Irgendwann musste sie doch eingeschlafen sein, denn sie wachte davon auf, dass jemand an ihre Tür klopfte.
»Lexi!«, rief Leo. »Wolf hat Brötchen geholt, und wir haben draußen den Tisch gedeckt. Frühstück ist fertig.«
»Wolf, du bist ein Schatz. Eigentlich wollte ich dich doch verwöhnen«, sagte Lexi schuldbewusst, als sie kurz darauf draußen im Garten auftauchte. Die Zwillinge hatten sogar Blumen gepflückt und in einer Vase auf den Tisch gestellt. Zwischen Schäfchenwolken schien die Sonne von einem blankgeputzten Himmel. Die Grübeleien der Nacht verdampften wie Tautropfen auf der Wiese. Lexi biss mit Appetit in eine frische Brezel.
»Alles gut. Ich habe wunderbar geschlafen«, sagte Wolfgang. »Ich glaube, ich sollte dich öfter hier besuchen kommen. Vor allem, wenn das Baby da ist. Es soll auch das Meer kennenlernen und die gute Luft atmen dürfen.«
»Und wenn es größer ist, bringe ich ihm alle Blumennamen bei.« Lexi freute sich schon darauf.
Den Rest des Vormittags verbrachten sie am Strand. Die Jungs bauten eine bizarre Burg aus Steinen und Sand mit einem gewaltigen Burggraben und einem Zugang zum Meer. Wolf begeisterte sie, indem er eine Zugbrücke aus Treibholz fertigte. Lexi fügte wilde Muscheldekorationen hinzu.
»Gut, dass Lexi keine richtige Lehrerin ist«, sagte Tim zu Wolfgang.
»Ist sie das nicht?«, fragte der amüsiert.
»Nee, zum Glück«, sagte Leo entrüstet. »Mit Lexi kann man Spaß haben.«
»Und das geht bei richtigen Lehrern nicht? Lernt ihr denn nichts bei Lexi?«
»Doch, klar.«
»Na, dann ist’s ja gut.«
Lexi warf eine Muschel nach Wolf. Aber Leos Bemerkung gab ihr zu denken. Das zeigte doch nur, wie wichtig ihre Pläne waren. Lernen musste viel mehr Spaß machen. Und das war gar nicht so schwer.
Ihre Eltern hatten das früher vehement getrennt. Arbeit war Arbeit. Wenn sie Freude machte, war es keine Arbeit. Erholung und Spaß waren etwas ganz anderes und vor allem ziemlich überflüssige Zeitverschwendung. An den Wochenenden und in den Ferien waren sie nur darum in die Wohnung auf Fehmarn gefahren, weil das so üblich war, wenn man es sich leisten konnte. Die anderen aus Vaters Club taten das auch. Außerdem hatten die Ärzte gesagt, es wäre wichtig für Lexis Gesundheit und auch für die Lunge ihrer Mutter. Man ging spazieren und ruhte eine angemessene Weile im Strandkorb. Aber richtig ausgelassen Spaß haben, das war etwas, das sich nicht gehörte und wofür man ein schlechtes Gewissen haben musste.
»Ich wusste nicht, dass eine Sandburg so schön sein kann!«, rief Tim, als sie fertig waren.
»Ich auch nicht, aber ich hab schon wieder Hunger!«, stellte Leo fest.
»Na, dann ist es aber gut, dass ich Würstchen zum Grillen mitgebracht habe«, verkündete Wolfgang.
Zu Hause staunte Lexi, wie viele Würstchen die Jungs verdrücken konnten, aber sie hatte selbst Appetit nach all der Meeresluft. Als beim besten Willen niemand mehr etwas herunterbekam, fragte Leo: »Und was machen wir jetzt, Lexi?«
»Ihr könntet mir dabei helfen, den Kürbis auf das Dach zu pflanzen.«
»Aber Lexi, auf ein Dach pflanzt man doch nichts!«, protestierte Tim.
Das hätte ihr Vater auch gesagt. Das macht man nicht.
»Warum nicht?«, fragte Lexi.
Die Zwillinge blickten verblüfft.
»Weiß nicht.«
»Ich auch nicht.«
»Es ist immer wichtig nachzudenken, ehe man behauptet, irgendetwas ginge nicht«, erklärte Lexi.
»Aber warum soll der Kürbis denn aufs Dach?«
»Erstens, weil eine Kürbispflanze sehr viel Platz braucht. Sie bildet lange Ranken. Hier unten in diesem kleinen Garten ist kein Platz dafür. Zweitens braucht sie viel Sonne. Und wo haben wir viel Platz und viel Sonne?«
»Auf dem Dach«, stellte Leo fest.
»Aber Lexi, da rollt er doch runter«, protestierte Tim.
»Nicht auf dem Wintergarten.« Der Wintergarten war ein Anbau, der erst ein paar Jahrzehnte alt war. Das Dach war flach und mit Teerpappe gedeckt, nicht mit Ziegeln wie der Rest. Lexi war schon als Kind gern dort hinaufgeklettert, wenn Pia es erlaubt und ihr die Leiter hingestellt hatte.
»Bist du sicher, dass das nicht zu schwer für das Dach wird?«, fragte Wolfgang skeptisch.
»Ja. Wir nehmen einen Filzcontainer, der ist leicht, und auch wenn die Erde darin einiges wiegt, wenn sie nass ist, macht das nichts. Ich stelle den Container genau über einen Stützpfeiler. Die Ranken können sich über das ganze Dach ausbreiten, die sind ja leicht. Dafür isolieren sie aber gut. Sie werden dafür sorgen, dass der Wintergarten im Sommer kühler bleibt.«
»Aber Lexi, wenn der Kürbis ganz große Kürbisse trägt, vielleicht sind die dann doch zu schwer?«, fragte Leo.
»Das glaube ich nicht. Dann ernten wir die eben rechtzeitig. Außerdem hält das Dach hier sogar eine dicke Schneelast aus, darüber müsst ihr euch nun wirklich keine Sorgen machen.« Lexi bückte sich nach einem Topf, der an der geschützten Hauswand gestanden hatte. »Seht ihr, hier sind zwei Jungpflanzen. Ich habe sie schon vorgezogen. Sie müssen nur noch aufs Dach. Na ja, und die Erde auch. Dabei könntet ihr mir alle helfen.«
»Ich wusste doch, dass du mich nur zum Arbeiten hast kommen lassen«, sagte Wolfgang. »Was sollen wir tun?«
»Du kannst bitte die Leiter holen. Und ihr«, Lexi fixierte die Zwillinge mit ihrem strengsten Blick. »Wenn ihr mit aufs Dach kommt, dann nur, wenn ihr mir versprecht, dass ihr dort oben nicht herumtobt. Ihr bleibt in der Mitte, da, wo der Container hinkommt. Kein Schubsen. Kein Rennen. Kein Herumalbern. Habt ihr das verstanden?« Sie benutzte den Tonfall, der absolut keinen Widerspruch und keine Zweifel zuließ. Den hatte sie von ihrem Vater gelernt, und sie war ihm sehr dankbar dafür. Das war ihr nützlicher als vieles aus ihrem Pädagogikstudium.
Die Zwillinge nickten beeindruckt. »Piratenehrenwort, Lexi.«
Vorsichtig stiegen sie die Leiter hinauf, die Wolfgang von unten und Lexi von oben festhielten.
Den Filzcontainer hatte Lexi zuvor aufs Dach geworfen. Jetzt entfaltete sie ihn mit Hilfe der Zwillinge und stellte ihn dorthin, wo sich darunter der Stützpfeiler befand. »So. Haltet den bitte fest, damit der Wind ihn nicht herunterweht, ehe wir ihn befüllen können«, ordnete sie an. »Wolfgang, ich lasse dir jetzt einen Eimer an einer Schnur herunter, und du füllst ihn bitte mit Erde.«
»Zu Befehl, Chefin.« Wolfgang salutierte und machte sich auf den Weg zum Komposthaufen. Er brachte Eimer um Eimer. Lexi zog ihn hoch und befüllte damit den Container. Auch die Jungs durften den Eimer ein paarmal hochziehen.
»Reicht es nicht langsam?«, kam Wolfgangs Stimme von unten. »Das hier bringt mich ganz schön ins Schwitzen.«
»Noch einen Eimer. Der Kürbis braucht viel Erde«, sagte Lexi gnadenlos.
»Lexi, das ist so schön hier oben!«, sagte Leo.
»Ich glaub, wenn ich hier wohnen würde, wär ich immer nur hier oben«, stimmte Tim zu.
Lexi sah sich zufrieden um. Die Teerpappe war warm. Unten lag der Garten im Sonnenlicht, voller Blüten und Frühlingsgrün. Dahinter spielte der Wind mit dem Gras auf den Dünen. In der Ferne glitzerte das Meer, auf dem sich ein paar Segel bewegten wie Schmetterlinge. Das Lachen der Menschen am Strand trieb zu ihnen herauf. Weiter oben sangen Lerchen. »Ja, ihr habt recht. Es ist ein wunderschöner Platz.«
»Du hast es gut, Lexi.«
»Ja, Leo. Das habe ich wirklich.« In Augenblicken wie diesen konnte sie sich selbst nicht erklären, was ihr noch zu ihrem Glück fehlte. Sie füllte den letzten Eimer Erde in den Container und warf ihn dann hinunter. »Danke, Wolfgang, jetzt genügt es.«
Sie reichte den Jungs den Topf mit den Keimlingen. »Ihr dürft jeder einen einpflanzen. Nicht in die Mitte, aber auch nicht an den Rand, sondern so, dass jedes Pflänzchen genügend Platz um sich herum hat.«
Wolfgang war jetzt auch heraufgeklettert. »Der Blick ist wirklich grandios. Ein guter Platz zum Entspannen.« Er streckte sich lang auf dem Rücken aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte in den Himmel. »Hier kannst du mich Ende September wieder abholen.«
Lexi lachte. »Vergisst du nicht eine Kleinigkeit? Du könntest das Vaterwerden verpassen.«
»Ich hole Alika hierher, und wir werden hier oben einfach nur warten, bis das Baby kommt.«
»Fertig, Lexi! Dürfen wir den leeren Topf runterwerfen?«
»Dürft ihr.«
»Aber die Pflanzen brauchen Wasser. Musst du dann jedes Mal hier raufklettern?«
»Nein. Das geht von unten mit dem Schlauch. Und außerdem habe ich da oben die Dachrinne so gebogen, dass sie genau in den Container abfließen wird, wenn es regnet.«
»Genial«, befand Wolfgang.
Lexi stellte sich vor, wie die grünen Ranken sich ausbreiten würden, die nackte Teerpappe bedecken und auch ein wenig auf das Dach hinaufkriechen. Die Bienen sollten sich über die großen gelben Blüten freuen, und den Sommer über würden sich die Früchte runden und schließlich so flammend orange werden wie im Herbst die Blätter an den Bäumen. Der Anblick würde das ganze Haus verzaubern. Die Suppe, das Gemüse und das Kürbisbrot, das man damit machen konnte, würden nach allem schmecken, was im Sommer gut gewesen war.
Lexi konnte den Zwillingen und dem Rest der Klasse immer wieder Bilder zeigen, wie alles gedieh, und sie würden lernen, dass ein Kürbis nicht aus dem Supermarkt kommt und dass man, wenn man keinen Platz für etwas hatte, vielleicht doch noch welchen schaffen konnte.
»Müssen wir morgen wirklich zurück in die Schule, Lexi?«, fragte Leo.
»Ja, das müssen wir. Aber wenn ihr jetzt vom Dach herunterkommt, lade ich euch alle zu einem großen Eisbecher im Café Sorgenfrei ein. Von da aus kann man den Sonnenuntergang sehen. Und vorher gucken wir die Boote im Yachthafen an. Klingt das gut?«
Als Wolfgang die Leiter wieder im Schuppen verstaut hatte, machten sie sich auf den Weg den Südstrand entlang. Plötzlich flatterte und krachte etwas und schlug direkt vor Leos Füßen in den Sand ein. Erschrocken sprang er zurück. Lexi fing ihn auf. Es war ein Drachen, der da vor ihnen mit der Nase im Sand steckte. Ein Drachen, der allerdings eher wie ein kleines Raumschiff aussah.
»Entschuldigung, das tut mir leid. Ich hoffe, es ist nichts passiert! Habt ihr euch sehr erschrocken?« Ein Mann lief auf sie zu, wobei er hastig die Schnur aufwickelte, die zu dem Drachen gehörte.
»Nee. Soll das ein Raumschiff sein?«, fragte Tim interessiert.
Der Mann sah erleichtert aus. »Es tut mir wirklich sehr leid. Der Wind hat ganz plötzlich gedreht.«
»Alles gut. Für den Wind können Sie doch nichts«, sagte Lexi.
»Aber Drachen lässt man doch im Herbst steigen, nicht im Frühling!«, protestierte Leo.
»Warum nicht?«, fragte der Mann und wunderte sich, als alle in Gelächter ausbrachen.
»Das sagt Lexi auch immer«, erklärte ihm Tim.
Wolfgang streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Wolfgang, das ist Lexi, meine verrückte Schwester, und Tim und Leo, zwei ihrer Schützlinge. Kann ich vielleicht helfen? Ich glaube, der eine Flügel ist verbogen.«
»Sehr gerne. Ich bin Jonne. Weißt du, Leo, ich darf das ganze Jahr über Drachen steigen lassen. Das gehört zu meiner Arbeit. Ich verkaufe die Drachen in einem Geschäft. Da muss ich sie doch vorher ausprobieren, ob sie auch funktionieren, meinst du nicht?«
Jonne wirkte sportlich, hatte karamellbraune Augen und dunkelblonde Locken, die in alle Richtungen standen, wie es der Wind gerade wollte.
Leo nickte ernsthaft. »Baust du auch selber welche?«
»Ja, manchmal schon.« Jonne und Wolfgang beugten sich über den Drachen. »Wenn ich hier festhalte, dann kannst du den Draht dort wieder in die Öse schieben«, schlug Wolfgang vor.
»Ich mach die Knoten aus dem Schwanz«, bot Tim an. »Aber warum hat ein Raumschiff einen Schwanz?«
»Der ist für die Stabilität. Ich hatte gehofft, es sieht wie der brennende Treibstoff unter einer Rakete aus.«
Lexi setzte sich in den Sand. Das mit den Knoten konnte dauern.
Irgendwann bestand der Drachen einen erneuten Testlauf. Leo und Tim durften die Schnur abwechselnd eine Weile halten.
»Jonne ist echt nett«, sagte Tim, als sie sich schließlich von diesem verabschiedet hatten, zur Promenade hinaufkletterten und den Weg zum Yachthafen Burgtiefe einschlugen.
Neben ihnen auf dem Wasser kehrte ein Boot nach dem anderen zurück in den Hafen. Ausflugsdampfer, Fischkutter, Hobbysegler, alles Silhouetten vor dem Abendhimmel wie bizarre Vögel. Möwenschwärme folgten ihnen. Die Wolken malten darüber Figuren auf den Himmel, erst Schäfchen, dann ein Tänzerpaar, oder war es ein Wanderer mit einem Koffer in der Hand? Wenn, dann bekam er gerade Flügel, als der Wind die Wolke auseinanderzog.
»Die beiden hast du dieses Wochenende richtig glücklich gemacht«, sagte Wolfgang mit Blick auf die Zwillinge, die den Rundsteg entlangliefen und jedes Boot genau betrachteten, das dort vertäut war. Es war alles vertreten, von kleinen abgeschabten Booten bis hin zu teuren Yachten. Dazwischen glitzerten Fischschwärme in der Abendsonne.
»Und du? Was wirst du tun, damit du auch glücklich wirst?«, fragte Wolfgang. »Weißt du, als du den Jungs das mit dem Kürbis erklärt und gezeigt hast, da habe ich gedacht, du solltest vielleicht wirklich mal dieser Journalistin schreiben, die die kurzen Filme macht. Vielleicht kommt sie einmal zu dir und filmt deinen Garten. Du könntest ihr von deiner Arbeit erzählen. Was du hier machst, ist gut und wichtig genug, um weitergegeben zu werden und andere anzuregen, auch so etwas zu tun.«
»Vielleicht frage ich sie zumindest einmal um Rat.«
Diese Linnea Joneleit arbeitete mit so vielen Schulen zusammen. Vielleicht hatte sie ja eine Idee, wie Lexi ihrem Ziel näherkommen konnte. Es war gut, neue Kontakte zu knüpfen. Damit fing doch immer alles an. So wie damals, als sie bei Pia vor dem Tor gestanden hatte.
Die Jungs hatten inzwischen ein Trampolin entdeckt. Nach einer Weile winkte Lexi sie heran. »Wenn wir jetzt zum Café Sorgenfrei gehen und uns den Eisbecher bestellen, können wir ihn noch bei Sonnenuntergang essen. Oder vielleicht doch lieber einen heißen Kakao?«
Am Ende entschieden sie sich für beides hintereinander. Es war einfach zu schön, auf den hölzernen Stufen zu sitzen, im Hintergrund die Musik aus dem Café und das fröhliche Geschnatter der entspannten Menschen um sie herum zu hören. Die hereinkommenden Boote waren jetzt beleuchtet, und die Sonne warf eine Brücke aus tiefrotem Licht über die Bucht. Zum Strand hin gluckerte das Wasser in den Fluttümpeln hinter den Findlingen.
Der Rest der Welt schien sehr weit weg.
»Ich möchte am liebsten hierbleiben, Lexi«, sagte Leo später.
Lexi schluckte schwer daran, dass sie ihm nicht gleich das nächste Wochenende versprechen konnte. »Wir werden das bestimmt irgendwann wieder einmal machen, wenn es eure Mutter erlaubt«, sagte sie.
»Aber erst sind ja all die anderen Kinder dran«, sagte Tim traurig.
»Ja. Die anderen möchten das ja auch gerne mal erleben«, bekräftigte Lexi.
»Schade, dass du nicht für alle auf einmal Platz hast«, meinte Leo.
Am nächsten Morgen mussten sie früh aufbrechen. Lexi stand um halb fünf auf und bereitete das Frühstück vor. Sie hatte noch einen Plan. Als sie sah, dass das Wetter so gut sein würde wie gestern, weckte sie die Jungs um fünf. »Wenn ihr jetzt aufsteht, können wir nochmals zum Strand gehen und den Sonnenaufgang erleben. Der ist wunderschön, und mit etwas Glück gibt es noch eine kleine Überraschung zu sehen.«
Zu ihrer Verblüffung sprangen beide sofort aus dem Bett. Sie wollten kein bisschen versäumen von allem, was es hier zu sehen gab. In Nullkommanichts waren sie fertig angezogen.
»Lasst uns leise sein«, sagte Lexi.
Durch das taufeuchte Gras gingen sie den Dünenpfad hinauf. Hinter dem dichten Gebüsch aus Hundsrosen duckte sich Lexi und legte einen Finger auf den Mund. Sie bedeutete den Zwillingen, sich neben sie zu hocken. Von hier aus konnten sie sehen, wie die Sonne langsam über den Horizont stieg. Alles glühte auf, erst rosa, dann orange. Das gesamte Meer schien in Flammen zu stehen. Darüber war der Himmel lichterfüllt blau und rosa und golden.
Und dann kam das Reh. Lexi wusste, dass es oft um diese Zeit hier auftauchte, aber sie bekam jedes Mal wieder Gänsehaut. Das zierliche Tier lief am Strand entlang, und als es heller wurde, begann es, herumzuhüpfen und aus purer Lebensfreude hin und her zu rennen, dass die Wassertropfen um seine Beine in die Höhe spritzten. Sie funkelten rot im Licht, und die, die am höchsten flogen, leuchteten blau und golden in den Farben des Himmels und der Sonne. Das Reh tobte und sprang immer höher, und die Kinder mussten sich die Hände vor den Mund halten, um nicht loszulachen, so lustig sah das aus.
»Warum macht es das?«, fragte Leo hinterher.
»Einfach aus Freude, weil es lebendig ist.« Anders konnte Lexi sich das jedenfalls nicht erklären. Die Biolehrerin in ihr schwieg dazu.
»Das sieht man doch«, sagte Tim. »Nächstes Mal mach ich das auch so.«
Nach diesem Anblick konnte man keine schlechte Laune mehr haben, und das Frühstück verscheuchte den Rest vom Abschiedsschmerz. Den ganzen Weg im Auto sangen Tim und Leo Frühlingslieder, und Lexi stimmte mit ein. Es war gut, dass sie nicht allein im Wagen war, denn der Abschied von Wolf hatte ihr weh getan. »Ich hatte mich schon beinahe wieder daran gewöhnt, dass du hier bist«, hatte sie zu ihm gesagt. »Ich glaube, ich werde dich bald einmal besuchen.«
»Mach das, Alika wird sich freuen, und ich sowieso.«
»Wann ist denn die Hochzeit?«
»Du bekommst noch eine Einladung. Es dauert schon noch ein bisschen. Aber Lexi, du kannst immer zu uns kommen, das weißt du, oder?« Er sah sie ernst an. »Ich möchte nicht, dass du dich einsam fühlst, jetzt, wo Frank weg ist.«
»Ich weiß, großer Bruder. Aber ich bin nicht einsam, ich habe ja die Kinder und den Garten.«
Als sie ihm nachsah, wie er auf dem Motorrad davonknatterte, dachte sie wieder an Pia und die Sonnenblumen und den richtigen Platz zum Wachsen. Wolfgang strahlte so viel Freude und Zufriedenheit aus. Was er konnte, konnte sie auch. Genau wie er würde sie ihren Platz finden. Es würde eben nur ein bisschen dauern, so wie es dauern würde, bis der Kürbis auf dem Dach Früchte trug.
»Lexi«, sagte Leo, als sie bei der Schule vorfuhren. »Wenn wir das nächste Mal auf Fehmarn sind, kaufen wir bei Jonne einen Drachen, ja?«