Wolfgang steht neben mir in der Mitte des Raums. An den Wänden hängen kleine Gemälde. Licht dringt durch die gläsernen Öffnungen des Sägezahndachs. Die Zacken des Dachs erinnern an eine Klaue, die sich in den Himmel krallt. Das Gebäude wurde gebaut, um Nabisco-Schachteln zu bedrucken, und die Form des Dachs sollte die Arbeiter vor der sengenden Sonne, nicht aber vor ihrem Licht schützen.

Wir sind wieder in New York. Zwei Stunden nördlich von Brooklyn. Wolfgang ist sieben Jahre und eine Woche alt. Wir sind übers Wochenende auf einem kleinen Abenteuer, nur wir beide.

Wolfgangs Hand liegt warm in meiner. Da, wo wir stehen, sieht die Kunst grob, klein, unverständlich aus, jegliche Feinheit verloren im weitläufigen Raum. Ich nähere mich einem Bild und denke nur, dass es mir schwerfallen wird, noch mehr Kunst anzuschauen. Das Bild vor mir ist kompliziert, voller Widersprüche, glaube ich jedenfalls zuerst, aber ich betrachte es länger und zwinge mich, genau hinzusehen, bis ich eine Ahnung davon bekomme, und dann warte ich noch eine Weile, denke noch ein zweites und drittes Mal darüber nach. Ich sehe es mit frischer Geduld und verarbeite Stück für Stück die in Farbe und Strich verborgenen Botschaften – und nach einer Weile erscheint eine Ordnung.

Wolfgang reißt sich mit einem Ruck von mir los. Meine verlassene Hand hängt kurz im Raum, ehe sie an mein Bein fällt. Er gleitet auf die Knie und quietscht vergnügt. Seine Stimme hallt von den Wänden. Dann ist er verschwunden.

Ich flüstere seinen Namen. Ich bilde mir ein, das Tappen seiner Sneaker in einem anderen Raum hinter der Tür am Ende dieser endlosen Galerie zu hören. Ich durchquere den Raum so schnell, wie es mein Körper zulässt.

Meine rechte Hüfte schmerzt, will sich ausruhen, mein rechter Fuß ist schwer, ich falle, ich stehe wieder auf, mein Handgelenk pocht, meine Hüfte pocht.

Das Museum ist wirklich riesig. Ein gewaltiger Raum öffnet sich zum nächsten. Weite und Leere verwirren mich. Das einzige Licht fällt durch die Fabrikfenster in der Decke herein. Was fehlt, ist die unsichtbare Hand geplanter Beleuchtung, die den Blick auf das in stabiles Licht getauchte Objekt lenkt, als wollte sie ihm einen Heiligenschein verleihen, der uns daran erinnert, dass alles Wichtige montiert, beleuchtet und beschriftet ist. Was außerdem fehlt, ist die plötzliche Erleichterung, die sich unter dem grellen Neonlicht des Museumsshops einstellt, dem Signal, dass die auferlegte Konzentration zu Ende ist und man sich wieder leichteren Gedanken hingeben darf.

Ich erreiche gerade den nächsten Raum, als ein grauhaariger Aufseher Wolfgang zu mir zurückführt. Der Aufseher ist überzeugt, dass ihm hier die Autorität obliegt, und sagt streng: »Miss, er darf hier nicht einfach …« Aber dann verstummt er, weil er sieht, wie ich gehe.

Wolfgang jammert. Er langweilt sich. Geht zu einer Bank in der Ecke des Raums, setzt sich mit dem Rücken zu mir und lässt die Schultern hängen, um eine schmollende Haltung vorzugeben. Ich bin froh, ihn los zu sein, und sehe mir ein Gemälde an. Dann setzt die Scham ein, die sich mit dieser Freude verbindet. Ich sehe mich unwillkürlich um, ob jemand in der Nähe ist und mein Verhalten beurteilt.

Ich setze mich kurz zu Wolfgang auf die Bank. Als ich nach seiner Hand greife, zieht er sie schnell weg. Er ist alt genug, um zu wissen, dass er mir nur seine Liebe verweigern muss, um mir wehzutun.

»Wolfie …«, sage ich. Er schüttelt den Kopf, steht auf, rennt los und ist wieder verschwunden.

Auf der Suche nach ihm gehe ich von Galerie zu Galerie, ohne ihn zu finden. Erst bin ich verärgert, dann besorgt. Der Schmerz in meiner Hüfte jagt ein Stechen durch meine rechte Seite. Wo ist Wolfgang?

»Haben Sie einen kleinen Jungen gesehen?«, frage ich den grauhaarigen Aufseher. Er hat uns im Auge behalten. Er nickt und zeigt auf eine Treppe. Ich folge ihr nach unten, in einen neuen Raum, früher der Güterwagenschuppen der Fabrik, doch als ich jetzt an der Schwelle stehe, scheint es mir unmöglich, dass dieser Raum je etwas anderes war als ein Container – eine aus Holz, Beton und Glas bestehende Membran – für die vier gewaltigen Skulpturen in der Mitte.

Die anderen Galerien waren offen, zu offen, haben mich mit der Wucht ihrer Weite erschlagen, aber dieser Raum hier verengt sich um die Skulpturen, verweigert einen weiten Blick und zeigt nur Teile des Ganzen. Durch eine nach Westen weisende Wand aus Fensterscheiben fällt schräges Licht herein; der Boden ist glatt und grau wie Flusskiesel.

Die Skulpturen sind riesig und düster. Als ich mich ihnen nähere, ragen sie drohend über mir auf. Ihre tatsächliche Form lässt sich nicht auf den ersten Blick erfassen. Sie erinnern an riesige, kippende Zylinder, die fast an die Decke reichen. Auf der Suche nach Wolfgang umkreise ich die Skulpturen und rufe seinen Namen. Ich folge dem Echo seiner Schritte, hole ihn aber nicht ein.

In einem Interview sagte der Künstler Richard Serra, dass er bei der Gestaltung dieser Skulpturen – den Torqued Ellipses – an japanische Gärten dachte, in deren Design verborgene Elemente angelegt sind, die man erst entdeckt, wenn man sie durchschreitet. Was man vom Garten sieht, hängt davon ab, wo man steht, der Blick ändert sich mit jedem Schritt. Der Garten kann nicht auf einmal erfasst werden; seine Realität ist an die Position des Betrachters gebunden, aber im Gehen verändert sich diese Realität, sie wird fließend, wechselhaft durch Raum, Zeit, Bewegung.

Serra befasste sich mit dem japanischen Konzept ma, der Idee, dass der Raum, die Leere, die Pause zwischen zwei Objekten, zwischen zwei Gedanken, zwischen Sätzen, Wörtern, Atemzügen genauso wichtig ist wie die Dinge selbst. Die Serra-Installationen enthalten eine verborgene zweite Form in sich, und der Betrachter kann einen schmalen Pfad zwischen den beiden ungewöhnlichen Formen gehen. Entscheidend ist also nicht die Skulptur mit ihren riesigen, gewundenen Metallwänden, die man sehen und berühren kann, sondern der Raum dazwischen. Die Skulptur ist Abwesenheit, und das sichtbare Material, so Serra, ist lediglich die »Haut um die Leere«.

Die Installationen fühlen sich rau an, rostig. Als ich in der untergehenden Sonne um sie herumgehe, verändert sich ihre Farbe von rot zu bernsteinfarben, dann ocker, orange. Da das einzige Licht durch das Fenster fällt, ist alles Sichtbare durch die Zeit geprägt – durch diese einsame Minute, durch diese Stunde, Jahreszeit, dieses Klima, durch die Wolke, die sich gerade vor die Sonne schiebt. Die Muster, die das Licht auf den Skulpturen erzeugt, werden sich nie wiederholen, jedenfalls nicht genau – wenn ich die Skulpturen betrachte, sehe ich sie also zum ersten und letzten Mal, das nächste Mal werden sie anders wirken, man kann diesen Moment nicht festhalten, er kehrt nicht wieder, er existiert und endet.

Ich rufe Wolfgangs Namen und höre ein Schlurfen. Ich rufe erneut, sicher, dass er in der Nähe ist, aber ich sehe ihn nicht. Ich umkreise eine der Skulpturen, bis ich an einen Spalt gelange, eine etwas mysteriöse Öffnung, wie eine Geheimtür. Ich betrete die Skulptur und sehe eine weitere hohe Wand im Inneren. Zwischen den beiden Wänden befindet sich ein schmaler, labyrinthischer Weg, vermutlich bewege ich mich also zwischen zwei konzentrischen Kreisen und deshalb projiziert mein Geist Erwartungen, wie der weitere Weg aussehen wird. Ich sehe meine festgelegte Zukunft, doch von einer Sekunde auf die nächste wird sie neu geschrieben.

Die seltsam schiefen, gewundenen Wände wirken instabil. Sie neigen sich einander zu, und wenn man weitergeht, driften sie auseinander. Mit jedem Schritt verändert sich die Entfernung zwischen ihnen. Ich höre das dumpfe Tappen kleiner Füße vor mir und denke: Ah, Wolfgang spielt hier drin, für ihn ist dieser schmale Gang vermutlich eine tolle Rennstrecke. Ich bleibe stehen und horche; er ist vor mir, ganz bestimmt, aber als ich weitergehe, passiert etwas Seltsames, die Wände wölben sich in meine Richtung, schließen sich fast über mir, und der Raum, in dem ich stehe, wirkt plötzlich ganz klein und dunkel, und Wolfgang ist nicht da, er ist nirgends. Der Effekt ist verwirrend, alles wird ein bisschen verschwommen und traumähnlich.

Serras Absicht war es, sowohl die Innen- als auch die Außenwände der Skulpturen so zu verdrehen, dass es aussieht, als würden sie sich ständig im Wechsel einander zuneigen und auseinanderstreben. Die von Serra entworfenen Formen erwiesen sich als mathematisch unmöglich; der Drehwinkel war zu groß, und jedes Mal, wenn er eine der Wände anzufertigen versuchte, zersprang der Stahl. Die Proportionen stimmten nicht, und so musste er von vorn beginnen. Er war entschlossen, etwas vollkommen Neues zu schaffen, Formen zu gestalten, die noch nie jemand gesehen hatte, sodass der Verstand, wenn man zwischen ihnen hindurchging und sie teilweise sah, den Rest der Form nicht ergänzen konnte; jede Vermutung erwies sich mit jedem Schritt als falsch.

Schließlich fand Serra einen Schiffsbauer in Baltimore, der die unmöglichen Formen möglich machte. Während ich zwischen ihnen gehe, wird mein imaginierter Weg – entstanden durch vergangenes Wissen und projizierte Zukunft – ständig durchkreuzt. Ich werde wacher, aufmerksamer. Ich trete näher an die Skulptur heran, betrachte sie konzentriert und versuche zu erkennen, was sich wann vielleicht ändert.

Im Inneren der Skulptur gibt es nur die Gegenwart, die sich unvorhersehbar entfaltet – das einzige Vergnügen besteht also darin, nicht zu wissen, was einen erwartet. Es ist ein kindliches Vergnügen, unverdorben, angstfrei, süß. Ich kenne das Gefühl von früher, wenn ich als Kind hinter dem Farmhaus meiner Mutter in Kansas durch den Wald streifte, bis ich mich verlaufen hatte. Die Bäume, zwischen denen ich umherwanderte, standen sehr dicht, und diese Dichte störte mein Verständnis von Ort und Entfernung. Im Wald verlor ich leicht die Orientierung, war verwirrt und dachte, ich hätte eine große Strecke zurückgelegt, dabei war ich in Wirklichkeit im Kreis gelaufen. Die Bäume mit ihren Blättern und Ästen filterten und krümmten das Licht, und das brachte mich durcheinander und ließ mich glauben, dass es plötzlich Abend war. Wenn ich eine Lichtung erreichte und der Weg heller wurde, hatte ich das Gefühl, als ginge die Sonne wieder auf und ein neuer Tag bräche an. So ging es weiter, die Zeit änderte sich willkürlich, sprang hin und her, bis ich den Wald verließ und nach Hause zurückkehrte.

Umgeben von Richard Serras Wänden, denke ich an mein eigenes verlorenes Kind und flüstere seinen Namen: Wolfgang.

Ich machte den Schwangerschaftstest ohne Angst. Ich wusste, er würde negativ sein. Ich wusste, ich konnte nicht schwanger werden. Andrew und ich stellten einen Timer und tanzten in der Küche. Am nächsten Tag sah ich das Gesicht meines Sohnes auf einem Bildschirm. Ein Ultraschallbild zeigte mir seine Form in der meinen. Mein Körper hatte sich ausgedehnt zu einem unmöglichen Oval, und darin befand sich ein anderer Körper, atmend, eingerollt zu einer Kugel, mein Sohn, da war er, dieser zweite Geist, Augen und Nase und Mund, und eine zweite Wirbelsäule, die, im Gegensatz zu meiner, gerade war. Mein Leben enthielt ein anderes. Niemand sagte etwas. Der Arzt hielt den Zauberstab an meinen Bauch und ließ den Moment gnädigerweise schweigend verstreichen. Ich starrte auf den Bildschirm und spürte, wie ich zwischen Entsetzen und Ehrfurcht hin- und herschwankte, wie mich diese beiden großen Gefühle überwältigten und alles andere ausschlossen. Ich beobachtete meinen Sohn auf dem Bildschirm, und es schien, als fiele ich in das Bild, in dessen Mitte sein Gesicht war, fremd wie die Oberfläche des Mondes, und da war ich, mein Körper, der eine Leere umfing.

Sechs Monate, bevor ich schwanger wurde, war ich in New York und stolperte aus einer Bar in Manhattan in die Arme eines Freundes. Damals war die Stadt noch neu für mich; ich war gerade von Kansas dorthin gezogen, und ich sah in ihr nur das Spiegelbild meiner eigenen Energie und Sehnsüchte. In den folgenden Jahren würde die Stadt über mich hereinbrechen, doch zu der Zeit liebte ich sie aufrichtig und bedingungslos. Es war Sommer. Andrew lernte ich erst im September kennen. Mein Freund winkte einem Taxi, und plötzlich waren wir unterwegs, fuhren über die Williamsburg Bridge, während der Mond von der Seite auf meinen Freund schien, in diesem Moment der schönste Freund der Welt. Ich ließ meine Hand aus dem Fenster hängen und dachte, wie toll es doch war, in einem schnellen Taxi durch eine Sommernacht zu rauschen, den Wind in Gesicht und Haaren. Ich schloss die Augen und der Moment verlangsamte sich, ich war mir sicher, dass ich nicht mehr im Taxi saß, sondern schwerelos durch die dicke Sommerluft schwamm. Ich öffnete die Augen, und die Welt wurde schneller, die Skyline unscharf, die Scheinwerfer der anderen Autos rasten vorbei, über uns nur blitzende Sterne. Ich wurde auf die Rückseite des Beifahrersitzes geschleudert und schmeckte Blut im Mund.

Das Taxi hielt irgendwo in Brooklyn an. Mein Freund führte mich zu einem verschlossenen Tor. Hinter dem Tor war schwarzes Nichts, ein leeres Grundstück zwischen Gebäuden. Ein Schlüssel tauchte auf und wir gingen hinein.

»Setz dich und warte«, sagte er und ging mit mir zu einer Bank in der Mitte des dunklen Platzes.

Er verschwand wieder durch das Tor und blieb ziemlich lange weg, aber ich hatte keine Angst. Ich schloss die Augen, überließ mich der Strömung des Augenblicks, versank in mir selbst und spürte nicht den geringsten Schmerz. Ich stellte mir vor, wie mein Körper auseinanderbrach und meine Moleküle sich über das leere Grundstück ergossen. Mein Freund erschien wieder mit einer braunen Flasche, und wir tranken, bis ich anfing, mit alkoholisierter Offenheit über all meine Träume, meine Hoffnungen, meine Pläne zu reden. Ich sah mich mit wenig Besitz, wenig Bedürfnissen, in einem um Wissen und Kunst gestalteten Leben.

Er nickte, legte eine Hand auf meinen Rücken, als wollte er sagen: Echt? So viel? Das alles hast du vor? Er war eine dichte Gestalt im schummrigen Licht. Während wir uns unterhielten, ging die Sonne auf und andere Formen erschienen. Ich stellte fest, dass wir nicht auf einem leeren Grundstück saßen, sondern in einem Garten, der, so erklärte er mir, der Nachbarschaft gehörte. Jeder konnte ein Stück für sich beanspruchen und dort anbauen, was er wollte. Was in der Dunkelheit wie Grabparzellen ausgesehen hatte, waren erhöhte Gartenbeete. An den Seiten unserer Bank befanden sich Spaliere, um die sich Pflanzen rankten.

Es wurde heller, die Umgebung nahm Gestalt an. Je mehr ich sah, umso mehr veränderte sich die Luft. Plötzlich war sie vom Duft nach Erde erfüllt, ich hörte das Summen von Insekten und Vogelgesang.

Ich hatte das Gefühl, als hätte ich den Garten durch mein Reden zum Leben erweckt – mit jedem Wort schälte er sich deutlicher aus der Dunkelheit heraus. Und ich war überzeugt, dass die Zukunft, die ich mir wünschte, einfach so eintreten würde. Ich musste nur die Samen pflanzen, dann würde die Sonne meinen Einsatz belohnen und sie zur Blüte bringen. Ich wollte jedes Land bereisen und jede Sprache sprechen. Ich war sicher, dass in mir eine Künstlerin steckte, die Bücher schreiben würde. Ich wäre eine Intellektuelle, eine Dichterin, eine Abenteurerin, ein T.E. Lawrence. In meinem imaginären Leben war kein Platz für ein Kind.

Es war unmöglich.

Man hatte es mir so oft gesagt.

Mein Körper war nicht vereinbar mit der Entwicklung eines Lebens.

Wessen Kind war das also?

In den Tagen und Monaten nach seiner Geburt lag ich wach und wartete darauf, dass mein Sohn schrie. Wenn er zu lange still blieb, überkam mich die Gewissheit, dass er gestorben war. Ich stand im Morgengrauen auf und ging langsam zu seiner Krippe. Ich spürte das Gewicht jedes Schrittes, jeden Zentimeter, und wusste, wenn ich den Raum durchquerte und in seine Krippe schaute, würde ich eine Wahrheit erfahren, die ich nicht mehr vergaß. Ich legte meine Hand auf seine kleine Brust, spürte, wie sie sich hob und senkte und hob; ich war erleichtert, dass er lebte, und gleichzeitig empört, denn das hieß, dass ich mich um ihn kümmern musste, und ich war wütend auf mich selbst, weil ich buchstäblich eine Liebe in die Welt gesetzt hatte, die mein Leben zerstören konnte.

In manchen Nächten wachte ich verwirrt auf, unsicher, ob es Morgengrauen oder Abenddämmerung war, und ich wartete, horchte auf sein Geräusch, und wenn es nicht kam, stand ich auf und ging zu seinem Zimmer, legte die Hand auf den Türknopf und war mir sicher, dass mein Wahn gleich enden würde, denn wenn ich die Tür öffnete, würde ich nicht sein Kinderzimmer, sondern mein altes Büro vorfinden, mit all meinen unberührten Büchern und Papieren, den ungestrichenen Wänden, und dann rieb ich mir die Augen und versuchte, die letzten Bilder eines merkwürdigen Traums auszulöschen, in dem ich Mutter geworden war.

Der Pfad im Innern der Skulptur wird schmal. Die beiden in unterschiedlichen Winkeln gewölbten Ellipsen bilden eine Form in einer Form, eine Verzerrung in einer Verzerrung. Die Metallplatte, ein warmes Rostbraun, das Licht, die Röte meines Schoßes, Wolfgangs rotes Gesicht, sein nasser, sich windender Körper in meinen Armen, seine Stimme, die nach mir ruft.

Ich glaube, ich erreiche eine Sackgasse. Vielleicht wartet Wolfgang dort auf mich, am entferntesten Punkt. Ich gehe weiter, sicher, dass ich ihn gleich oder beim nächsten oder übernächsten Schritt sehe. Der Raum wird enger, die Wände schließen sich um mich, es ist so eng, dass ich mich kaum bewegen kann, aber ich gehe weiter, und die Wände wölben sich voneinander weg, Licht strömt herein und plötzlich ist der Weg breiter. Keine Sackgasse, wie ich gedacht hatte, sondern eine Fortsetzung mit verändertem Weg. Wolfgang bleibt weiter verschwunden.

Einen Augenblick lang frage ich mich, ob ich träume.

Vielleicht bin ich kurz davor aufzuwachen.

Je länger ich diese Möglichkeit in Betracht ziehe, umso wahrscheinlicher scheint es, dass mich die Hand meines Freundes jeden Moment wachschüttelt und ich mich in dem Garten in Brooklyn wiederfinde, in einem Körper, der nicht vereinbar mit der Entwicklung eines Lebens ist, und die Sonne gerade aufgeht. Wolfgang wird ein Detail aus einem verblassenden Traum sein. Wollte ich das? Ist das mein Wunsch? War es der meines Vaters? Nein. Ich glaube, wenn er könnte, würde er sich dafür entscheiden, zusammen mit mir im alten Ford auf die Schotterstraßen zurückzukehren. Und mein Wunsch wäre, dass ich irgendwie diesem Weg zurück in meine Küche folgen könnte, wo mein verängstigtes jüngeres Ich mit einem positiven Schwangerschaftstest in der Hand allein dasaß. Ich wünschte, ich könnte meinem früheren Ich die Hand reichen, einen Blick auf den positiven Test werfen und sagen: Und? Was hast du jetzt vor? Es war keine göttliche oder magische Stimme, keine Offenbarung, sondern meine eigene Stimme, die mich aufforderte, mich der harten Wahrheit zu stellen.

In der Mitte der Skulptur ist ein weit geöffneter Kreis, Serras Leere. Der Kreis enthält nichts.

Wolfgangs Lachen hallt irgendwo wider. Er muss in der Nähe sein.

Aristophanes im Symposion: »Liebe ist lediglich der Name für das Verlangen und das Trachten nach dem Ganzen.« Ich hatte dieser Lektion zu genau zugehört. Wenn Liebe der Name für das Trachten nach dem Ganzen ist, wie nennt man dann das Finden?

Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf das Gefühl, dass die Welt ein wenig größer wird.

Als ich die Augen öffne, ist Wolfgang da und rennt schelmisch lachend auf mich zu.