»Wann sind wir da?«, fragte Tim.
Lexi blickte amüsiert in den Rückspiegel und sah zwei Paar ungeduldige Kinderaugen auf sich gerichtet. »Wir sind doch gerade erst losgefahren, Jungs. In einer knappen halben Stunde sind wir dort.«
»Ich kann die große Brücke schon sehen. Fahren wir da wirklich drüber?«, wollte Leo wissen und hüpfte auf und ab, soweit der Sicherheitsgurt das erlaubte.
»Au, du hast mich getreten!«, beschwerte sich Tim. »Hat dein Bruder wirklich ein Motorrad, Lexi?«
»Ihr werdet schon sehen.« Sie bog ab in Richtung Fehmarnsundbrücke. Sie hoffte, ihr Bruder würde wirklich am Ziel auftauchen wie verabredet. Sie hatte Wolfgang viel zu lange nicht gesehen.
Tim und Leo hatten sich das Wochenende auf Fehmarn verdient. Die Zwillinge wohnten noch nicht lange in Heiligenhafen und waren tatsächlich noch nie auf der Insel gewesen. Für Lexi, die nahe der Küste aufgewachsen war und alle Ferien und viele Wochenenden auf Fehmarn verbracht hatte, seit sie denken konnte, war das kaum vorstellbar.
Seit sie an der Gemeinschaftsschule in Heiligenhafen Lehrerin war, bemühte sie sich, die Schüler mit ihrer Leidenschaft fürs Gärtnern anzustecken. Manche der Kinder hatten es schwer. Tim und Leos Mutter zum Beispiel war alleinerziehend und hatte wenig Zeit. Sie hatten allzu viel Unfug angestellt. Doch dass unter ihren Händen Dinge wuchsen, die sie selbst in Töpfe ausgesät hatten, wirkte Wunder auf ihr Verantwortungsgefühl und ihr Selbstvertrauen. Reihum versuchte Lexi, den Schülern ihrer Klasse ein Wochenende auf der Insel zu ermöglichen. Diesmal waren Tim und Leo dran. Nicht nur, weil sie in Sachkunde zuletzt besonderes Interesse gezeigt hatten. Ihre Süßkartoffeln aus dem Biologieunterricht, die dank der guten Pflege durch die Zwillinge für die Töpfe im Klassenzimmer zu groß geworden waren, sollten nun endlich im Garten ausgepflanzt werden.
»Fahr vorsichtig, Lexi, damit die Triebe nicht abbrechen!«, mahnte Leo, als sie hinter einem Traktor bremsen musste.
Dass ihre Grundschüler sie duzen durften, hatte sie durchgesetzt. Sie fand es einfach weniger sperrig. Der Disziplin in ihrer Klasse hatte das nicht geschadet.
»Wir habe sie ja im Kofferraum gut festgekeilt«, beruhigte ihn Lexi.
Sie war davon überzeugt, dass der Umgang mit Pflanzen und Erde, mit Säen und Pflegen und Ernten, und der Aufenthalt an der frischen Luft gerade den Schwierigsten ihrer Schützlinge etwas geben konnte. Schließlich hatte es ihr selbst sehr geholfen, als sie so alt war wie Tim und Leo. Auch später noch. Nein, jetzt noch, korrigierte sie sich in Gedanken. Schließlich hatte sie es gerade mindestens genauso nötig wie die Jungs.
Egal, wie oft Lexi schon über diese Brücke gefahren war, es kribbelte immer noch im Bauch, wenn sie das Meer rechts und links unter sich funkeln sah, besonders in diesem Licht, das einen ganzen Sommer versprach. Alles fühlte sich leichter an, wenn sie wusste, die Insel wartete schon auf sie. Sie lächelte, als sie aus der Ferne die Rapsfelder leuchten sah. Das unfassbare Gelb und der Duft von Raps würden in ihren Gedanken immer für Glück und Fehmarn stehen, auch der Geschmack des Rapshonigs, der hier nicht wegzudenken war.
Und doch war seit dem Winter etwas anders. Da waren Zweifel, und etwas von der Leichtigkeit wechselte sich gelegentlich mit einer Bedrückung ab.
Doch das war allein ihr Problem.
Es war Frühling, der Garten wartete, sie würden Süßkartoffeln pflanzen, mit nackten Füßen durch das kalte, glasklare Wasser rennen und Fischbrötchen essen.
»Warum heißt die Stadt Burg?«, fragte Leo, als sie durch den Ort fuhren.
Lexi hielt auf einem Parkplatz an. »Ich zeige euch was. Lasst uns kurz aussteigen.« Sie führte die Zwillinge zu einem Zaun. »Hineingehen kann man nicht, aber ihr könnt es gut von hier aus sehen. Das war mal eine Burg, die Burg Glambeck. Leider ist es nur noch eine Ruine, aber es ist das älteste Gebäude Schleswig-Holsteins – jedenfalls das, was davon übrig ist.«
»Eine richtige Burg?« Die Jungen staunten.
»Ja. Ein dänischer König hat sie vor achthundert Jahren gebaut. Vor vierhundert Jahren wurde sie zerstört, und man hat sie vergessen, weil der Sand sie bedeckt hat. Aber 1872 kam eine große Sturmflut und hat die Steine freigespült. 1908 hat man dann ausgegraben, was noch da war.«
Tim spähte aufgeregt über den Zaun und den Burggraben. »Ich kann noch sehen, wo der Turm war. Und einen Gang. Und Stufen. Können wir da wirklich nicht spielen?«
»Nein, es ist viel zu gefährlich und deswegen verboten. Aber du kannst es dir ja einfach vorstellen, so wie ich früher.«
Die Ruine hatte sie immer schon fasziniert. Lexi hatte sich damals jede Menge Abenteuer ausgedacht, die sie als Ritterfräulein dort erlebt haben könnte. Noch heute brauchte sie nur hier zu stehen und auf die uralten Steine hinter dem Graben zu blicken. Sofort verschwanden die modernen Gebäude rundherum, und sie hörte die dänischen Könige und die Holsteiner Grafen streiten und kämpfen, oder sie sah vor sich, wie der dänische Prinz Christoph die pommersche Herzogstochter Margarete hier heiratete. Es wurde Met getrunken, und die Fanfaren trieben über das Meer hinaus, das damals genau wie heute blau und glitzernd ans Ufer gerollt war …
Sie riss sich los, bevor ihre Schützlinge doch noch über den Zaun kletterten. »So, nun lasst uns weiter zum Garten fahren, ehe die Pflanzen im Kofferraum noch die Blätter hängen lassen.«
»Ist der Garten wirklich dein Garten, Lexi?«, fragte Tim. »Du wohnst doch gar nicht hier.«
Lexi bog auf den Feldweg ein.
»Oh, oh, fahr langsamer!«, schrie Leo, als das Auto durch die Schlaglöcher rumpelte.
»Die Pflanzen müssen ja auch viel Wind aushalten hier am Meer. Das geht schon«, beruhigte ihn Lexi. »Ja, das ist momentan mein Garten, Tim, aber früher, als ich so alt war wie ihr, kam ich auch nur zu Besuch hierher. Ich habe hier so viel Zeit verbracht, wie ich konnte. Da gehörte er einer netten älteren Frau.«
»So eine, wie du jetzt bist?«, fragte Tim. Lexi wäre vor Schreck fast auf das Gaspedal getreten, aber dann musste sie lachen. Ja, wahrscheinlich war man mit siebenundzwanzig für einen Zehnjährigen eine alte Frau.
Älter auf jeden Fall. Auch wenn sie sich nie so fühlte, wenn sie hier vorfuhr. Dann war sie auch wieder zehn.
»Hieß die Frau Valentina?« Leo zeigte auf die rechte der zwei dicken steinernen Säulen, die das schmiedeeiserne Tor flankierten. In ziemlich verwitterten Buchstaben waren dort zwei Worte eingemeißelt.
VALENTINAS
GARTEN
»Nein. Valentina hat den Garten vor über hundert Jahren einmal angelegt.«
»Das ist aber ganz schön lange her«, fand Tim und fuhr mit dem Finger über den Stein. Genau wie Lexi selbst früher. Sie hatte das immer getan, weil es so beruhigend war. So vergewisserte sie sich, dass ihr Rückzugsort noch da war, an dem sie sicher war vor allem Streit und Ärger und wo sie sich nie unzulänglich fühlte.
In die linke Säule war ein großer viereckiger Stein eingelassen, auf dem ein verwittertes Relief zu sehen war. »Was ist das?«, fragte Tim. »Es sieht aus, als ob da einer in einem Garten buddelt.«
»Ja.« Lexi stellte sich neben ihn. Es tat ihr immer gut zu sehen, dass dieser Stein noch da war. Ihn zu betrachten erdete sie. »Das ist ein besonderer Stein. Damals, als vor über hundert Jahren die Burgruine ausgegraben wurde, haben viele Leute mitgeholfen. Einer von ihnen war der Mann von Valentina. Er hat diesen Stein ein Stück entfernt gefunden, an der Stelle, wo wahrscheinlich die Scheune stand, die zu der Burg gehörte. Er nahm an, dass dort auch einmal ein Garten gewesen war. Es beeindruckte ihn, dass innerhalb der Burgmauern jemand einen Garten angelegt hatte, trotz all der Kämpfe, die zu der Zeit stattgefunden hatten. Vielleicht hat der Mann, der darauf dargestellt ist, Gemüse gezogen, damit die Menschen während einer Belagerung etwas zu essen hatten. Vielleicht hat er aber auch Blumen gepflanzt, damit man sich im mühsamen Alltag daran erfreuen konnte. Und weil seine Frau krank war, hat der Mann von Valentina den Stein mitgenommen und ihn ihr geschenkt. Er dachte, er mache ihr vielleicht Mut. Das hat auch geklappt, denn genau deswegen fing sie an, diesen Garten anzulegen, der sie dann wieder gesund gemacht hat.«
»Woher weißt du das denn alles?«, wollte Leo wissen und betrachtete das Relief genau. Ein Mann hatte eine Schaufel in der Hand und betrachtete eine blühende Pflanze, vielleicht eine Rose. Auch Farne waren zu sehen und ein Baum, der wohl Birnen trug.
»Es gibt Bücher darüber. Valentina hat das damals aufgeschrieben, und seitdem haben alle, die im Haus gelebt und den Garten gepflegt haben, das Wichtigste in Notizbüchern eingetragen.«
»Aber durfte der Mann das denn? War der Stein denn nicht geklaut?«, erkundigte sich Tim.
»Na ja. Schon irgendwie. Aber er gehörte ja nicht ganz in die Burg. Die Menschen haben schon lange vorher viele der Steine mitgenommen und selbst zum Bauen verwendet, auch deshalb ist es ja jetzt eine Ruine. Ganz richtig war es vielleicht nicht von ihm, aber es ist sehr lange her. Kann sein, dass er sich die Geschichte auch nur für Valentina ausgedacht und das Bild selbst in den Stein gehauen hat. Auf jeden Fall ist er hier gut aufgehoben.«
»Ist das Tor auch geklaut?«
»Nein, das hat später jemand extra für den Garten gemacht.«
Auf der Mitte des ansonsten schlichten Tores prangte ein Kreis, in dem ein schmiedeeisernes Reh mit nachdenklichem Blick zwischen Grasbüscheln stand.
»Aber das Reh ist da, weil du Lexi Rehling heißt, oder?«
»Nein, das war aus einem bestimmten Grund schon vorher da. Deshalb habe ich als Kind immer davorgestanden und es mir angesehen. Nun kommt mal her und nehmt eure Pflanzen. Hier, vorsichtig! Schafft ihr das, oder sollen wir die Schubkarre holen?«
»Och, Lexi, wir sind doch stark!«
»Ich weiß, aber eure Pflanzen auch.« Lexi schlug den Kofferraum zu und freute sich, mit wie viel Stolz die beiden die schweren Blumentöpfe vor sich hertrugen. Rasch schloss sie das Tor auf. »Ihr könnt sie erst mal hier am Zaun abstellen. Nachher suchen wir einen guten Platz für sie. Sie mögen viel Sonne und vertragen keine Kälte, also brauchen sie einen ganz geschützten Ort.«
»Ich habe Durst, Lexi«, sagte Tim. »Ich auch!«, stimmte Leo ein.
»Dann kommt mal mit.«
Im Haus war es kühl. Lexi riss die Fenster auf, um das Licht und die milde Luft des späten Aprils hereinzulassen. Sie öffnete eine Flasche Kirschsaft aus dem Kühlschrank und goss den Kindern ein. Mit großen Augen sahen sie sich um. »Ist das Haus auch so alt wie der Garten?«, wollte Tim wissen.
»Das ist sogar noch viel älter. Dreihundert Jahre. Seht mal her.« Lexi lief in den Flur und nahm etwas von der Wand. »Das ist das Horn des Nachtwächters Emerentius Peik, der im Mittelalter gelebt hat. Die Frau, die Valentina hieß, hat es von ihrem Großvater geerbt, und seitdem war es immer hier. Wer hier wohnt, begrüßt jeden neuen Tag mit einem Ton aus dem Horn und verabschiedet ihn auch wieder.«
Tim verschluckte sich fast. »Ist das ein echtes Horn von einem echten Tier?«
»Was ist ein Nachtwächter?«, fragte Leo gleichzeitig.
»Ja, das Horn ist von einem echten Rind. Ein Nachtwächter ging in der alten Zeit nachts durch die Stadt und warnte die Menschen vor Dieben und Feuer und Feinden. Manchmal nahm er sogar jemanden fest, wenn es nötig war. Er sah nach, ob die Stadttore geschlossen waren und alles seine Ordnung hatte. Und er sagte die Stunden an oder blies sie mit dem Horn.«
Das Horn war glatt und blank von all den Händen, durch die es gegangen war. Zwei verzierte Banderolen aus Zinn waren darumgelegt. An der Kordel, die durch zwei Ösen gezogen war, konnte man es sich umhängen. Wenn man es nicht benutzte, hängte man es an die Wand. Das Mundstück war auch einst aus Zinn gewesen, inzwischen hatte man es jedoch durch eines aus Holz ersetzt. Lexi hatte eine ganze Schüssel davon, die sie hatte schnitzen lassen, damit man sie wechseln und reinigen konnte, wenn verschiedene Menschen das Instrument benutzten.
»Darf ich mal reinblasen?«
»Ich auch?«
»Ihr dürft beide. Aber erst heute Abend, wenn die Sonne untergeht. Jetzt trinkt erst mal aus, wascht die Gläser ab, und dann suchen wir einen Platz für die Kartoffeln.«
»Dein Bruder ist ja gar nicht da«, fiel Leo ein.
»Der kommt schon noch.« Das hoffte Lexi jedenfalls. Es hatte keinen Sinn, ihm jetzt eine Nachricht zu schreiben. Auf dem Motorrad würde er das sowieso nicht hören, und ablenken wollte sie ihn auch nicht.
»Gibt es dann was zu essen?«
»Wir können uns Fischbrötchen holen und Eis. Morgen grillen wir Würstchen.«
Jubelnd rannten die Zwillinge hinaus.
Lexi führte sie zum Komposthaufen. »Hier holen wir uns gute Erde. Da sind jede Menge Nährstoffe drin, das beste Futter für die Pflanzen. Ihr könnt schon mal die Schubkarre vollschaufeln. Dann zeig ich euch, wo sie hinkommt.« Eifrig folgten ihr die Jungen zum Schuppen und sausten mit Karre und Schaufel zurück zum Kompost. Lexi folgte ihnen mit zwei großen grünen Filzkreisen unterm Arm.
»Was ist das?«
»Das werdet ihr gleich sehen. Erst die Karre vollschaufeln!«
Während die beiden arbeiteten, sah Lexi sich beglückt um. Letztes Wochenende hatte sie nicht kommen können. Was inzwischen alles gewachsen war und blühte! Tulpen, Anemonen, Ranunkeln, Narzissen, Adonisröschen, Gänsekresse. Und der Apfelbaum.
Außerdem trieb der Wind den Duft der Rapsfelder heran, der sich mit dem Geruch nach Meer vermischte. Lexi sog die Luft tief ein. Wie sie dieses Aroma liebte! Süß und herb zugleich.
Der Garten lag in der Sonne, genau wie damals, als sie im Alter der Jungs war und ihn das erste Mal betreten hatte. Da war um die Mitte des Gartens der weite Dreiviertelkreis der kniehohen Mauer aus unregelmäßigen Sandsteinen. Sie war mit Thymian, Rosmarin und Vanilleblumen überwachsen, bis auf die beiden Nischen mit den eingemauerten Sitzbänken. In den Ritzen gedieh Hauswurz. Die Mauer bot nicht nur Kleintieren, Käfern und Hummeln ein Zuhause, sondern dem ganzen Garten einen guten Windschutz. Ganz hinten wuchs ein alter Kirschbaum.
Am anderen Ende der Mauer plätscherte ein kleiner Brunnen, und daneben stand die Hollywoodschaukel, die so platziert war, dass man den Himmel über den Dünen sehen konnte, wenn man darin saß. Aber auch den kleinen Vorbau am Haus mit den großen Fenstern hatte man im Blick, den Wintergarten.
Die Sitzplätze in diesem Garten waren wie dafür gemacht, um dort Kindern vorzulesen. Oder für alte Menschen zum Ausruhen und um Erinnerungen nachzuhängen, die Sonne warm auf dem Gesicht, den Duft der vielen Blüten um sich herum. Auch um Bohnen zu putzen oder Johannisbeeren, während man über die Rätsel des Lebens staunte und plauderte.
Innerhalb des Mauerkreises wuchs Rasen, wenn auch spärlich, mit vielen sandigen Stellen. Das machte nichts, weil der Platz auf diese Weise Spielwiese und Sandkasten zugleich war.
Außerhalb des Mauerkreises gab es bis dicht an den verwitterten Lattenzaun rundherum Beete verschiedenster Arten und Formen, die über die Jahre entstanden waren. Manches waren Hochbeete, aufgemauert aus Feldsteinen, andere waren mit altem Buhnenholz befestigt, einige rund, andere oval oder eckig. In manchen wuchsen Ringelblumen zwischen Kohl, Salat und Brokkoli, in anderen Rosen und Lavendel und Schnittlauch, Rittersporn und Lupinen und blau blühender Salbei, violette Schmuckkörbchen und silberne Disteln. Ein Plattenweg führte dazwischen hindurch, gesäumt von Sonnenblumen, Löwenmäulchen, Gartenmohn und Akelei. Außerdem überspannten vier Rosenbögen den Weg, welche die Himmelsrichtungen markierten. Statt Rosen wuchsen dort Jelängerjelieber, Blauregen, Goldregen und Klematis, die so kräftig geworden waren, dass sie die Bögen bereits verdreht und damit jedem einen eigenen, knorrigen Charakter gegeben hatten.
Viel Platz war nicht mehr. Aber irgendwo setzte Lexi immer noch etwas dazwischen. Auch jetzt fand sie eine Lücke. Sie faltete die grünen Kreise auseinander. »Das sind ja Töpfe. Riesige Töpfe!«, staunte Leo.
»Genau. Töpfe aus Filz. Da kommt jetzt die Erde rein und dann die Pflanzen. Die fühlen sich darin sehr wohl. Man kann sie umstellen, wenn nötig, und das Ernten ist auch ganz leicht.«
Als die Kartoffeln in die Säcke gepflanzt und angegossen waren, war Lexis Bruder immer noch nicht aufgetaucht. Jetzt schrieb sie ihm doch. Du findest uns am Strand.
Die Jungs drängte es ans Wasser, und ihr ging es genauso. Sie verließen den Garten und folgten dem Pfad hinauf zur Strandpromenade. Oben auf dem Deich blickte Lexi zurück. Das rote Klinkerhaus lag in eine Senke geduckt am östlichen Ende des Sahrensdorfer Binnensees, dort, wo das Schilf aufhörte und die saftigen Felder begannen. Eine Reihe krummer Weiden bot dem Haus Windschutz, und Feriengäste, die hier oben vorbeigingen, sahen es dahinter nicht.
Der Strand war an dieser Stelle steinig, mit Wellenbrechern aus Findlingen. Geschützt von grasbewachsenen Dünen, gab es auch einen Streifen Sand, doch der war nur schmal. Die Feriengäste verweilten hier nicht, sie liefen nur vorbei, hin zu dem breiten Sandstrand bei Burgtiefe. Die Hochhäuser dort sah man von hier aus noch nicht, sie kamen erst in Sicht, wenn man eine Kurve umrundete.
Manche gingen auch in die andere Richtung. Zum Campingplatz oder bis zum Leuchtturm Staberhuk. Aber das war weit.
Valentinas Garten lag geborgen in seiner eigenen kleinen Einsamkeit.
Neben der Promenade gab es eine der Holzliegen, fest montiert und drehbar, die man auf der Insel an einigen Aussichtspunkten zur Verfügung gestellt hatte. Sie waren so groß, dass man mindestens zu zweit darauf liegen konnte.
»Dürfen wir drauf?« Tim wartete ihre Antwort nicht ab. Schnell hatten sie heraus, dass die Liege sich drehen ließ. Leo schob, Tim rollte sich darauf zusammen und quietschte vor Vergnügen. »Vorsicht, das ist kein Spielzeug!«, mahnte Lexi lachend. »Wer zuerst die Füße im Wasser hat!«
Es tat so gut. Immer, wenn sie endlich die Schuhe aushatte und das Prickeln spürte, fiel alles von ihr ab. Dann war sie einfach nur hier und lebendig und fühlte sich kaum älter als Tim und Leo.
Als es nach einer Weile so kalt wurde, dass ihre Füße begannen weh zu tun, setzte sie sich auf einen Findling und hielt sie in die Sonne. Leo und Tim rannten lachend und spritzend hin und her. »Lexi, wenn ich auf Fehmarn einen Garten hätte, wäre ich immer nur hier!«, verkündete Leo. »Mein ganzes Leben!«
Lexi fröstelte. Auf einmal hatte sie eine Gänsehaut.
Sie stand auf. »Habt ihr nicht Hunger? Wollen wir nachsehen, ob der Fischbrötchenmann da ist?«