir wichtig, diesen kleinen Akt der Selbständigkeit zu beherrschen.
Judd fand es schrecklich, mich allein diese Treppe hochgehen zu sehen. Um mich zu stabilisieren, packte er mich an Handgelenk und Ellbogen, ohne zu verstehen, dass das freie Schwingen meiner Arme ein wichtiger ausgleichender Mechanismus war, und führte mich die Stufen hoch. In der Wohnung bestand er darauf, dass ich es mir gemütlich machte. Er hängte meine Jacke auf, brachte mir Kissen und ein Glas Wasser. Wenn ich keinen Plan fürs Abendessen hatte, ging er los und holte etwas. Er machte unseren Abwasch und brachte den Müll raus. Ich musste ihm zigmal sagen, dass ich zurechtkam, bevor er ging. Er tat das alles, weil er mich, Andrew und unser ungeborenes Kind liebte und weil er ein Mensch war, der diese Liebe gern in kleinen, fürsorglichen Gesten ausdrückte. Ich schätzte ihn sehr und nahm ihm gleichzeitig übel, dass er mir Kleinigkeiten abnahm, die ich gern selbst erledigt hätte. Ich bat ihn, mich allein zu lassen und wegzufahren, ohne sich nach mir umzudrehen. Er lachte nur und ignorierte meine Bitten.
Mein schwangerer Körper zog viele Blicke auf sich. Das Seitwärtsschwanken meines Gangs verdoppelte sich. Ich hatte ständig Schmerzen und meine Mobilität war erheblich eingeschränkt. Meine Hüften verkrampften, stehen und gehen fiel mir schwer. Wegen meines kleinen Oberkörpers lastete das Kind auf meiner Lunge und erschwerte mir das Atmen. Manchmal beobachteten mich Leute beim Gehen mit erwartungsvollem Entsetzen, überzeugt, dass ich bei einem kräftigen Windstoß auseinanderbrechen würde. Bei manchen löste mein Anblick Mitleid aus. Oder sie wurden nervös. Und einige waren richtig schockiert. Alle waren neugierig. Wie war das passiert? Ist das erlaubt? Was für ein Wesen würde ich gebären?
Ich las ständig die Nachrichten der Selbsthilfegruppe für Mütter. Es gab eine Diskussion über Co-Sleeping, in der verkündet wurde, die Ablehnung von Co-Sleeping garantiere die Soziopathie des Kindes, während die Entscheidung für Co-Sleeping den sicheren Tod bewirke. Ich lernte viel über Kinderbettenmarken, Matratzen und Wickeltücher, die alle zum Tod von Kindern führten. Auch Milchpulver konnte tödlich sein, aber zu langes Stillen barg das Risiko, ein Kind großzuziehen, das im Erwachsenenalter nicht fähig wäre zu lieben. Diese Frauen blieben wachsam, informierten sich über Themen. Sie waren das Schwert und das Schild ihres Kindes. Die Welt nannte sie Mutter, Beschützerin, und aus dieser Bezeichnung schöpften die Frauen Kraft und Sinn. Sie wurden einer Kategorie zugeordnet, die sie stärkte. Sie waren der sicherste Ort für ihre Kinder. Ich hingegen war eine Gefahr für mein Kind. Ich sah es in den Augen der anderen, mitunter sogar Abscheu. Ich sah es in der Art, wie man mich beobachtete, in der Angst, die mir folgte – die Bezeichnung Mutter passte nicht unbedingt zu mir, man sollte mich anders nennen.
Mein Gynäkologe glaubte, meine Hüften könnten im dritten Trimenon auseinanderfallen. Die falsch ausgerichteten Kugelgelenke könnten sich loslösen. Er prophezeite mir Unbeweglichkeit, Bettruhe, bleibende Schäden an meiner Wirbelsäule. Aber vor allem sprach er davon, dass mein Kind nicht vollständig entwickelt und mit bleibenden Schäden auf die Welt kommen könnte. Haben Sie sich je gefragt, sagte er, ob das ethisch vertretbar ist?
Sechs Jahre vor Wolfgangs Geburt wurde auf dem vierten Sockel des Londoner Trafalgar Square eine Statue des Künstlers Marc Quinn aufgestellt, die zu einer Serie mit dem Titel The Complete Marbles gehörte. Der Name der Serie stammt von den berühmten Parthenon-Marmoren im Britischen Museum – antike griechische Skulpturenfragmente aus dem fünften Jahrhundert, die Anfang der 1800er Jahre aus dem Parthenon geplündert (manche behaupten, gerettet) wurden. Die Parthenon-Marmore sind unvollständig; viele Teile der Figuren fehlen, zerstört durch Krieg und Nachlässigkeit. Ihr beschädigter Zustand schmälert jedoch nicht die institutionelle und öffentliche Wahrnehmung ihres Wertes oder ihrer Schönheit. Marc Quinn war im Britischen Museum und bemerkte die Ehrfurcht und Verehrung, die man den fragmentierten Marmorplastiken entgegenbrachte. »Mir ging durch den Sinn«, schrieb Quinn, »dass, wenn jemand in den Raum käme, dessen Körper ähnlich geformt wäre wie die der Skulpturen, die meisten Bewunderer umgekehrt reagieren würden. Ich fand es interessant zu sehen, was in der Kunst akzeptabel, im Leben aber inakzeptabel ist.«
Quinns Complete Marbles sind Skulpturen von beschädigten Körpern, deren Ähnlichkeit mit den Parthenon-Marmoren beabsichtigt ist. Seine Skulpturen stellen jedoch keine zerbrochenen Formen dar, sondern ganze Gestalten, ganze Menschen, komplette Körper. Quinns Statue auf dem Trafalgar Square zeigte Alison Lapper, eine Frau, die ohne Arme und mit verkürzten Beinen geboren wurde. Die Skulptur ist 3,5 Meter hoch und wurde aus dreizehn Tonnen Carrara-Marmor gemeißelt. Ihre nackte Gestalt ist im achten Monat schwanger.
Der Herausgeber des British Art Journal bezeichnete Alison Lapper Pregnant als »ein abstoßendes Artefakt«. Brendan O’Neill schrieb im Guardian, dass er »die Statue inzwischen hasst« und dass ihre fortgesetzte prominente Platzierung ein Zeichen für eine Gesellschaft sei, die »Opfer den Helden« vorziehe. Janice Turner schrieb in der Londoner Times, dass die schwangere behinderte Gestalt – Alison Lappers Gestalt und damit auch meine – grundsätzlich subversiv, provokant und die »verbotenste aller weiblichen Formen« sei. Turner fuhr fort: »Man fragt sich, wie genau sie schwanger wurde.«
Ich betrachtete die Internetbilder der Lapper-Skulptur. Sie war die einzige behinderte Schwangere, die ich je in irgendeiner Kunstform dargestellt gesehen hatte. Ich hätte mich gern mit ihr unterhalten und von ihr gelernt. Durch meinen Computerbildschirm erlebte ich ein Gefühl der Ähnlichkeit, wie ich es bei meinen Freunden oder anderen neuen Müttern gesucht, aber nicht gefunden hatte. Aber diese Ähnlichkeit mit Alison Lapper war zu belastet, zu unvollständig. Sie ließ meine Abweichungen deutlich zutage treten. Sie verstärkte meine Distanz zu den anderen in meiner Umgebung, und ich wollte diese Distanz lieber nicht sehen.
Alison Lappers nackte Gestalt auf dem Trafalgar Square war offenbar Ausdruck für eine Gesellschaft, die entweder expandierte oder schrumpfte, wuchs oder zerfiel. Sie schockierte, begeisterte, provozierte, stieß die Menschen ab. Auf Kritiker wirkte sie befremdlich. Doch vor allem empfanden Kritiker sie – das Motiv, nicht den Schöpfer der Statue – als »hinterlistig«. Nicht der Künstler, sondern sie wurde persönlich angegriffen. Jemand beschuldigte sie, ihre »Armlosigkeit zu kommerzialisieren«. O’Neill schrieb, in der Identitätspolitik ginge es darum, die Handlungsfähigkeit aufzugeben, und um die »Akzeptanz des Schicksals«. Allein die Präsentation ihres Körpers zeige das unehrliche politische Manövrieren einer Person, die es auf Mitleid anlege. »Lapper nahm ihren Platz auf dem Sockel vor allem aufgrund eines Geburtsunfalls ein«, schrieb er, während die anderen Statuen auf dem Square ihn dank ihres »selbstgeschaffenen Schicksals« verdienten. O’Neill fand, dass die anderen Statuen »an Menschen erinnerten, die sich ihren Namen im Zeichen eines höheren Ziels erarbeitet hätten«, wohingegen die Lapper-Statue lediglich »die deformierte Körperlichkeit einer Frau zelebriert«.
Mein Gynäkologe gab mir eine Denkübung: Stellen Sie sich vor, Ihr Kind rennt auf die Straße und Sie können nicht hinterherlaufen und es beschützen. Oder was ist, wenn es gar nicht laufen kann? Was, wenn es so geboren wird wie Sie? Er erklärte mir nie genau, wie meine nicht vererbbare Behinderung mein Kind beeinträchtigen könnte. Man setzte einfach voraus, dass mein Körper etwas Unvollkommenes produzieren würde. Bis heute weiß ich nicht, warum die Ärzte in meiner Kindheit dachten, ich könnte nicht schwanger werden. Mir wurde nie ein medizinischer Grund genannt. Man hatte mir mein Leben lang einfach erklärt, ich könne es nicht. Und ich glaubte eben meinen Ärzten. Ich übernahm diese äußeren Ängste und falschen Einschränkungen in einem so frühen Alter, dass sie von meiner eigenen inneren Stimme nicht mehr zu unterscheiden waren.
Während der Schwangerschaft fühlte ich mich nicht eine Sekunde lang gut. In Gedanken fragte mich ständig die Stimme meines Gynäkologen: Ist das ethisch vertretbar? Was, wenn das Kind geboren wird wie Sie? Ich war wütend und allein, auch wenn ich von anderen Menschen umgeben war. Ich hatte das Gefühl, dass man mir einen Großteil meiner Handlungsfähigkeit nahm. Nicht aber auf der Treppe, die zu unserer Wohnung führte. Auf mein Recht, ohne fremde Hilfe die Stufen hochzugehen, wollte ich nicht verzichten.
Eines Nachmittags versuchte ich die Flucht vor Judd vorzubereiten, bevor er in unsere Straße bog. »Heute fühle ich mich stark«, sagte ich. »Ich komme auf der Treppe zurecht, ich finde allein zurück.« Judd nickte lächelnd und sagte leise: »Ich bring dich einfach die Treppe hoch.« Ich öffnete die Beifahrertür, bevor das Auto vollständig hielt. »Ich mach das, warte«, sagte Judd und rannte zu mir. Ich lief in Richtung meiner Wohnung und schlug seine Hände von meiner Schultasche weg, die er unbedingt tragen wollte. Aber er hörte einfach nicht auf mich. Er war sicher, er wüsste es besser. Vielleicht dachte er, ich sei zu stolz und deshalb sei seine Hartnäckigkeit gerechtfertigt.
Ich nahm mir vor, ihm unmissverständlich meine Meinung zu sagen. Eine Woche später fuhr er mich nach Hause, und als er anhielt, sagte ich: »Du rührst dich nicht von der Stelle.«
Er lächelte und kam auf die Beifahrerseite.
»Fass mich nicht an«, sagte ich. »Fass mich nicht an, bitte.«
Er war verdutzt, dann amüsiert und fing an, mit mir zu verhandeln. Nur die Treppe hoch, sagte er, gib mir einfach deine schwere Tasche, lass sie mich wenigstens ins Treppenhaus tragen, es ist gefährlich für dich, allein hochzugehen, ich geh ein Stück hinter dir her, nur um sicherzustellen, dass jemand da ist, falls du stürzt, was ist, wenn du stürzt und dem Baby etwas passiert –
Ich schrie ihn an, er solle gehen, bis er verstummte.
Dieser Mann, der seine Zeit opferte, um mir zu helfen, hatte eine Quelle der Wut in mir angezapft. Die Zeit dehnte sich. Ich fühlte mich ungewöhnlich stark. Ich wusste, wenn ich stehenblieb und versuchte, mich ihm zu erklären, würde ich ihn verletzen.
Er rief nach mir, als ich mich entfernte.
»Fahr endlich«, sagte ich. »Verschwinde.«
Ich brauchte zweimal so lange, um die Treppe hochzukommen. Ich schloss die Wohnungstür. Judd schrieb mir eine SMS. Ich schaltete mein Handy ab. Endlich konnte ich allein sein.
In Utah denke ich die ganze Zeit an den Tag, als ich Judd verbannte. Ich sehe, wie er jede Bewegung seiner schwangeren Frau mit ängstlichem Blick verfolgt, und daran denke ich auch, während ich darauf warte, dass Peter Dinklage zu seiner Party erscheint, die, wie ich erfahre, eigentlich eine private Geburtstagsfeier für den Geschäftsführer der Filmdatenbank-Website ist. Die Preisverleihung ist nur ein Vorwand. Die Anwesenden sind alle Freunde. Sie scharen sich in Grüppchen und säumen die Wände.
Ich stehe in der Mitte des Raums und suche nach einem leeren Fleck Wand, an dem ich mich verkriechen kann. Aber es bietet sich kein Versteck an. Ich stehe allein da, drehe mich langsam in die eine, dann in die andere Richtung. Ich spüre die Blicke auf mir. Ich merke, wie mich einer nach dem anderen bemerkt. Ich drehe mich um, und es scheint, als hätte ich eine Welle ausgelöst. Die Blicke strömen an mir herab. Ich stelle mich dem Starren, und die Welle verebbt, kehrt zurück, als ich wegsehe, verebbt, kehrt zurück. Schließlich die Rettung: eine offene Bar am anderen Ende des Raums. Ich setze mich in Bewegung, werde aber von einer großen, dünnen Frau abgefangen.
»Ihnen muss schrecklich heiß sein«, sagt sie. Ihre Stimme klingt unnatürlich hoch, und sie geht in die Hocke, um einigermaßen auf Augenhöhe mit mir zu sein. »Soll ich Ihren Mantel nicht lieber aufhängen?«
»Nö.«
»Soll ich Ihren Mantel nicht lieber aufhängen?«, wiederholt sie etwas langsamer.
»Nein, danke.« Ich schüttle ihre Hand ab.
Ein Held tritt mit Häppchen ein. Ich verschlinge einen Cracker mit Hummersalat. Ich löchere den Kellner mit Fragen, bis er anfängt zu blinzeln, unentschieden in seiner Pflicht, seine Runde im Raum zu drehen und gleichzeitig mir gegenüber höflich zu bleiben. Ich sollte nach Hause gehen. Alle Argumente sprechen dafür. Ich warte in der Schlange an der Bar, und als ich vorne stehe, fragt der Barmann nach der Bestellung der Person hinter mir, die peinlich berührt zu mir herabschaut und schweigt, weil sie weder mich noch den Barmann in Verlegenheit bringen will, indem sie ihn auf seinen Fauxpas aufmerksam macht. Ich winke dem Barmann zu, und seine verärgerte Miene wird plötzlich verlegen. Dann flötet er: »Ups, ich hab Sie gar nicht gesehen, kleine Lady.«
Ich nippe an meinem Drink. Ich vermisse meine Freunde, meinen Mann. Ich kann gehen. Jetzt oder irgendwann. Die große, dünne Frau, die meinen Mantel nehmen wollte, steht wieder neben mir. Sie bedenkt mich mit einem betrunkenen Lächeln, beugt sich zu mir herunter und sagt: »Sind Sie mit Peter Dinklage hier?«
Zuerst verstehe ich die Frage nicht, weil er schließlich noch nicht da ist. Dann fällt mir auf, dass mich eine andere Gruppe in der Nähe neugierig ansieht und sich offenbar die gleiche Frage stellt. »Sind Sie mit ihm verwandt?«, fragt die große, dünne, betrunkene Frau.
Ein Mikrofon quietscht. Wir werden gebeten, uns im Halbkreis vor dem Podium einzufinden. Ich stehe am einen Ende. Peter Dinklage ist angekommen und steht am anderen. Wir stehen uns direkt gegenüber. Er ist ganz in Schwarz gekleidet. Unsere Blicke treffen sich. Wir sehen uns unverwandt an.
Ein Mann nimmt das Mikro und fängt an zu sprechen. Einige hören zu, andere hingegen beobachten mich und Peter Dinklage. Ihre Blicke wandern zwischen uns hin und her. Der Mann am Mikro liest eine vorbereitete Rede ab. Peter Dinklage, erklärt er uns, sei ein vollendeter Schauspieler und wunderbarer Freund.
»Wenn wir mit Peter arbeiten«, sagt er, »ist uns bewusst, dass wir auf den Schultern eines Riesen stehen.« Die große, dünne, betrunkene Frau verzieht die Mundwinkel und flüstert laut genug, damit auch ich es höre: »Also, das ist eine wirklich schlechte Wortwahl.«
Peter Dinklage tritt nach vorne, nimmt den Preis mit einem Schulterzucken entgegen und sagt: »Vielen Dank an alle in diesem Raum und an alle außerhalb dieses Raums, dass ihr mich so oft im Internet nachgeschlagen habt.« Die Leute lachen. Er fährt fort, bedankt sich und wünscht dem CEO der Internet-Datenbank alles Gute zum Geburtstag, dann hält er seine Trophäe hoch und lässt die Fotografen zu ihrem Recht kommen.
Fans und Verehrerinnen rücken drohend näher. Eine Wand aus Körpern schließt ihn ein. Er blickt in diverse Kameralinsen, geht dann durch den Raum, schüttelt höflich Hände, nickt, wenn erforderlich, lacht, wenn geboten. Er ist die kuriose Unterhaltungsnummer des Abends. Es scheint, als hätte er sich vorgenommen, das Ganze für eine bestimmte Anzahl von Minuten durchzuhalten, und sobald die Zeit abgelaufen ist, wird er verschwinden. Der innere Countdown steht ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass ich vermutlich das Ticken einer Stoppuhr hören würde, wenn ich neben ihm stünde.
Er geht an die Bar, um einen Drink zu bestellen. Der Barmann übersieht ihn, bis ein anderer Gast seinen Blick umlenkt und die ganze peinliche Szene, die sich zuvor bei mir abgespielt hat, von vorne beginnt, mit mir als Beobachterin. Ich habe das Gefühl, als sähe ich mich selbst, nur dass nicht ich es bin, sondern der internationale Star Peter Dinklage. Ich höre, wie Leute mit ihm sprechen. »Also wirklich«, setzt ein Fremder an, »durch diesen Schnee zu gehen muss sehr beschwerlich für Sie sein.« Ich stehe hinter den Kulissen und beobachte, wie der Schauspieler meine Rolle spielt. Peter Dinklage kam mit Achondroplasie zur Welt, mit stark verkürzten Armen und Beinen. Ich habe keine Achondroplasie, aber einen ähnlich verkürzten Unterkörper. Natürlich sind wir die zwei kleinsten Erwachsenen im Raum. Wahrscheinlich sind wir die zwei kleinsten Erwachsenen auf dem gesamten Sundance Festival.
Während der Barmann, der ihn übersehen hat, sich übermäßig entschuldigt, dreht Peter Dinklage sich um und überfliegt den Raum. Als er mich entdeckt, lächelt er leicht entnervt, und bei dieser Geste läuft mir ein Schauer über den Rücken, denn er weiß, dass ich weiß, was er durchmacht. Verwandtschaft, nannte es Plotin. Dieses prickelnde Gefühl des Erkennens, wenn die Seele sich in einer anderen gespiegelt sieht. Schönheit, nannte es Plotin. Verwandtschaft. Zwischen mir und Peter Dinklage? Halt, ich muss mich beruhigen. Durch seine Berühmtheit ist er mir fälschlicherweise vertraut, und ich muss mir in Erinnerung rufen, dass ich ihn nicht kenne, nie mit ihm gesprochen habe und ich weder seine Gedanken noch seine Gefühle ahnen kann. Wir sind nicht gleich. Unsere Körper sind nicht gleich. Unser Verstand bleibt unser eigener. Wir unterscheiden uns in Alter und Geschlecht, haben unterschiedliche Anamnesen, Berufe, Steuerklassen. Er ist eine berühmte Persönlichkeit, und ich weiß nicht, wie er es wahrnimmt, dass Fremde ihn ständig ansehen. Er ist ein eigenständiger Mensch, er ist nicht wie ich, wir sind nicht gleich, und das alles ist wichtig und wahr.
Aber vielleicht gibt es auch eine andere Wahrheit.
Vielleicht hätte er keine weiteren Erklärungen von mir gebraucht, wenn ich in diesem Moment zu ihm gegangen wäre und gesagt hätte: »Als ich schwanger war, hatten alle Angst.« Vielleicht hätte er nur genickt, wenn ich gesagt hätte: »Einer meiner Freunde wollte mich einfach nicht allein die Treppe hochgehen lassen.« Vielleicht hätte ich ihm nicht erklären müssen, wie verletzend das für mich war.
Er weiß, dass ich ihn beobachte. Er kommt zu mir, gibt mir die Hand und sagt: »Ich bin Peter.«
»Ich bin Chloé«, sage ich.
»Ein schöner Name«, erwidert er.
Ich erzähle ihm, dass ich mich auf die Premiere seines Films freue, die später in der Woche stattfindet. Er bedankt sich. Unsere Augen sind auf einer Höhe. Bei seinem Anblick habe ich das Gefühl, etwas Vertrautes zu sehen, das mir lange vorenthalten wurde. In seiner Stimme höre ich eine Muttersprache; zwischen unseren aneinandergepressten Handflächen spüre ich zwei Lebenslinien, die sich überlagern. Neben ihm ist mein Körper nicht fehl am Platz, und sein Körper ist neben meinem nicht fehl am Platz. Einen kurzen Moment lang fühle ich mich normal. Wenn ich ihn umarmen würde, würden unsere Körper perfekt zusammenpassen. Es wäre keine Arbeit nötig, um die Distanz zu verringern. Keine Anstrengung. Ich trete einen Schritt vor, halte inne und erröte. Es steht mir nicht zu, ihn zu umarmen. Er ist nicht mein Spiegel, nicht mein Zwilling, ganz gleich, wie sehr ich ihn als solchen bräuchte.
In meiner Grundschule gab es noch ein Kind mit einer Behinderung. Ein autistisches Mädchen. Sie und ihre Zwillingsschwester, ein Cello-Wunderkind und mutmaßliches Genie, gingen mit mir in eine Klasse. Das Mädchen und ich wurden immer zusammengesetzt und bei Projekten einander zugeteilt. Wir versuchten, Freundinnen zu sein, aber es ging nicht. Sie war sportlich, eine schnelle Läuferin, musste aber im Sportunterricht mit mir auf der Tribüne sitzen, wenn ich nicht teilnehmen konnte. Wenn sie in einem Fach Probleme hatte, ging man selbstverständlich davon aus, dass ich ebenfalls welche hätte. In der zweiten Klasse steckte man uns zusammen in einen Leseförderkurs, obwohl mein Leseniveau höher als das aller gleichaltrigen Schüler und sogar noch höher als das ihrer hochbegabten Schwester war, mit der man sie im Unterricht nie zusammenspannte. In den Augen unserer Lehrer war ich ihre wahre Zwillingsschwester. Man sah uns als Schülerinnen, die eine unglückliche Natur teilten. Wir wurden in einen Topf geworfen und beide für unfähig erklärt, aber ich mochte es nicht, für unfähig erklärt zu werden, und deshalb dachte ich, dass ich nicht als behindert angesehen werden wollte. Als ich klein war, weigerte ich mich sogar, das Wort auszusprechen; die Erfahrung lehrte mich, dass das Etikett mit der Einschränkung meiner Individualität einherging. Ich sträubte mich gegen meine Identität, um selbstbestimmt handeln zu können, und dabei übersah ich, dass ich vielleicht einen Platz in der Behinderten-Community hätte finden können, wo ich mich weniger einsam gefühlt hätte.
Die große, dünne, betrunkene Frau erscheint hinter Peter Dinklage. Sie stellt sich wackelnd zwischen uns und geht auf die Knie, um auf Augenhöhe zu sein.
»Entschuldigen Sie, dass ich störe«, sagt sie. »Ich muss Ihnen einfach sagen, wie toll meine Kinder Sie in Game of Thrones finden.«
»Schön«, sagt er mit fester Stimme. Sie ist ihm zu nah, nimmt seinen Ellbogen, verschleift ihre Worte.
»Aber« – sie beugt sich noch näher – »als Buddy in Der Weihnachtself finden sie Sie noch besser.«
»Entschuldigung«, sagt er und schüttelt sie ab, dreht sich um und verschwindet in der Menge.
Mit offenem Mund sieht die Frau erst mich und dann die Stelle an, die der fliehende Peter Dinklage eben verlassen hat.
»Warum will er nicht mit mir reden?«, sagt sie. Der Alkohol verstärkt ihre Gekränktheit. Ich zucke die Schultern und weiche zurück, bis mir klar wird, dass sie eine Antwort von mir erwartet.
»Oh«, sage ich. »Keine Ahnung.«
»Meine Kinder lieben ihn in Weihnachtself. Wir sehen den Film jedes Jahr«, sagt sie.
»Peter Dinklage spielt keinen Elf in Weihnachtself. Will Ferrell spielt den Elf.«
»Aber Sie verstehen sicher, warum ich mich getäuscht habe, oder?«, sagt sie.
»Ich verstehe, dass Sie Peter Dinklage gesehen und angenommen haben, dass er in Weihnachtself einen Elf gespielt hat.«
»Tja, ich bin wirklich widerlich.«
Ich sollte nach Hause gehen. Ich bin müde. Ich möchte so gerne schlafen. Sie legt mir eine Hand auf die Schulter.
»Vielleicht können Sie mir erklären«, sagt sie, »wo das Problem liegt, wenn ein Elf einen Elf spielt?«
»Ein Elf?«
»Ein Zwerg, der einen Elf spielt. Darf ich ihn Zwerg nennen?« Ihre Stimme ist jetzt weicher. Sie möchte unbedingt etwas wissen und ist überzeugt, dass ich ihr helfen kann. »Warum sollte er keine Rolle als Weihnachtself annehmen, wenn er anderen damit eine große Freude bereitet?«
Ich wende den Blick von der Frau ab und sehe, dass einige Gäste zuhören.
»Wie soll ich so eine Frage für ihn beantworten?«, sage ich.
»Na schön«, erwidert sie, »dann antworten Sie für sich. Wenn es andere glücklich machen würde, würden Sie dann die Rolle einer netten Elfin spielen?«
Ein paar Tage später werde ich bei der Premiere von Peter Dinklages Film sein, und ein Paar wird sich an mich wenden und fragen, wie es möglich ist, dass seine Figur Auto fahren kann, worauf ich antworte, dass ich nicht beim Film bin, und sie wiederum fragen: Gut, aber wie fahren Sie Auto?
Ein Fremder in der Menge brüllt: »Da geht der klitzekleine Peter«, als der Schauspieler die Bühne betritt.
Und am Tag danach drängt sich auf einer verschneiten Straße ein junger Mann in Skiausrüstung an mir vorbei, dreht sich um und schreit mir ins Gesicht: »Lernen Sie, richtig zu gehen.« Und später wird ein weiterer Mann mich auf dem Bürgersteig anhalten und sagen: »Was stimmt nicht mit Ihnen?« Er gehört zu den vielen, die meinen Weg gekreuzt und mir diese Frage gestellt haben.
Ich verlasse die Peter-Dinklage-Party. Ich bin wieder allein. Draußen ist es kalt, tiefer Schnee. Ich nehme einen Bus, der mich zum Glück nicht weit von meinen Freunden entfernt absetzt. Ich sehe flackerndes Licht im Wohnzimmer. Im Kamin brennt Feuer.
Ein Van hält neben mir. Der Fahrer ruft heraus: »Steigen Sie ein, ich fahre Sie nach Hause.«
»Nein, danke«, sage ich.
»Ich arbeite beim Festival.« Er zeigt mir eine amtlich aussehende Transportmarke. »Ich bin kein Spinner.«
»Nein, danke«, wiederhole ich. »Ich bin fast zu Hause.« Ich zeige auf die Wohnung meiner Freunde.
»Steigen Sie einfach ein. Ich bring Sie eben hin.«
»Das ist wirklich nett, aber nein, vielen Dank.«
»Ich kann Sie nicht zu Fuß nach Hause gehen lassen. Es ist sehr glatt.«
»Ich bin vorsichtig.«
»Wenn man Eis nicht sieht, kann man nicht vorsichtig sein. Der Schnee liegt sehr hoch. Es ist schwerer, als Sie glauben, in so hohem Schnee zu gehen.«
»Ich komme zurecht, danke.«
Ich drehe mich von seinem Fenster weg und laufe weiter.
»Ich fahre nur hinterher, um sicherzugehen, dass Sie heil nach Hause kommen.« Sein Tonfall ist hoch und drängend. Und dann folgt er mir. Seine Räder fahren knirschend durch den verharschten Schnee, sodass ich ihn trotz abgewandtem Blick ständig höre. Mein Gesicht brennt. Jede meiner Bewegungen wirkt vergrößert unter dem prüfenden Blick des Fahrers. Seine genaue Beobachtung hemmt mich. Ich bin eine Fremde für ihn. Wenn ich im Schnee ausrutsche, würde dieser Mann seine Zurückhaltung ablegen, und zum Vorschein käme ein Monster der Sorge, des Mitleids, der vernachlässigten Pflicht, das mich anbrüllen und sagen würde: Ich hab es ja gesagt.
Der Mann bleibt im Wagen sitzen und beobachtet mich, bis ich im Haus verschwinde. Drinnen erwartet mich ein Raum voller Menschen, die mich kennen und lieben. Meine Freunde, mein Mann. Sie sitzen vor dem Feuer und trinken Wein. Bobby schenkt mir ein Glas ein. Ich erzähle von dem Mann, der mir gefolgt ist, und Iris sagt gedankenverloren: »Das ist wirklich nett. Dort draußen liegt ziemlich viel Schnee.«
Judd wirkt besorgt. »Ich hätte dich abholen sollen«, sagt er. »Ich hätte dich nach Hause fahren sollen.«
»Erinnerst du dich, als du schwanger warst und Judd dich herumgefahren hat und du dir nicht beim Treppensteigen helfen lassen wolltest?«, fragt Iris. »Manchmal bist du wirklich ein Sturkopf.« Judd lacht. Andrew nickt. Bobby dreht ein Holzscheit im Kamin um. Sie haben nicht unrecht. Manchmal bin ich stur. »Inzwischen macht Judd bei allem, was ich tue, einen Riesenwirbel«, sagt Iris. »Das kann nervig sein.«
»Ich will nur helfen«, sagt Judd mit rotem Gesicht.
Ich ziehe Schuhe und Mantel aus und setze mich auf die Couch. Meine Freunde erzählen von ihrem Tag. Sie sprechen über eine große Distanz zu mir.
Am Ende unseres Abends in der Sycamore Bar, kurz vor meiner Abreise nach Utah, hatte ich zu Jay gesagt: »In unserem Fachbereich erwartet jeder, dass ich mich mit feministischer Philosophie oder Disability Studies beschäftige, aber den Leuten, die das machen, wirft man vor, dass sie von Identitätsstudien profitieren und keine ›echte Philosophie‹ betreiben. Und noch schlimmer, wenn ich für Fachzeitschriften schreibe, sagt man mir, ich sei Autorin und keine richtige Akademikerin. Für Redakteure wiederum bin ich eine Akademikerin und keine richtige Autorin, ein Nobody, ein letzter Ausweg, und für Journalisten bin ich ein Eindringling, für Agenten und Publizisten eine verdammte Idiotin –«
»Stimmt«, sagte er, »aber du tust das alles freiwillig. Keiner zwingt dich, über ein Filmfestival zu berichten. Du nimmst ständig Angebote an, damit du weiterhin die Außenseiterin, der Neuling bleiben kannst. Du suchst dir das selbst aus. Wir reden schon lange nicht mehr über Behindertenklischees. Ich glaube, du hast Angst, dass dir überhaupt eine Identität zugeschrieben wird. Was willst du nicht wahrhaben? Wem willst du zuvorkommen?«
In meinem Gespräch mit Jay steckte mein Denken in einer falschen Dichotomie fest: Ich sah mich als jemand, der entweder durch eine Definition eingeschränkt war oder außerhalb einer solchen einsam blieb, aber ich hatte keinen Raum für die dritte Möglichkeit gelassen, die ich in Peter Dinklages Handschlag zu mir fand. Er hatte mir einen Moment geschenkt, in dem ich mich gesehen und verstanden fühlte, im Hier und Jetzt. Doch dieses Gefühl war nicht von Dauer, ich konnte es nicht festhalten. Irgendwann stürmte der Rest der Welt wieder auf mich ein, der Rest, der mich ständig daran erinnert, dass ich fehl am Platz, suspekt und eigenartig bin; ein subversiver, provokanter, verbotener Körper; ein vergessener Körper, übersehen bei der Konstruktion von Stühlen, hohen Theken, Waschbecken, Treppen, Regalen. Aber weil dem so ist, kann ich mich daran gewöhnen und mir sogar vormachen, dass ich keine Veränderung brauche. Ich kann dafür sorgen, dass ich nichts mehr empfinde. Auf diese Weise kann ich sogar vor mir selbst verschwinden.
Ich sitze im Schein des Feuers zu Hause bei meinen Freunden, in den Armen meines Mannes. Die Distanz zwischen mir und ihnen ist nie größer gewesen. Ich fühle mich allein, als wäre ich eine Unbekannte für sie. Nichts wird daran etwas ändern. Ich kann ihnen meine Geschichten erzählen, aber nicht meine Erfahrung übertragen. Vor dem Händeschütteln mit Peter Dinklage war es leichter gewesen, das zu ignorieren. Aber was nutzt sein Verständnis oder das Gefühl, verstanden zu werden, wenn es den Alltag nur erschwert? Nichts zu fühlen ermöglichte es mir, unter nicht behinderten Menschen zu leben. Die Ähnlichkeit hielt mich nur kurz aufrecht und ließ mich dann aus noch größerer Höhe stürzen – und nun spüre ich jeden Schmerz bewusster und jede Wunde reißt neu auf; ich löse mich von Andrew und lege die Arme um mich; ich spüre die Anstrengung, mich ständig erklären zu müssen. Es könnte sein, dass er mich liebt, ohne mich wirklich zu kennen. Wem wollte ich zuvorkommen? Was wollte ich nicht wahrhaben?