Niederbarnimer Eisenbahn

Sila verteilte das neue Hellgrün auch noch in den letzten Ecken, stieg von der Leiter und wusch den Pinsel aus.

Es war ein langer Weg gewesen vom »Zauber der Wüste« über »Zeit der Eisblumen« bis zum »Erwachen des Frühlings« von heute. Sie wusste schon, was die Farbe ihr sagen wollte.

Frühling bedeutete Kraft, Zuversicht, Offenheit.

So groß Silas Abneigung gegen Veränderungen auch war und sosehr sie sich wünschte, dass hier, wo sie sich sicher fühlte, alles für immer so bleiben würde – diesmal konnte sie sich nicht drücken. Sie musste eine Lösung für den Wickenhof finden. Alles andere wäre nicht fair. Nicht dem Hof und auch nicht dem unbekannten Herrn Hoffmann gegenüber. Und vor allem Wanda hatte das nicht verdient.

Wenn Indra sie damals nicht so sehr an Wanda erinnert hätte, hätte sie sich vielleicht an jenem ersten Tag gar nicht erst in die Künstleretage getraut. Was wäre dann wohl aus ihr geworden? So gesehen war Wanda wohl nicht nur an den hellen Stunden ihrer Kindheit, sondern auch an diesem guten Weg beteiligt, den Sila hatte gehen dürfen. Sie war ihr etwas schuldig.

 

Es war längst dunkel geworden. Sila trank noch einen warmen Zitronensaft auf dem Balkon, während sie den Farbgeruch auslüften ließ. In letzter Zeit war in ihr trotz allem eine Art Unruhe aufgekommen. Die Dunkelheit machte es irgendwie leichter,

Es war spät geworden. Als sie hineinging, stellte sie fest, dass es immer noch nach Farbe roch. Kurzerhand ließ sie die Fenster offen und rollte sich, anstatt nach Hause zu gehen, auf der alten Couch zusammen.

 

Als sie aufwachte, fiel die Morgensonne direkt auf die grüne Wand. Die sah so ähnlich aus, wie Sila sich fühlte. Frisch und ausgeruht, nicht nur vom Schlaf. Sie trat auf den Balkon und sah nach, wer in den Blumenkästen frühstückte. Honigbienen, ein paar Schwebfliegen und ein Marienkäfer. Doch dann entdeckte Sila etwas Besonderes zwischen den anderen. Eine Goldene Schneckenhausbiene!

Sila lächelte. »Hallo«, sagte sie leise.

Diese Bienen waren damals ihre ganz speziellen Freunde gewesen. Sie hatten einen großen Kopf, der sie kindlich wirken ließ, eine braunrote Behaarung oben und eine orangerote unten, und in der Sonne glänzten sie tatsächlich golden. Wenn sie flogen, von Ende April oder Anfang Mai bis in den Juli hinein, dann begann die schönste Zeit des Jahres. Sila mochte es, dass diese Bienen ihre Eier in leeren Schneckenhäusern einschlossen, wo die Larven sich entwickeln und verpuppen und überwintern konnten, bis sie im nächsten Frühling als fertige, geflügelte Bienen herauskrochen.

Wanda hatte damals für diese und andere Sandbienen einen besonderen Platz hergerichtet, eine Art Sandkasten – heute nannte man das Sandarium –, denn den benötigten die

Erst sucht man im Garten einen Ort, wo es möglichst sonnig ist. »Der Platz muss mindestens einen halben Meter lang und breit sein, am besten natürlich mehr«, hatte Wanda gesagt. »Wir haben es gut hier auf dem Hof, und die Bienen auch, weil so viel Platz ist. Aber auch in kleinen Gärten lohnt sich das. Und jetzt graben wir eine Mulde, die muss etwa vierzig Zentimeter tief sein, damit die Bienen ihre Niströhren bauen können.« Also gruben sie mit vereinten Kräften. Sila fand es anstrengend, aber sie wollte unbedingt, dass die kleinen Bienen es gut haben würden.

»Was kommt da jetzt rein?«, fragte sie.

»Sand. Es ist ja für die Sandbienen.«

»Ich kann welchen vom Spielplatz auf dem Schulhof holen«, bot Sila an.

Aber Wanda schüttelte den Kopf. »Das ist lieb, aber der Sand dort geht nicht, der ist zu fein. Da können die Bienen nicht drin bauen, da fällt alles wieder zusammen. Wir brauchen groben Sand, mit unterschiedlich großen Körnern. Den gibt es zum Beispiel in Steinbrüchen. Und ich weiß, wo noch. Ich bringe morgen welchen mit. Du darfst dann ausprobieren, ob er gut ist.«

Am nächsten Tag lud sie vier Eimer voller Sand aus und bat Sila, eines ihrer Förmchen zu holen, mit denen sie früher in der Buddelkiste Sandkuchen gebacken hatte. »Jetzt probierst du, ob du damit einen Sandkuchen machen kannst, dessen Form noch hält, wenn er getrocknet ist. Dann ist alles gut.«

Sila war sehr gespannt. Der Kuchen hielt. »Und jetzt?«

»Aber das ist doch zu viel!«, protestierte Sila.

»Nein, das ist genau richtig. Es muss ein Hügel werden, oder wenigstens eine schräge Fläche, damit das Regenwasser leicht ablaufen kann. Die Bienen brauchen eine trockene Fläche. Deshalb auch der Kies unten.« Wanda reichte ihr eine Schaufel. »Jetzt kannst du den Hügel festklopfen, dann haben die Bienen es noch leichter.«

Stolz machte Sila sich ans Werk, bis ihre Arme schmerzten. »Sind wir jetzt fertig? Können die Bienen jetzt einziehen?«

»Noch nicht ganz. Jetzt legen wir noch totes Holz außen herum. Du könntest auf der Streuobstwiese heruntergefallene Äste sammeln. Die Bienen brauchen das. Sie nagen es ab und verschließen mit dem Material ihre Brutröhren und Höhlen und Schneckenhäuser, die du noch darauf verteilen wirst.«

»Au ja, die sammel ich auch gleich.« Eifrig lief Sila los.

»Und jetzt sind wir fertig«, sagte sie später zufrieden, als sie auch das letzte Schneckenhaus sorgfältig platziert hatte.

»Eins fehlt noch.« Wanda trug jetzt die dicken Gartenhandschuhe. Sie zog einen Korb heran, holte dornigen Rosenschnitt und ein paar trockene Brombeerranken heraus und verteilte alles auf dem Sandhügel.

»Da tun sich die Bienen doch weh!« Sila war empört.

»Nein, die Bienen nicht. Das ist dafür gedacht, dass aus unserem schönen Bienenplatz kein Katzenklo wird.«

Ach so. Das leuchtete Sila ein. Sie kannte die Hofkatzen.

 

Fast alle Schneckenhäuser waren im August besetzt gewesen, versiegelt wie kleine Schatzkammern.

Hatte die Biene heute ihr wohl etwas sagen wollen?

Um sich abzulenken, schnitt sie Brot und kochte Kaffee. Bald schloss Devin die Tür auf.

»Hallo! Du bist schon hier?«, wunderte er sich. »Alles in Ordnung?« Normalerweise war er der Erste bei der Arbeit. Anerkennend betrachtete er die Wand. »Schön! Ein guter Zeitpunkt für einen neuen Anstrich.« Fragend sah er Sila an. »Wie geht es dir? Hast du dich entschieden?«

»Ja. Ich rufe den Herrn Hoffmann nachher an und sage ihm, dass ich bald kommen werde. Aber ich kann hier nicht weg, bevor ich den Auftrag fertiggestellt habe. Der Kunde wartet.«

Devin schmunzelte. »Dann bringst du den Stuhl eben erst in Ruhe zu Ende. Der Anfang sieht übrigens wunderschön aus. Du hast den Charakter der Maserung genau getroffen.« Er fuhr behutsam mit der Hand über das begonnene Bild. Für einen Augenblick wünschte sich Sila, er würde sie auch wieder einmal so berühren. Andererseits war sie froh, dass er es nicht tat. Das würde sie wieder völlig durcheinanderbringen, nachdem sie sich gerade sortiert hatte.

Er kam zu ihr herüber. »Wie ist es, soll ich mitkommen, wenn du in den Oderbruch fährst? Ich weiß doch, wie schwer dir das fällt und dass du nicht gern an die Vergangenheit zurückdenkst.«

Die Lachfältchen um seine Augen waren noch zahlreicher geworden und sein Pferdeschwanz teilweise grau, aber sie sah nach all den Jahren immer noch gern in diese Augen.

Er nickte. »Das denke ich auch.« Er zögerte. »Vielleicht tut uns der Abstand auch ganz gut. Nur in der Stille findet sich Raum für Antworten. Das hat Bea früher oft gesagt.«

»Stimmt«, erinnerte sich Sila. »Daran habe ich lange nicht mehr gedacht. Sie hatte so eine wohltuende Ruhe.«

»Ruhe wirst du im Oderbruch vermutlich auch finden. Ich muss schon wieder los. Kundengespräch, Möbel ausmessen. Ich wollte nur die Entwürfe holen. Drück mir die Daumen, das könnte ein spannender Auftrag werden.«

»Mach ich. Viel Glück!«

»Dir auch, für dein Gespräch mit dem Anwalt.«

 

Sila räumte erst das Geschirr weg, wusch ab, goss die Blumen, bis ihr auffiel, dass sie sich schon wieder drückte.

Sie atmete durch und wählte die Nummer auf dem Brief.

»Hoffmann. Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«

Er klang sympathisch und rührend altmodisch.

»Hier ist Sila. Sila Beer.«

Eine kurze Pause trat ein. »Sila! Frau Beer!« Die Freude in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Wie schön. Wandas Sila! Danke, dass Sie sich melden. Ich hatte es so gehofft, aber ich war mir nicht sicher …«

Sila umklammerte den Hörer. »Ich … ich habe den Brief ja gerade erst bekommen. Ich musste das erst mal verarbeiten.«

»Ja, ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte er hastig. »Mein Beileid, Sila. Frau Beer. Ich weiß nicht, ob das angemessen ist, es ist ja so lange her, Sie sind gar nicht verwandt, und … aber Wanda hat so oft von Ihnen gesprochen.«

»Ja.« Er räusperte sich. »Es ist schwer ohne sie. Aber ich bin so dankbar für die unvergessliche Zeit, die wir hatten. Was wollen Sie nun tun, Frau Beer?«

Auf einmal freute sie sich darauf, ihn kennenzulernen. »Ich komme zu Ihnen, dann können wir alles besprechen. Aber ich brauche noch ein paar Tage, um eine Arbeit fertigzustellen.«

»Natürlich. Jetzt weiß ich ja Bescheid. Ich bin sehr erleichtert, wenn ich Ihnen Papiere und Schlüssel übergeben und Wandas Willen erfüllen kann. Ich habe es ihr versprochen, und man weiß ja nie …«

»Ich komme bestimmt«, versprach Sila.

Nachdenklich legte sie auf. Zeit war so kostbar. Und sie ließ einfach so viel davon vergehen.

Sie schaltete die Brennstation ein und machte sich ans Werk.

 

»Donnerwetter«, sagte Devin hinter ihr.

Sila hatte ihn gar nicht hereinkommen hören. Sie hatte sich selbst völlig vergessen, denn sie war in der Landschaft unterwegs gewesen, die die metallene Spitze Strich für Strich in das Holz brannte. Sie hatte das leise Gluckern des Flusses gehört und die kühle Luft gespürt, die vom Wasser herüberwehte. Hatte die Wolken sich spiegeln sehen und die bizarren Weiden, in deren rauer Rinde im einen Augenblick Gesichter zu blinzeln schienen. Im nächsten waren sie wieder fort. Sila hatte einen Biber schwimmen gesehen und einen Silberreiher fliegen. Alles in einer geheimnisvollen Dämmerung, in der der Mond alles zu

»Das ist auf jeden Fall das Beste, was dir bisher in all den Jahren gelungen ist, und das will was heißen!«, stellte Devin fest. Er strich ihr eine Strähne aus der erhitzten Stirn. »Die Erinnerung an Wanda hat wohl etwas in dir lebendig gemacht. Das färbt auf dein Bild ab.«

»Wo er recht hat, hat er recht!« Indra, gefolgt von Oswin, kam gerade herein und stellte sich neben ihn, um das Bild zu betrachten. »Du hast dich selbst übertroffen, Sila.«

»Nein. Das ist sie selbst!«, sagte Oswin. »Sie hat es nur nicht gewusst. Wie ich damals.« Er lächelte Sila an und ging dann still an seinen Platz.

Wie würde sie alle vermissen! Doch sie würde ja nicht lange fortbleiben.

Warum dann fiel es ihr so schwer zu gehen?

»Ich bin gerade so schön in Schwung. Ich mache noch die vier kleineren Stühle, die schon so lange in der Kammer warten«, beschloss sie.

»Wie du meinst«, sagte Devin und ging an seine Arbeit. »Ich freue mich schon auf das Gesicht des Kunden. So kunstvoll hat er sich seinen Schaukelstuhl bestimmt nicht vorgestellt. Das gibt neue Anfragen, du wirst schon sehen.«

»Und du?«, fiel Sila ein. »Hast du Glück gehabt?«

»O ja. Sie haben unterschrieben. Der Sommer ist gerettet.«

Also musste sie sich in dieser Hinsicht auch keine Sorgen machen.

Nur die vier Stühle noch. Sie hatte Bilder in sich, die herausmussten. Szenen, die alt und neu zugleich waren.

 

»Halt uns auf dem Laufenden«, sagte Devin und steckte ihr etwas in die Tasche. Es war ein gedrechselter Handschmeichler, ein kleiner, runder Biber mit seidig glatter Oberfläche. »Für dich, falls du nervös wirst. Und damit du weißt, dass wir bei dir sind. Alle.«

Sie war seit Ewigkeiten nicht mehr Bahn gefahren. Es kam ihr vor wie eine große Reise, dabei waren es nur etwas über zwei Stunden nach Bad Freienwalde. In Eberswalde musste sie umsteigen. Die Regionalbahn erschien ihr unwirklich wie ein Spielzeug. In Berlin war es kaum vorstellbar gewesen, dass ein Zug nur zwei Waggons hatte. Der Schriftzug außen drauf, Niederbarnimer Eisenbahn, wirkte viel zu groß und ließ die Bahn noch kleiner erscheinen. Dafür war innen verblüffend viel Platz. Die Fensterscheiben waren riesig, und außer Sila gab es nur fünf Passagiere. Staunend sah sie hinaus.

Dort erschien die Landschaft, die sie kürzlich auf den Stuhl gebrannt hatte. Nur diesmal bei Tageslicht. Und so vertraut, dass sie den kleinen Biber in ihrer Tasche ganz fest in die Hand nehmen musste.

 

In Bad Liebenwerda verflog ihre Anspannung ein wenig. Häuser, Straßen wie überall, außerdem hatte sie an diesen Ort keine Erinnerungen. Herr Hoffmann öffnete ihr die Tür zu seinem Zimmer im Seniorenheim mit einem herzlichen Lächeln. Sila sah, wie mühsam er zurück zu seinem Sessel humpelte. »Arthrose«, sagte er entschuldigend, »und ein alter Schlaganfall. Hier bin ich gut aufgehoben.«

»Vielen Dank. Ich habe einen Sohn, der gelegentlich vorbeikommt. Sie tun sehr viel für mich, indem Sie hier sind und mir ermöglichen, mein Versprechen einzulösen. Ich vermisse Wanda sehr«, seine Stimme zitterte, »und es ist mir überaus wichtig, ihr diesen Wunsch zu erfüllen und Ihnen alles persönlich zu übergeben.« Als käme es auf ein paar Minuten an, schob er ihr hastig einen Umschlag über den Tisch. »Das müssen Sie – bitte, können wir Du sagen? Mir ist, als würde ich dich schon lange kennen. Wanda hat so viel von dir erzählt. Mir war manchmal, als sähe ich ein kleines Mädchen singend durch den Garten hüpfen. Ich bin Harry.«

»Natürlich. Ich habe gesungen?«, fragte Sila erstaunt.

»Sagt Wanda. Hier sind die Papiere enthalten. Du musst das natürlich mit dem Grundbuchamt klären, wenn du weißt, was du mit dem Hof machen willst. Und hier sind die Schlüssel. Auch der für das Auto. Ein alter, kleiner Pickup, aber sehr nützlich. Ohne wird es schwierig da draußen. Allerdings muss der wohl erst mal in die Werkstatt. Er springt nicht mehr an.«

Er reichte ihr einen dicken Bund, der leise klirrte. An dem Schlüsselring hing auch ein Herz aus einem Stein, durch den sich wellige Muster aus verschiedenen Grüntönen zogen.

»Malachit«, sagte Harry. »Den habe ich ihr mal geschenkt, auf einem Markt. Sie sagte, die Zeichnung und Farben erinnern sie an die Landschaft um den Hof.«

Die Schlüssel wogen schwer in Silas Hand. Sie sah auf das Herz, das ein paar Kratzer hatte. Seinem grünen Leuchten tat das keinen Abbruch.

»Nein. Es gehört zu den Schlüsseln. Da ist noch etwas«, sagte er. »Wenn du auf den Hof kommst, bekomm bitte keinen Schrecken, falls du im Garten einem Bussard begegnest. Er ist ziemlich zahm. Der Hof liegt in seinem Revier. Er ist dort aufgewachsen, in einem Horst in der großen Tanne hinten. Er ist zu früh aus dem Nest geflogen, und Wanda hat den Eltern geholfen, ihn aufzuziehen, indem sie zufütterte. Er ist sehr zutraulich. Er tut natürlich nichts, er wirkt nur sehr groß. Der Vogel hält die Mäuse in Schach und liebt es, im Teich zu baden. Er heißt Runaj.«

»Aha. Gut zu wissen.«

 

Der Umschlag lag vor Sila. Sie starrte ihn an. Auf einmal wurde erschreckend real, was sich so unwirklich angefühlt hatte. Vor einem Bussard fürchtete sie sich nicht. Aber vor der Verantwortung. Und den Erinnerungen.

»Du wirst alles hervorragend bewältigen«, sagte Harry ermutigend. »Wanda erwartete nichts Bestimmtes von dir. Sie wollte nur, dass alles seine Richtigkeit hat.«

Sila war sich da nicht so sicher. Es fühlte sich trotz allem an, als ob ihr Wanda etwas sagen wollte. Wanda hatte immer etwas zu sagen gehabt. Belanglose Gespräche gab es mit ihr nicht.

»Ich bin sehr froh, dass Wanda in ihren letzten Jahren nicht allein war«, sagte sie. Harry hatte einen lieben Blick. Sie konnte sich gut vorstellen, warum Wanda sich in ihn verliebt hatte. Obwohl sie damals immer gewirkt hatte, als würde sie niemanden brauchen. Der Garten schien ihr zu genügen.

Harrys Augen leuchteten auf. »Ich bin es, der dankbar ist! Ich werde nie vergessen, wie es war, sie kennenzulernen. Wanda

Sila drückte seine Hand. »Harry, du hast sie gerade ganz lebendig für mich gemacht. Jetzt scheint sie mir wieder ein bisschen näher zu sein. Ich danke dir sehr dafür.«

Er putzte sich die Nase. »Ich kann manchmal immer noch nicht glauben, dass sie ihre letzten Jahre ausgerechnet mit mir verbringen wollte! Aber wir waren glücklich. Jeden einzelnen Tag. Sila, wenn du einen Rat brauchst, ich bin jederzeit für dich da. Etwas Schriftkram kann ich auch noch erledigen. Vielleicht erzählst du mir irgendwann, wofür du dich entschieden hast. Wanda wollte nur Gutes für dich. Ich hoffe, du findest einen Weg, der auch dich glücklich macht.« Er sah auf einmal müde aus. Sila stand auf. »Ich gehe jetzt besser. Bleib sitzen, ich finde allein hinaus. Pass auf dich auf. Ich melde mich bald!«

 

Über Glück hatte sie lange nicht nachgedacht, fiel ihr auf, als sie wieder in die kurze »Niederbarnimer Eisenbahn« stieg. Sie war seit Jahren einfach nur froh gewesen, dass alles unverändert blieb und sie sich sicher fühlte.

Diese Landschaft war in all ihrer strengen Schönheit so karg und gnadenlos, dass man sich selbst begegnen musste, ob man wollte oder nicht. Hier lag über nichts ein versöhnlicher Schleier. Hier gab es nichts, hinter dem man sich verstecken konnte. Inmitten dieser weiten, grünen, einsamen Ebenen trat alles klar zutage. Bequem war hier nichts.

Nicht einmal der Bus, auf den sie am Bahnhof in Neutrebbin lange warten musste.

Völlig anders als heute Morgen noch am Berliner Hauptbahnhof herrschte in Neutrebbin Totenstille. Der einstige Kiosk am Bahnhof war verschlossen und verfallen.

Das Schild vorne am Bus wies Altlewin als Endstation aus. Und Sila war der einzige Fahrgast.