Meine Mutter ist hungrig.

»Bestell dir irgendwas«, sage ich zu ihr.

»Ich geh eben nach oben und esse ein paar Nüsse, die ich eingepackt habe«, sagt sie.

»Frag nach der Speisekarte«, sage ich.

»Wen soll ich nach einer Speisekarte fragen?«

Ich zeige auf ein paar Typen mit Sonnenbrillen, die hinter einer Tiki-Bar stehen, deren Dach mit Plastikgras gedeckt ist. Einen Augenblick lang bin ich wieder am Mekong bei Chetra und liege auf dem Rücken in einer Hütte über dem schlammigen Fluss. Ich horche auf das Phantomgeräusch der Dorfjungen, die mit Tüten voller Mangos herbeischwimmen, um sie zu verkaufen. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, ich wäre woanders, aber dann reiße ich mich zusammen. Ich richte mich auf und öffne die Augen. Wolfgang ist im Wasser und schwimmt.

Den Rest des Frühjahrs und den ganzen Sommer über habe ich für GQ über Tennis berichtet. Matt, der australische Journalist, hatte recht gehabt: Man gewöhnt sich schnell an das Unterwegssein. Die Pressekonferenzen waren nicht mehr angsteinflößend, und es erinnerte sich ohnehin niemand an eine meiner Fragen. Inzwischen fühlte sich alles normal an, ein Job, den ich bald aufgab, um zu lernen, wie man über etwas Neues schreibt.

Es ist Herbst, drei Tage vor Wolfgangs siebtem Geburtstag, den wir hier feiern werden, in einem Hotel am Meer in Miami. Wir haben es geschafft, auch meine Mutter mitzuschleppen. Es ist unser erster richtiger Familienurlaub.

»Ich gehe eben aufs Zimmer und esse ein paar Nüsse, die ich eingepackt habe«, wiederholt meine Mutter. Sie ist froh, bei uns zu sein, fühlt sich aber auch ein bisschen elend. Sie will nicht in Urlaub fahren, um zu entspannen, wenn sie Urlaub macht, will sie reiten, und das am liebsten auf widerspenstigen Pferden auf tückischen Pfaden in Montana oder New Mexico.

Wir sitzen steif auf unseren Liegestühlen. Ich winke nach einer Speisekarte, und ein Kellner bringt eine, zögert jedoch, als er das missmutige Gesicht meiner Mutter sieht.

»Mom«, sage ich und stupse sie an. Sie greift lasch nach der Speisekarte, liest beide Seiten mehrere Male.

»Ich geh die Nüsse in meinem Koffer holen«, sagt sie.

»Okay«, sage ich.

»Na gut! Na gut!«, sagt sie und bestellt einen Kokosnuss-Smoothie. Sie beobachtet Wolfgang, der im flachen Becken um sich schlägt.

Der mit Obst dekorierte Smoothie wird auf einem Silbertablett serviert, und der Anblick entsetzt meine Mutter. Sie schnippt den Papierschirm weg wie eine Stechmücke. »Was ist das denn?«

»Dein Kokosnuss-Smoothie«, sage ich.

»Ein lächerlicher Kokusnuss-Smoothie«, korrigiert sie mich.

»Du kannst es nicht ertragen.«

»Nein«, sagt sie.

»Keine Arbeit in Sicht.«

»Du machst dich über mich lustig.« Sie nippt an ihrem Smoothie. »Du glaubst, ich bin zu schlicht für dieses hübsche Hotel.«

»Ich glaube, du kannst nur Dinge genießen, die durch mühselige Arbeit erreicht werden. In deinem Kopf ist ein Rad, das sich ständig dreht.«

»Immerhin habe ich aufgehört, nach Aufsätzen zum Korrigieren zu suchen. Ich war zwar schon zehn Jahre in Rente, bis es so weit war, aber ich habe aufgehört. Und jetzt bist du ständig am Korrigieren.«

Sie hat recht. Auf meinem Schoß liegt ein Stapel, aber ich hatte die Arbeit abgebrochen, nachdem ich meinen Stift in den Tiefen des Liegestuhls verloren hatte.

Wolfgang treibt auf einem weißen Einhorn vorbei. Ein anderes Kind schwimmt zu ihm, packt ihn am Bein und wirft ihn vom Schwimmreifen. Mein früheres Ich schäumt vor Wut, bereit, jeden Fremden in unserer Nähe zu hassen. Doch im Augenblick denke ich nur an Wolfgang, der mit wilden Augen auftaucht und nach mir sucht, obwohl ihm nichts passiert ist.

»Hilfe! Hilf mir!«

»Ist doch nichts passiert!«, sage ich. »Schwimm einfach, versuch zu schwimmen!«

Wolfgang ist zu verängstigt. Er weiß nicht, dass ihm nichts passieren kann, weil er noch am flachen Ende ist. Er muss nur die Beine strecken, dann steht er auf festem Grund. Aber er ist völlig panisch und sinkt. Andrew reißt sich aus einem halbherzigen Nickerchen und springt ins Wasser.

Meine Mutter sagt: »Müssen wirklich alle Songs gecovert werden?«

Im Ferienresort sind überall versteckte Lautsprecher. Im Augenblick läuft die Reggae-Version von »Karma Police«.

»Ich brauche eine Pause von« – meine Mutter zeigt zu den Palmen – »der Party.« Als Nächstes läuft »Take on Me« als Reggae. Sie sagt: »Dieses hübsche Resort muss lernen, manche Songs in Ruhe zu lassen.«

»Mom?«

»Was?«

»Vermisst du deine tägliche Arbeit?«

Ihr Pferd Jimmy war vor einer Woche gestorben. Sie sagt: »Am Ende konnte Jimmy kein Heu mehr fressen. Ich musste ihm Rübenbrei machen. Ich habe einen Spalt in eine Karotte geschnitten und seine Tabletten hineingesteckt. Jeden Abend habe ich ihm etwas Besonderes gekocht, es ihm gebracht, ihn zugedeckt, und jetzt ist er fort.«

»Tut mir leid, das mit Jimmy, Mom.«

»Ich wusste, dass Jimmy nicht ewig lebt. Das wusste ich.« Sie sieht mich gedankenverloren an, schließt die Augen, und ihr Gesicht verdüstert sich. »Es ist schrecklich«, sagt sie und schüttelt ungläubig den Kopf, »was sie mit diesem Song gemacht haben.« Aus dem verborgenen Lautsprecher tönt eine Reggae-Version von »Walkin’ After Midnight«.

Wir trocknen uns ab und gehen auf unser Zimmer, um uns auszuruhen. Ich schalte den Fernseher ein und zappe durch die Kanäle. Andrew und Wolfgang kuscheln auf einem der zwei Hotelbetten und dösen ein. Meine Mutter und ich liegen wach auf dem anderen Bett.

»Es ist hell draußen«, sagt meine Mutter. »Eigentlich sollten wir irgendwas unternehmen.«

»Willst du CSI sehen?«, frage ich sie.

»Ich mag keine Morde«, erwidert sie. »Wollen wir nicht mit Wolfgang in den Park?«

»Er schläft, Mom. Willst du Law & Order sehen?«

»Morde interessieren mich nicht.«

Wir einigen uns auf einen Songwettbewerb.

»Mein Gott«, sagt sie. »Haben die alle viele Haare.«

Endlose Werbespots. In einem kommt ein Junge vom College nach Hause, und seine Mutter freut sich sehr über das Wiedersehen, aber er hat ständig etwas vor, trifft sich mit seinen Freunden, und seine Mutter ist furchtbar traurig. Ich betrachte Wolfgang. Auf seinem Kissen ist ein Kranz aus Schweiß. Sein Mund ist weit geöffnet und seine Lippen zucken beim schweren Ein- und Ausatmen. Er hat ein Bein und einen Arm um seinen schlafenden Vater geschlungen. Ich mache ein seltsames Geräusch.

»Was soll das?«, flüstert meine Mutter.

»Nichts.«

»Was ist das für ein Geräusch?«

»Dramatisches Seufzen, schätze ich.«

»Lass das.« Sie stupst mich an. »Was ist los?«

»Im Augenblick bin ich Wolfgangs Lieblingsmensch«, sage ich. »Ich möchte keinen Tag erleben, an dem das nicht so ist.«

»Du meinst, du willst nicht, dass er erwachsen wird.«

»Irgendwann geht er ans College und hält mich für langweilig.«

»Du liebe Güte«, sagt meine Mutter und verdreht die Augen.

»Warst du traurig, als ich ans College ging?«

»Natürlich.«

»Du hast nichts gesagt, als du mich nach Boston gebracht hast. Du hast mich nur vor dem Wohnheim abgesetzt und dann hieß es: ›Bis bald!‹«

»Das stimmt nicht!«

»Du hast mich in einer großen Stadt zurückgelassen, weit entfernt von zu Hause.«

»Aber ich hatte Angst.«

»Davon hab ich nichts gemerkt. Das hast du versteckt.«

»Ja, weil ich nicht wollte, dass du Angst hast.«

Wir fahren mit dem Taxi zum Abendessen. Der Fahrer kam gerade aus Haiti an und hatte bis vor einer Woche in seinem Wagen geschlafen. Meine Mutter stellt ihm Fragen. Als wir aussteigen, gibt sie ihm ein paar Geldscheine.

»Mom«, sage ich auf dem Weg zum Restaurant, »ich hatte schon bezahlt.«

»Jeder freut sich über ein bisschen Bargeld«, sagt sie.

Ein Mann, der an uns vorbeigeht, hört das und fragt meine Mutter, ob sie einen Zwanziger wechseln kann, worauf sie erwidert: »Moment … mal sehen.« Sie öffnet ihr Portemonnaie und holt langsam die Scheine heraus.

»Nein«, sage ich zu dem Mann. »Kein Wechselgeld für einen Zwanziger«, und schiebe meine Mutter durch die Tür des Restaurants.

»Du bist so unfreundlich«, sagt sie. »Ich hab dich nicht großgezogen, damit du so unfreundlich bist.«

Als der Kellner an unseren Tisch kommt, sagt meine Mutter: »Haben Sie Ihren Römersalat weggeworfen? Römersalat löst wieder E. coli aus.«

Unser Kellner nickt traurig. »Armer Römersalat.«

»Schon zum zweiten Mal!«, sagt meine Mutter. »Die Leute wurden schon mal mit Kolibakterien angesteckt, und jetzt haben sie kein Vertrauen mehr.«

Der Kellner und meine Mutter unterhalten sich fünf geschlagene Minuten lang über Salate, und als wir mit dem Essen fertig sind, bringt er meiner Mutter einen Nachtisch, der aufs Haus geht.

Auf der Rückfahrt zum Hotel erzählt uns eine Taxifahrerin eine andere traurige Geschichte: Ihr Mann hat sie verlassen, als Nächstes wurde ihre Mutter krank und sie zog in die schlimmste Stadt der Welt zurück, in ihren Augen Miami, und dann starb ihre Mutter am vergangenen Dienstag.

Meine Mutter hört zu, stellt Fragen und überlässt der Fahrerin, als wir ausstiegen, ihren eingepackten Nachtisch und eine Handvoll Geld.

»Schau mal!«, sagt meine Mutter, als sie Wolfgang am nächsten Morgen weckt und ihm ein Schokocroissant auf die Brust legt. Sie ist seit Stunden wach gewesen, hat die beste Bäckerei in Miami ausfindig gemacht und jedem eine Leckerei mitgebracht.

Wolfgang packt das Croissant an einem Ende, betrachtet es skeptisch und fragt: »Sind da Erdnüsse drin?«

»Nein«, sagt meine Mutter.

»Mein Dad kann von Erdnüssen sterben.«

»Das wissen wir doch«, sagen meine Mutter und ich.

»Ich esse grundsätzlich keine Erdnüsse«, sagt Wolfgang.

»Das wissen wir doch«, sagen wir.

Mein Sohn sagt: »Dad hat mich vor dem Ertrinken gerettet, deshalb will ich nicht, dass er stirbt.«

»Du warst nicht am Ertrinken«, sagt meine Mutter. »Du warst nur mit dem Kopf unter Wasser.«

Wolfgang zieht eine Schnute.

»Willst du dich selbst bemitleiden oder ein Croissant essen?«, fragt meine Mutter, die neben Wolfgang sitzt.

Er betrachtet das Gebäck von allen Seiten. Dann beißt er hinein, kaut, nimmt noch ein paar Bissen und sagt: »Ich hab das noch nie gegessen, aber jetzt weiß ich« – er wischt sich Schokolade vom Mund –, »das hat mir mein Leben lang gefehlt.«

Wir essen im Freien zu Mittag. Eine Frau kommt von der Straße zu uns.

»Ich bin ungefährlich«, sagt die Frau.

»Wir haben kein Geld«, sage ich. »Gar nichts.«

»Ich habe seit Tagen nichts gegessen«, sagt die Frau.

»Hier«, sagt meine Mutter, »nehmen Sie unser Essen!«

»Nein, ich bin durstig«, sagt die Frau. »Sehr durstig.«

»Hier«, sagt meine Mutter, »nehmen Sie unser Wasser!«

»Könnte ich stattdessen fünf Dollar haben?« Meine Mutter holt ihr Portemonnaie heraus.

Ich fahre mit dem Arm dazwischen.

»Wir haben kein Bargeld«, sage ich. Die Frau verschwindet.

»Warum lässt du mich der Frau nichts geben?«

»Wenn du ständig Geld gibst, vermittelst du allen, sie sollen nehmen, nehmen, nehmen.«

Meine Mutter sagt: »Die Frau hat Hilfe gebraucht.«

»Sie betrügt dich«, sage ich. »Warum lässt du das mit dir machen?«

»Aber du weißt es doch nicht«, sagt meine Mutter. »Du kannst nicht sicher sein, dass jeder nur nehmen, nehmen, nehmen will! Manchmal bist du wirklich hart.«

Andrew und Wolfgang essen ihre Sandwiches und sehen sich auf Andrews Handy ein Video an.

»Einmal«, sagt meine Mutter, »war ich in Eile und hatte kein Geld bei mir, nicht einen Cent. Ich wartete vor dem Krankenhaus auf deinen Großvater, bei dem einige Untersuchungen gemacht wurden, und rannte zum Auto, wo ich einen Vierteldollar auf dem Boden fand, den ich in die Parkuhr steckte, damit ich keinen Strafzettel kriege. Auf dem Rückweg zum Krankenhaus kam ich an einem Mann vorbei, der auf dem Gehsteig saß und mit ausgestreckter Hand um Geld bat. Ich schaute ihn gar nicht an, weil ich mir Sorgen um Opa machte und nur schnell zum Krankenhaus zurück wollte, und dann brüllte mich der Mann an: ›Sie nehmen nicht mal zur Kenntnis, dass ich hier bin! Mein Leben ist so schwer, und Sie behandeln mich, als wäre ich nichts, als wäre ich Müll, den schon irgendwer aufheben wird‹, und ich schrie zurück: ›Sie wissen überhaupt nichts von mir. Ich stehe vor einem Krankenhaus, aber Sie fragen sich nicht, warum!‹, und darauf er: ›Tut mir leid, Sie haben recht, Sie könnten Schmerzen haben‹, und ich entschuldigte mich ebenso bei ihm. Dann unterhielten wir uns eine Weile und gingen als Freunde auseinander.«

»Er war nur nett, um an dein Geld zu kommen«, sagt Wolfgang, ohne von seinem Video aufzublicken. Man kann sich nicht unterhalten, ohne dass er mithört, es gibt kein Versteck, an dem er mich nicht im Blick hat. Ich schrecke zusammen. Meine Mutter sieht erst mich, dann Wolfgang an. Sie zieht ihn an sich und küsst ihn auf den Kopf.

»Ich habe dich nicht großgezogen, damit du so zynisch bist«, sagt meine Mutter zu mir.

»Hast du doch! Du hast gesagt, ich soll einfach meine Karten ausspielen und mir nehmen, was ich brauche, ohne zurückzublicken, erinnerst du dich?«

»Das war vielleicht eine meiner vielen Aussagen in unserem ganzen gemeinsamen Leben. Und das hast du dir gemerkt und zum Prinzip erhoben. Sei nicht so ungerecht. Du hast immer das Gefühl, dass du benachteiligt bist«, sagt meine Mutter zu mir.

»Natürlich«, gebe ich zurück.

»Du sagst das, als ob du darauf stolz wärst. Aber du belastest dich nur mit der Wut und dem Groll, die du mit dir herumschleppst. Was muss passieren, damit du das änderst?«

Am nächsten Morgen erwache ich vor der Dämmerung und höre Rauschen durch das offene Fenster. Meine Mutter ist bereits angezogen und sitzt still in einem Sessel in der Ecke. Sie starrt in die frühe Morgendunkelheit hinaus, vermutlich hält sie Ausschau nach einem Stall, den sie ausmisten kann. Mein Sohn und mein Mann schnarchen vor sich hin. Ich ziehe mich an, und dann gehen wir wortlos aus dem Raum durch den Flur und fahren mit dem Fahrstuhl in die Lobby, wo riesige Kaffeespender stehen. Wir schlendern nach draußen, alles ist still.

»Zum Glück ist die Party vorbei«, sagt meine Mutter.

Die am Grund angebrachten Poollichter tauchen die Wasseroberfläche in gespenstisches Neongrün. Einige Männer kauern am Beckenrand und fischen Blätter heraus. Sie winken meiner Mutter zu, die sie namentlich begrüßt. Wir durchqueren den Innenhof und schlendern zum Meer.

»Wie lang ist diese Strandpromenade?«, fragt meine Mutter.

»Sehr lang.«

»Was für ein Alptraum.« Sie ist stehengeblieben, betrachtet die Holzplanken und zählt die Nägel in jeder Planke: acht.

»Irgendein armer Typ«, sagt sie.

»Wer?«

»Der Wartungsmann, der die ganzen Nägel herausziehen muss, wenn die Planken ausgewechselt werden.«

»Wer?«

»Jemand, der Sachen repariert«, sagt sie. »Derjenige, der Sachen repariert. Ein Arbeiter. Die Welt besteht nicht nur aus Urlaubsgästen.«

Über dem Wasser hängen schwere Wolken. Die Sonne beginnt ihren Aufstieg mit einem Streifen am Horizont. Der Strand ist leer. Er gehört uns allein. Wir sitzen im kalten Sand und trinken unseren Kaffee. Meine Mutter zählt die verschiedenen Blautöne, die sie erkennt.

»Dad hat mir kürzlich geschrieben«, sage ich.

»Ach ja?«

»Das heißt, eigentlich schon vor einem Jahr.«

»Geht es ihm gut?«, fragt meine Mutter.

»Er ist jetzt in einem Priesterseminar.«

»Einem was?«

»Einem Priesterseminar.«

»Und was macht er da?«

»Keine Ahnung.«

»Welche Art von Job macht er da?«

»Keine Ahnung.«

»Er hat nur geschrieben: ›Hallo, ich bin jetzt in einem Priesterseminar‹?«

»Er hat geschrieben, dass die einzige glückliche Erinnerung an früher die Autofahrten mit mir waren, als ich sieben war.«

»Das glaube ich sofort«, sagt meine Mutter. »Durch die Gegend fahren, mit dir reden, deinen verrückten Ideen zuhören, das war nach seinem Geschmack. Er hat sich unglaublich gern mit dir unterhalten. Er hat nur nicht gewusst, wie man –«

»Wie man was?«

»Dranbleibt. Mit dir etwas zu Ende zu machen. Er war immer sicher, dass etwas fehlt, das er bestimmt in der nächsten oder übernächsten Sache findet.«

»Vielleicht findet er es in dem Priesterseminar.«

»Du bist jetzt so alt wie dein Vater, als er uns das letzte Mal verließ, und Wolfgang ist so alt, wie du damals warst. Das geht mir durch den Kopf. Denkst du manchmal darüber nach? Du und dein Vater habt vieles gemeinsam.«

»Was zum Beispiel?«

»Ihr verwendet beide gern Zitate. Ihr mögt Konzepte. Ihr versteht es meisterhaft, alles, was ihr macht, zu rechtfertigen, indem ihr euch auf Ideen beruft.«

»Und du tust das nicht?«

»Doch. Niemand ist davon ausgenommen. Der Grund, warum ich deinen Vater nicht verlassen habe, war die Überzeugung, dass das richtige Konzept für eine Familie im Zusammenbleiben bestand. Ich habe ein Konzept der konkreten Wahrheit vorgezogen. Aber ich dachte, ich wäre vielleicht nicht in der Lage …«

»Nicht in der Lage wozu?«

»Dich allein großzuziehen. Also bezog ich mich auf eine Idee – das Ideal der Familie – und es war ein hilfreiches Konzept, aber nicht richtig.«

»Ich glaube, wenn ich nicht behindert geboren worden wäre, wenn ich das Kind gewesen wäre, das er sich gewünscht hat, dann wäre er geblieben.«

»Absolut falsch. Völlig daneben. Das ist dein großes Problem. Du siehst immer die falsche Kränkung.«

»Wie meinst du das?«

»Du musst versuchen, weniger zu grübeln. Die meisten Dinge, deretwegen du dich verletzt fühlst, haben nichts mit dir zu tun. Dass dein Vater wegging, hatte nichts mit dir zu tun. Er war derjenige mit den Handicaps, nicht du. Er hatte Angst.«

»Und was ist mit dir?«, frage ich schließlich.

»Wieso?«

»Hattest du Angst? Du behauptest immer, dass du keine Angst hattest, als ich geboren wurde, dass du dir keine Sorgen meinetwegen gemacht hast, aber irgendwie kann das nicht sein. Es fällt mir schwer, das zu glauben.«

»Du glaubst, ich bin nicht ehrlich?«

»Nicht absichtlich, aber, im Ernst, für Frauen gilt das eherne Gesetz, dass man sein Kind lieben muss. Es wird erwartet, dass man sein Kind will. Meinst du nicht, dass du mit diesem Konzept deine wahren Erinnerungen ein wenig abmilderst?«

»Nein, nein. Als der Arzt dich mir gegeben hat –«

»Und ich völlig verdreht war –«

»Unterbrich mich nicht mit deiner Version der Geschichte. Wenn du willst, dass ich dir alles erzähle, dann hör auf, ständig deinen Senf dazuzugeben.«

»Tut mir leid.«

»Hör zu«, sagt sie.

»Tut mir wirklich leid, Mom.«

»Der Arzt hat dich mir gegeben, und ich habe dieses schöne gesunde Kind gesehen, mein Kind.«

»Wirklich?«

»Ja, du hast gestrahlt, richtig gestrahlt.«

»Du hattest überhaupt keine Angst?«

»Nein. Für mich war das kein erschreckender Moment. Ich sah dir in die Augen, und dein Gesicht war so … Du warst so lebendig. Ich sah ein Licht, ein Bewusstsein, dich, mein Kind. Ich hatte keine Angst, weil ich nicht bei mir war, nicht an mich dachte. Ich war nur bei dir. Das ist die reine Wahrheit.«

Mein Vater hatte eine Idee für ein Kinderbuch. Er erzählte sie mir oft, als ich klein war. Es sollte eine Geschichte über Schönheit sein. Sie beginnt mit einem Vater, der seiner Tochter gute Nacht wünscht. Die Tochter hat Angst vor dem Alleinsein und bittet den Vater, bei ihr zu bleiben und ihr etwas zu erzählen. Was soll ich dir erzählen?, fragt der Vater, und die Tochter antwortet: Erzähl mir etwas über Schönheit. Was ist das schönste Ding auf der Welt? In dem Moment erscheint eine Schlange am Fenster. In der westlichen Tradition genießen Schlangen einen schlechten Ruf. Sie gelten als Symbole für das Böse und die Versuchung. In der östlichen Tradition hingegen stehen Schlangen mitunter für Wachstum und Wiedergeburt. Die Schlange kommt durchs Fenster herein, nimmt die Tochter und sagt, sie wird ihr die Welt zeigen. Die Schlange führt sie zum Taj Mahal, und die Tochter fragt: Ist das das schönste Ding auf der Welt? Die Schlange verneint, und dann zeigt sie ihr den Grand Canyon, und die Tochter fragt: Ist das das schönste Ding auf der Welt? Und die Schlange verneint und bringt sie auf den Gipfel des Mount Everest, dann zu den Basaren in Nepal und schließlich zu den Tempeln in Japan. Die Tochter fragt: Was von alldem ist das Schönste? Und die Schlange erwidert: Nichts davon ist das Schönste. Ich zeige dir einen letzten Ort. Und die Schlange fliegt mit dem Mädchen über Kansas zurück zu einer bekannten Straße und durch das Fenster eines bekannten Hauses, und die Schlange sagt: Öffne die Augen, und da sitzt der Vater und liest seiner Tochter diese Geschichte vor.

Mein Vater wusste, dass eine gute Geschichte ein Kreis ist, der den Helden mit neuem Wissen an den Anfangspunkt zurückführt. Er wollte, dass es so ist. Er wusste auch, dass eine gute Geschichte mit der Erkenntnis des Helden endet, dass die Welt größer ist, als er dachte, größer als er selbst. Doch das wird dem Helden erst bewusst, wenn er nach Hause zurückkehrt, und mein Vater hatte in seinem Leben kein Vorbild für die Rückkehr, nur für die Suche, und so konnte er die Geschichte nicht schreiben, weil er nie bis zum Ende kam.

»Manchmal«, sage ich zu meiner Mutter, »habe ich das Gefühl, dass ich nicht weiß, wie ich nach Hause zurückkehren soll.«

Sie zuckt die Schultern und zeigt hinter sich auf unser Hotel, in dem meine Familie schläft.

»Was für eine Verschwendung«, sagt sie. Meine Mutter hatte keine Geduld mit Leuten, die sich nicht zusammenreißen können.

»Du hast das Gefühl erwähnt, das du hattest, als du mir in die Augen geschaut und mich gesehen hast … Ich hatte dieses Gefühl nicht, als Wolfgang geboren wurde. Für mich war das ein beängstigender Moment. Ich habe ihn angesehen und hatte große Angst.«

Wir schweigen eine Weile und lauschen den Wellen.

Dann sagt sie: »Als ich dir am Tag deiner Geburt in die Augen sah, hatte ich ein Gefühl von Verbundensein – mit dir, ja, aber es war mehr als das. Ich fühlte mich mit der Mutterschaft verbunden, dieser komplexen menschlichen Erfahrung, und plötzlich wurde die Welt sehr groß. Eine Blende öffnete sich. Aber wenn die Welt größer erscheint, werde ich im Vergleich dazu kleiner. Für Menschen wie dich und deinen Vater, die sich als Protagonisten einer großen Geschichte sehen, kann das schwierig sein. Ihr wollt spüren, wie ihr größer werdet, während die Welt aufgrund eures Intellekts kleiner wird. Aber das ist eine Falle. Ihr seid nur ein kleines Stück vom –« Sie winkt mit der Hand in Richtung Meer. »Egal, was man durchmacht, die eigene Geschichte ist eine unter vielen. Versuch, dich darauf zu konzentrieren«, sagt sie. »Auf das Gefühl, dass die Welt größer wird.«

Später am Tag beobachten wir, wie Andrew mit Wolfgang auf den Schultern zu einer Sandbank schwimmt. Er wirft ihn ins Wasser, fischt ihn wieder hoch, schwenkt ihn um die Schultern, hebt ihn in die Luft und taucht ihn wieder ins Wasser. Meine Mutter verfüttert unser Mittagessen an die Möwen. Später spielen uns kleine Zufälle in die Hände. Türen öffnen sich, wenn wir näherkommen. Tische mit Meerblick sind für uns frei. Wir fühlen uns besonders, wir halten das Glück fest, so lange wir können, wohlwissend, dass es uns nicht gehört.

Meine Mutter liest Wolfgang aus seinem Lieblingsbuch vor. Ich korrigiere Essays, aber die Stimme meiner Mutter macht es mir unmöglich, mich zu konzentrieren. Regen zieht auf, kein Strand heute, der Himmel ist schwarz.

Meine Mutter blickt auf und sagt: »Möchtest du etwas über Rondie hören?«, und dann liest sie die Geschichte von einem Mädchen vor, das zweiundzwanzig wunderschöne Zähne hatte. Wolfgang kichert neben ihr auf dem Bett, den Kopf auf ihrer Schulter. In ein paar Stunden bringen wir sie zum Flughafen. Wir bleiben noch einen Tag, bevor wir nach Brooklyn zurückkehren. Vor uns liegen hektische Monate mit vielen Verpflichtungen, wir werden sie also lange Zeit nicht wiedersehen.

Unser Hotelzimmer ist klein. Zwei Betten, ein Bad, Balkon, Stuckdecke. Der Raum ist eng, ich spüre, wie unsere persönlichen Geräusche aufeinanderprallen. Von meinem Mann kommt das leichte Geräusch von Stoff auf Stoff, weil er, ein unverbesserlicher Zappelphilipp, seine bestrumpften Füße aneinanderreibt. Er liegt auf dem Bett neben mir und verliert sich in einem Videospiel. Seine Finger bewegen sich, Tasten klacken; Wolfgang niest und lacht; meine Mutter kratzt sich mit dem Handballen die Nase – wie viele Male in meinem Leben habe ich diese seltsame Geste bei ihr beobachtet? Tausende Male – und sie liest weiter. Ich versuche, eine mentale Barriere gegen meine unmittelbare Umgebung zu errichten, es ist alles so nah und ausdauernd, zerrt an meinen Nerven. Ich gebe das Korrigieren auf und starre auf einen Artikel auf meinem Handy, doch die durchdringende Stimme meiner Mutter wirbelt die Wörter auf dem Display durcheinander.

Meine Mutter sagt: »Möchtest du etwas über Mrs. Gorf hören?« Und dann liest sie eine andere Geschichte aus Wolfgangs Buch über eine fiese Lehrerin mit spitzer Zunge und Spitzohren. Mit schriller Stimme ahmt sie Mrs. Gorf nach: »Im Klassenzimmer ist Weinen verboten!«

Ich drehe mich zu Andrew, nehme ihm das Handy aus der Hand und lege meinen Kopf an seine Brust. Er umarmt mich, küsst mich aufs Haar und flüstert mir zu, dass ich eine nette Ehefrau bin.

»Fang von vorne an«, sage ich zu meiner Mutter. »Fang mit der Geschichte noch mal von vorne an.«

Sie blättert ein paar Seiten zurück und beginnt von neuem mit der Geschichte des schlafenden Mädchens, das auf sein Pult fällt und aus dem Fenster rollt. Ich erinnere mich. Das Buch gehörte mir, bevor es an Wolfgang überging. Sie hatte es mir vorgelesen, als ich in seinem Alter war. Ich betrachte Wolfgang, der sich an meine Mutter kuschelt.

Als die Geschichte zu Ende ist, klappt sie das Buch zu und sagt: »Fertig.«

»Mehr, Yoyo!«, sagt Wolfgang.

Yoyo nannte er sie, als er sprechen lernte und das Wort lola – Großmutter – nicht sagen konnte. Yoyo blieb hängen. Wir nennen sie noch heute so.

»Mom, sag Yoyo, dass sie noch eine vorlesen soll«, sagt er.

Er wurde geboren und änderte meinen Namen und ihren Namen. Er küsst Yoyo auf die Wange. Unsere Balkontür ist offen, der Regen rauscht, und die Wellen rollen endlos ans Ufer, beide parfümieren die Luft, Salz und Eisen. Meine Mutter liest noch eine Geschichte vor.

»Mehr«, sagen wir, als sie fertig ist. Ich drehe das Gesicht in mein Kissen.

»Nein, nein«, sagt meine Mutter. »Ich bin müde.«

»Mehr!«, sagt Wolfgang. »Wir sind deine Kinder! Du musst uns vorlesen!«

Ich drücke mich noch fester ins Kissen, weil ich ihren Anblick nicht ertragen kann, aber ich weiß, sie schaut mich an, ihre Stimme dringt zu mir.

»Okay«, sagt sie, »die letzte.« Sie trinkt einen Schluck von ihrem (lächerlichen) Kokosnuss-Smoothie. Inzwischen liebt sie ihn. Dann holt sie tief Luft, schlägt das Buch auf, und die Stimme, die ich am besten kenne, beginnt zu lesen. Ich höre der Stimme zu, die sich durch das Rauschen des Regens und der Wellen webt, und dann gelangt meine Mutter ans Ende der nächsten Geschichte, atmet durch, und als wir sicher sind, jetzt ist Schluss, beginnt sie mit der nächsten.

Wolfgang weckt mich vor Sonnenaufgang mit einem Ellbogen in meinem Auge. Irgendwann nachts hatte er sein Bett verlassen und ist zu mir gekrochen. Seine Beine liegen über meiner Hüfte, seine Arme vor meinem Gesicht, sein Atem heiß auf meiner Wange.

»Wolfgang«, fauche ich, wütend, so früh wach zu sein. Ich schiebe die klebrigen Beine von mir.

Tief aus dem Nebel des Schlafs murmelt er: »Ich hab dich lieb.«

»Wach auf«, sage ich.

Er zieht sich an und verlässt schläfrig mit mir das Zimmer. Wir gehen durch den Flur, fahren mit dem Aufzug nach unten, durchqueren die Lobby und den Innenhof. Auf der Strandpromenade bücke ich mich und sage zu Wolfgang: »Stell dir vor, du wärst ein Arbeiter, der diese –«, doch er ist längst verschwunden und rennt davon, um die blaue Brandung zu begrüßen. Möwen stieben im Sturzflug herab. Wellen treffen auf Wellen, weiße Gischt auf dem Sand. Die Sonne ist wankelmütig und geht jeden Tag anders auf. Als ich mit meiner Mutter hier war, erschien sie wie ein wütender Daumenabdruck am Horizont, der die Wolken rot färbte. Heute reckt sie sich hinter einem hauchdünnen Vorhang aus Wolkenbändern empor und gleitet mit einem Hauch von Rosa in den Himmel. Ich vermisse meine Mutter und wünschte, sie wäre noch hier.

Wolfgang rennt am Strand vor mir her, mein Junge, mein losgelassener Schatten. Ich denke an Andrew, der im siebten Stock tief schläft. Er hat mich geliebt, obwohl er wusste, dass ich nicht immer gut, tapfer, glücklich oder zuverlässig sein würde. Er ließ mich meinen eigenen Weg gehen, in der Gewissheit, dass ich am richtigen Ort ankäme. Sein Glaube an mich, seine selbstlose Liebe – er gab einfach. Und meine Mutter, die Königin der nackten Wahrheiten, auch sie hatte ihre Liebe freimütig und vollständig gegeben. Am Tag meiner Geburt hatte sie mich angeschaut und nur mich gesehen.

Mein Vater schrieb von dem Glück, das er bei unseren gemeinsamen Autofahrten auf dem Land verspürt hatte – nur wir beide in unserem Ford 350, mit heruntergelassenen Fenstern, der von der Schotterstraße aufsteigende Staub stechend in unseren Augen, er und ich, plaudernd, lachend, glücklich, und dann hatte er geschrieben: »Aber Chloé war mir nicht genug. Ich verließ sie trotzdem.« Ich war nicht wütend, als ich das las. Inzwischen verstehe ich es. Auf einem Ultraschallbild hatte ich ein Wesen gesehen, das in mir heranwuchs, und mich gefragt: Wessen Kind ist das?

Ich war die Tochter meines Vaters, und seine Zukunft hätte meine sein können, wäre ich nicht gleichzeitig die Tochter meiner Mutter gewesen und Andrews Frau und Wolfgangs Mutter. Sie haben in mir Stück für Stück eine neue Fähigkeit aufgebaut. Ich kann hier und jetzt glücklich sein.

Die Wolken über mir bilden eine Form, die sich sogleich in Nichts auflöst. Form weicht Formlosigkeit. Wolfgang baut eine Sandburg, die von einer Welle zerstört wird. Die Sonne steigt höher. Um uns herum die unharmonischen Geräusche eines neuen Tages. Ein Strandrechen erwacht rumpelnd zum Leben und zieht schabend vorbei; ich höre das Geplapper von Leuten, die sich ebenfalls den Sonnenaufgang ansehen; als Nächstes folgt das Platschen von Wolfgangs Füßen, die den Sand aufwirbeln, während er zu mir zurückrennt; und im Sand: Mücken, Muschelschalen, Zigarettenkippen, zuckende Viecher, Tierkadaver, Flügel, Federn, Tang, Müll. Wolfgang fällt auf die Knie, gräbt, sucht und findet Schätze – Muscheln und Steine. Hinter uns Musik, schreckliche Musik. Unser Hotel lässt die Party neu aufleben.

Am Ende seines Briefes schrieb mein Vater: Vor dreieinhalb Jahren habe ich mit dem Trinken aufgehört. Ich lerne sehr langsam. Er veränderte sich. Wenn er das konnte, kann ich es auch. Ich fühle etwas wie Vergebung, nur umfassender.

Wolfgang und ich gehen an den Rand des Wassers. Es schwappt über meine Knöchel, schwemmt den Sand unter meinen Füßen weg, und ich habe das Gefühl zu fallen, aber es ist nur der Boden unter mir, der sich mit der Flut bewegt. Wir blicken aufs Wasser hinaus. Ich hatte mir gewünscht, dass Schönheit ein reines Gefühl ist, das mich klar und unleugbar durchdringt, das Wahrheit schafft und ein so starkes Licht aussendet, dass es mein ganzes Leben erhellt. Doch stattdessen kam ein dichter, treibender Haufen, der eine Herausforderung mit sich brachte: Konnte ich das Wesentliche erkennen? Wolfgangs mit Sand verklebtes Haar, seine zitternden knochigen Schultern, sein leuchtend rotes Zahnfleisch, glitschig und geschwollen, weil neue Zähne durchbrachen; seine glänzenden grauen Augen; seine Hand in meiner. Uns wurde keine Vollkommenheit geschenkt, keine Göttlichkeit, keine Symmetrie, keine anmutigen Maße, kein schlechtes Blatt und auch kein Fluch; wir wurden nur mit einem Leben beschenkt, um es gemeinsam miteinander zu verbringen. Unser Leben, nicht leicht oder frei von Schmerz. Man hatte uns ein echtes Leben geschenkt, schrecklich normal und erhaben. Endlich erkenne ich die Schönheit dieses Lebens und werde mir nicht mehr wünschen, es wäre anders.