»Ich glaub es ja nicht. Der Kahn ist schon wieder undicht!« Lisann fing an zu lachen.
»Das merke ich auch gerade.« Sila stellte fest, dass ihre Füße im Wasser standen. »Ist ja nicht weiter erstaunlich. Der stand bestimmt seit Jahren ungenutzt am Schuppen herum.« An dessen Rückwand war das Boot angelehnt gewesen, vom überhängenden Dach geschützt und mit einer Zeltplane bedeckt. Als sie es vorhin mit vereinten Kräften ins Wasser gezogen hatten, waren sie vom guten Zustand des Holzes überrascht gewesen. Aber die Abdichtung, die Wanda einst angebracht hatte, war wohl schon lange verrottet.
»Gut, dass wir nicht so weit gefahren sind«, meinte Sila. »Schaffen wir es noch zurück?« Sie fing an, mit beiden Händen Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Lisann paddelte schneller. »Das schaffen wir! Und gelohnt hat es sich allemal.«
Ja, das hatte es, fand auch Sila. »Es war fast wie früher. Hat sehr gut getan. Danke, Lisann!«
»Wie früher, bis auf die grauen Haare. Was willst du jetzt machen?«, fragte Lisann, als sie das Boot wieder aufs Trockene zogen.
»Das Boot abdichten, vermutlich.« Sila untersuchte die Spalten im Holzboden.
»Ich kann dir morgen dafür was aus Letschin mitbringen. Da muss ich jetzt auch noch hin. Elternabend.«
»Hast du Kinder?«
»Ich bin Grundschullehrerin in Letschin. Aber ich meinte nicht, was du mit dem Boot machen willst, sondern was du überhaupt mit dem Grundstück vorhast.«
»Keine Ahnung.«
»Na, wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Gib mal dein Handy.« Lisann tippte ihre Nummer ein und gab es ihr zurück. »Ich finde es super, dass du wieder hier bist, aber jetzt muss ich wirklich los. Tschüs, bis dann! Ach, und Kopernikus und Curie bringe ich dir morgen vorbei.«
»Wen …?«, begann Sila, aber da war Lisann schon außer Hörweite.
Sila blickte ihr nach, dankbar für das warme Gefühl, das der unverhoffte Ausflug in die Kindheit und Lisanns Willkommen in ihr geweckt hatte. Es machte die unschöne Begegnung mit Vera beinahe wieder wett.
Sila sah sich um. Sie hatte Durst, aber sie scheute noch immer davor zurück, ins Haus zu gehen. Stattdessen wanderte sie wie früher über die Streuobstwiese und war erschrocken, wie verwildert es hier aussah. Was früher ein lichter Raum gewesen war, war jetzt von verfilztem Gras, Brennnesseln und wilden Sträuchern bedeckt. Zwischen den Baumreihen musste sie sich regelrecht durchkämpfen. Unter den Obstbäumen lagen haufenweise Äste und Zweige, von Stürmen abgerissen, und die Bäume selbst hatten schon lange keinen Schnitt mehr gesehen. Dennoch wurde es in Sila ganz ruhig und glücklich, als sie mittendrin stehen blieb.
Die Abendsonne fiel auf die wenigen Blüten, die noch an den Bäumen waren, und ließen sie wirken wie weißrosa Schaum. Ein lieblicher Duft stieg in Silas Nase. Letzte Bienen summten in den Zweigen, bevor sie sich bald zum Schlafen in ihren Stock zurückziehen würden. Die meisten Bäume waren schon verblüht und trugen kleine Früchte. Sila versuchte, sich an die Namen zu erinnern, die Wanda sie alle einmal gelehrt hatte. Da waren die Äpfel – die Goldparmäne, der Danziger Kantapfel, der Pommer’sche Krummstiel, die Goldrenette von Blenheim und der Weiße Klarapfel. Dann die Birnen. Die Petersbirne, die Bürgermeisterbirne, Gellerts Butterbirne und die Pastorenbirne.
Silas Erinnerungen kamen wieder. Der eine Apfel hatte helles Fruchtfleisch, der andere war von feinen roten Äderchen durchzogen. Dieser schmeckte süß-säuerlich, jener fruchtig. Und dann die Kirschen! Die Große Prinzessinkirsche und die Früheste der Mark, auch Speyerer Maikirsche genannt. Deren Früchte wurden schon rot. Sila pflückte eine und probierte sie, aber noch war sie so sauer, dass Sila das Gesicht verzog. Doch sie hatte nach dem Paddeln solchen Durst, dass sie die Kirsche trotzdem hinunterschluckte. Das hatte sie früher auch immer getan, wenn die Früchte noch zu sauer waren. Damit fing der Sommer an. Der Geschmack brachte ihr alles noch näher. So nahe, dass sie sich selbst merkwürdig vorkam, weil sie so groß war. Die Perspektive, an die sie sich erinnerte, stimmte nicht. Sie ging ein wenig in die Hocke. Ja, jetzt, jetzt war es wieder richtig.
Hier musste jedoch unbedingt aufgeräumt werden. Kein Wunder, dass Wanda es nicht mehr geschafft hatte, und Harry mit seiner Behinderung konnte sowieso nicht mehr viel mithelfen.
Auch wenn damals in der DDR die Genossenschaften fast alles Ackerland übernommen hatten, waren den Höfen doch jeweils ein Hektar rund um die Häuser geblieben. Das war immer noch eine sehr große Fläche, wenn man sie allein bewirtschaften musste. Sila wurde bang. Noch länger sich selbst überlassen konnte man den Wickenhof auf keinen Fall. Doch wer würde ihn übernehmen, hier draußen mitten im Nichts? Niemand würde hier ein Hotel bauen wollen oder eine Wohnanlage, so wie in Berlin, wo kein Grundstück leer blieb.
Außerdem wollte sie auf keinen Fall, dass das alte Haus abgerissen würde, dachte Sila, als sie den Hof nun aus der Entfernung über die Obstwiese hinweg betrachtete. Im warmen Abendlicht lag der rote Backsteinbau da wie bereits seit Generationen, freundlich und willkommen heißend. Das Moos auf dem Dach leuchtete grün, und auch die Weinreben trugen bereits winzige Früchte. Der tönerne Ziegenkopf blickte wie hilfesuchend zu Sila herüber. Du wirst mich doch nicht im Stich lassen?, fragte er stumm.
Da war nicht nur das Haupthaus, in dem sie gewohnt hatten. Es ging auch um die Ansammlung kleinerer Gebäude, die es auf solchen Höfen immer gab. In dem größten, der alten Scheune, war damals die Wirtschaft gewesen. Dann war da die Remise, in der früher Pferdewagen gestanden hatten und wo jetzt Fahrräder, Rasenmäher, Düngemittel und Futter aufbewahrt wurden. Außerdem ein Schuppen, der als Garage diente und in dem wahrscheinlich das Auto stand, zu dem Harry Sila den Schlüssel gegeben hatte. Dazu der Stall und die angrenzende Werkstatt mit dem Geräteschuppen.
Sila bahnte sich einen Weg durch das hohe Gras, das sich um ihre Fußgelenke wickelte und sie beinahe zu Fall brachte. Am liebsten hätte sie gleich damit begonnen, wenigstens die heruntergefallenen Äste aufzusammeln und abzuschneiden, was herunterhing und die Sicht versperrte.
Der Geräteschuppen war nicht abgeschlossen. Sila zerrte an der alten Tür und fiel beinahe hintenüber, als diese sich mit einem Ruck öffnete.
Die Sägen, Spaten, Hacken, Sensen und anderen Werkzeuge schien Harry besser im Griff gehabt zu haben als die Gartenbewirtschaftung. Außer einigen Spinnweben waren sie trocken, sauber, glänzend und gut sortiert. Sila nahm prüfend eine Säge in die Hand und legte sie dann doch entschlossen wieder hin. Es wurde bald dunkel. Sie musste ins Haus und etwas essen, herausfinden, ob Strom und Wasser wirklich funktionierten, wie Harry es versprochen hatte, und sehen, wo sie schlafen würde.
Als sie sich gerade abwenden wollte, fiel ihr eine Schachtel ins Auge, die auf einem Regalbrett stand. Sie war frühlingsgrün, und darauf stand mit großer, zittriger Schrift Für Sila! Vorsichtig öffnete sie den Deckel. Darin fand sie säuberlich beschriftete Tütchen voller Samenkörner. Wickensamen von rosa Blüten, Wickensamen von violetten Blüten, Wickensamen von weinroten Blüten, Wickensamen von weißen Blüten.
Wanda hatte es immer spannend gefunden, welche Farben was für Sämlinge hervorbrachten, da sich ja die Farben immer unterschiedlich vererbten. Man wusste nie, von welcher Farbe die Biene den Pollen herbeigetragen hatte. Oft hatten Sila und Wanda kleine Wetten darauf abgeschlossen. Weil das ein reines Glücksspiel war, hatte Sila faire Chancen, zu gewinnen. »Ist doch viel schöner als Lotto«, fand Wanda. »Eine Blüte ist allemal hübscher als so ein oller Papierzettel. Geld duftet nicht. Und Geduld lernt man dabei auch.«
Sila schossen die Tränen in die Augen. Ach, Wanda!, dachte sie. Wie schön wäre es, wenn du noch da wärest! Ich bin froh, dass du mich hierhergelockt hast, auch wenn ich nicht weiß, wie es weitergehen soll.
Es war so leise hier. Sila konnte sich nicht erinnern, wann es das letzte Mal dermaßen still um sie herum gewesen war. Sie nahm den Lärm der Großstadt schon lange nicht mehr bewusst wahr, aber er war doch trotzdem immer gegenwärtig. Das Rauschen eines Meeres aus Stein und Verkehr. Das Einzige, was an diesem Ort rauschte, war ein lauer Wind in den Obstbäumen, und dahinter über den Feldern erklang der Ruf Runajs.
Morgen werde ich mich zuerst um das Gartentor kümmern, dachte Sila. Es soll wieder richtig funktionieren. Und dann sehe ich nach den Wicken und ob irgendwo neue gesät werden müssen.
Schließlich musste der Hof so gut wie möglich aussehen, wenn sie überhaupt einen Käufer dafür finden wollte. Außerdem war sie jetzt hier, und solange sie hier war, wollte sie Wanda nicht enttäuschen – und den Wickenhof auch nicht.
Schließlich ließ es sich nicht mehr aufschieben. Sila holte ihren Rucksack und schloss die Haustür auf. Dieses Schloss war leichtgängig, als ob jemand gestern erst das Haus verlassen hätte. Im hölzernen Fachwerk bemerkte sie ein paar Löcher mehr, als sie es in Erinnerung hatte. Während sie noch versonnen darauf blickte, landete eine Biene an einem davon und kroch hinein. Sila lächelte. Sie war doch nicht allein hier! Bestärkt von dieser Erkenntnis, trat sie ein. Es roch muffig. Unter dem Muff aber lag ein vertrauter Geruch, so vertraut wie der Geschmack der Maikirschen. Ziegel und Holz und Frühling und ein wenig Tier. Ganz früher hatte es noch ein paar Kühe und Ziegen und Schweine gegeben. Jetzt waren es wahrscheinlich höchstens Katzen, die irgendwo herumstreunten. Vielleicht waren das Lisanns »Kopernikus und Curie«?
An die einfachen Möbel konnte sie sich ebenfalls dunkel erinnern. In der Küche schien sich auch nicht viel verändert zu haben bis auf ein paar moderne Geräte. Als Sila den Wasserhahn aufdrehte, schoss ein rostiger Strahl heraus, der sich aber nach wenigen Augenblicken klärte. Sie fand eine Tasse im Schrank, wusch sie aus und sah kritisch hinein. Das Wasser war nun tadellos und schmeckte auch so. Auf dem alten Herd stand ein Teekessel, aber zu Silas Freude gab es auch einen modernen Wasserkocher. Der Strom funktionierte. Harry hatte ihr versichert, dass er bisher noch bezahlt worden war und sie die Verträge nur umschreiben lassen musste. Die Papiere waren alle in dem Umschlag.
Der warme Tee und ein Brötchen mit Käse aus ihrem Rucksack gaben Sila die Kraft, das obere Stockwerk zu erkunden.
Die alten Dielen knarrten gespenstisch unter ihren Schritten. Sicher hatten sie früher genauso laut geknarzt, aber da war sie nicht allein auf dem Grundstück gewesen. Wanda war immer im Garten oder in der Küche, im Nebengebäude die Wirtschaft voller Gäste und ihre Mutter irgendwo dazwischen.
Jetzt war es totenstill. Die Türen zu den Zimmern standen offen, alles war von Staub bedeckt. Wanda hatte unten in der Kammer geschlafen, hier oben war das Schlafzimmer ihrer Mutter mit dem Doppelbett, mehrere Gästezimmer, die manchmal vermietet worden waren, und Silas altes Zimmer. Dort ging sie jetzt hinein und stellte ihren Rucksack ab. Es sah aus, als hätte Wanda hier alles so gelassen, wie es gewesen war. Es hatte nie viel mehr gegeben als einen Tisch, einen Stuhl, einen Schrank und eben ihr Bett. Für mehr war auch kein Platz. Den Charme des Zimmers, den es trotzdem besaß, machten die drei Fenster mit den Rundbögen und dem Wein davor aus.
Sila fand saubere Wäsche im Schrank und bezog ihr Bett. Es waren noch dieselben rotkarierten Bezüge. Dann warf sie sich rückwärts darauf. Immer noch so viel Himmel vor dem Fenster, eingerahmt von den Weintrauben, die jetzt noch ganz klein waren, und den grünen Blättern, durch die die letzte Abendsonne schien. In den knorrigen Reben tobten Meisen und zwitscherten leise. Schon fühlte sich Sila weniger einsam. Sie lag da und lauschte eine Weile auf die Stille. Dann kniete sie sich aufs Bett, öffnete das eine Fenster weit und beugte sich hinaus.
Der Ziegenkopf schien ihr zuzuzwinkern. Sila blickte hinunter auf die Nebengebäude, und auf einmal war ihr, als ob sie ganz deutlich die Stimmen aus ihrer Vergangenheit hörte.
Wanda und Dorothea, die sich unten in der Küche unterhielten. Die Stimme von Silas Mutter war immer ein wenig zu laut gewesen, wahrscheinlich, weil sie sich über das Stimmengewirr der Gäste hinweg in der Kneipe so oft Gehör verschaffen musste.
»Ab morgen bin ich drei Tage weg«, sagte Dorothea zu Wanda. »Semir kommt nach Berlin. Er hat es versprochen. Auch wenn er nachts zurückmuss, wird er am Morgen wiederkommen. Sein Bruder und Daniela auch, wir wollen uns eine gute Zeit machen. Ich habe es mir weiß Gott verdient nach all der Schufterei.«
»Nimmst du Sila mit?«, fragte Wanda. »Sie sollte ihren Vater auch wieder einmal sehen dürfen.«
»Ach nein, das ist mir zu anstrengend. Sie ist hier viel besser aufgehoben. Die Stunden mit Semir sind so kostbar. Das ist nichts für Kinder.«
»Bist du sicher, dass es gut ist, das Kind so viel allein zu lassen?«, gab Wanda zu bedenken.
»Ach was, sie ist doch bei dir in den besten Händen. Sie spielt viel lieber im Dreck, als ein schönes Kleid anzuziehen und in der Stadt spazieren zu gehen, das weißt du doch. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich zu dieser Tochter komme.«
»Na, ich schon«, bemerkte Wanda.
»Wenn sie einmal groß ist, wird sie auch einen Mann finden, den sie liebt, und dann wird sie verstehen, dass man dabei kein Kind gebrauchen kann. Das hier ist meine Zeit, meine und Semirs, und die ist so kurz, das lass ich mir nicht nehmen«, erklärte Dorothea.
»Und was sagt Semir dazu? Möchte er seine Tochter nicht sehen?«
»Der will auch mit mir allein sein. Außerdem ist sie nur ein Mädchen. Semir wollte lieber einen Sohn. Vielleicht machen wir dieses Wochenende einen.« An dieser Stelle hatte Wanda das Fenster zugeknallt, und Sila hörte nichts mehr. Sie war traurig, dass sie Semir nicht sehen würde, aber sie konnte auch nicht ändern, dass sie ein Mädchen war. Ob sie wirklich einen Bruder bekommen würde? Das wäre schön. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter wirklich noch ein Kind wollte.
Dann war da das Stimmengewirr aus der Wirtschaft, das in aufbrandenden Wellen durch den Garten rollte und durch Silas Fenster drang, vor allem abends, wenn sie zu schlafen versuchte. Gelächter und Gejohle und Tellerklirren. Manchmal drehte auch jemand die Musik auf. Sila gewöhnte sich daran und schlief trotzdem ein. Nur dann nicht, wenn ihre Mutter vorher eine der Phasen gehabt hatte, in der Sila bei ihr im Gastraum sitzen musste.
Je älter Sila wurde, desto mehr fürchtete sie sich vor diesen Tagen. Denn wenn ihre Mutter in der Küche verschwand oder nicht hinsah, gab es Männer, die sie anstarrten, ihr über die Haare strichen oder sie in die Wange kniffen und einmal auch woandershin. Manche wollten mit ihr tanzen, andere ihr ein Stück Bratwurst in den Mund stecken. Sie hatte versucht, es ihrer Mutter zu sagen, aber die lachte nur und zuckte mit den Schultern. »Mach dir nichts draus. Männer sind so. Das hat nichts zu bedeuten.«
Das war das Beste daran, als sie den Hof verlassen hatten: dass sie nie wieder Zeit in der Wirtschaft verbringen musste.
Fast hätte Sila sich jetzt die Ohren zugehalten, so laut erschienen ihr die Gespenster der Vergangenheit. Stattdessen schloss sie das Fenster, schaltete auf ihrem Handy eine Playlist an und drehte sie laut. Sieben Lieblingslieder später hatte sie sich wieder beruhigt. Die Wirtschaft stand seit Jahren verlassen. Es war niemand hier! Nichts konnte ihr mehr etwas anhaben.
Draußen fiel die Dämmerung zwischen die Gebäude, die Geräusche der Vergangenheit waren verstummt. Nur Fledermäuse flitzten wie damals durch den dunkelblauen Himmel.
Da klingelte ihr Handy. Indra! »Hallo, Sila, wir wollten bloß hören, wie es dir dort geht. Du sollst wissen, dass wir an dich denken. Du bist nicht allein.«
»Indra, wie lieb von dir! Genau das habe ich gerade gebraucht. Geht es euch gut?«
»Ja, alles in Ordnung. Devin hat einen Kunden mit drei kleinen Kindern angeschleppt, die hier alles auseinandernehmen wollten, doch wir haben die Krise gemeistert. Aber du hast gar nicht gesagt, wie es dir geht?«
»Bei mir ist auch alles in Ordnung. Vor allem jetzt, wo du angerufen hast. Es ist schon sehr merkwürdig, wieder hier zu sein. Ich muss mich erst daran gewöhnen. Aber es gibt auch viel Schönes.«
»Du schaffst das schon«, sagte Oswin, der anscheinend mithörte. Sila sah vor sich, wie er sich über Indras Schulter lehnte und unnötig laut in das Mikrophon sprach. Ihr wurde warm ums Herz. Sie hatte so wunderbare Menschen in ihrem Leben! Was konnte ihr da die Vergangenheit anhaben? »Ja, ich schaffe das, weil ich euch habe. Danke, dass ihr da seid und dass ihr so seid, wie ihr seid«, sagte sie mit einem Kloß im Hals.
»Lieb von dir, aber werde nicht sentimental, Mädchen«, antwortete Indra ein wenig heiser. »Natürlich sind wir immer für dich da. Sentimentalität ist kein guter Ratgeber. Tu das, was dir vernünftig erscheint. Und wenn du Hilfe brauchst, melde dich.«
»Das mach ich, Indra, ganz bestimmt! Passt auf euch auf!« Sila fühlte sich nach diesem Gespräch gleich viel besser. Sie suchte sich eine Jacke aus dem Rucksack und ging hinaus. Jetzt war es schon ganz dunkel. Sie staunte, wie viele Sterne man hier sehen konnte. Das hatte sie völlig vergessen. In Berlin entdeckte man mit Glück einige Planeten und vielleicht auch noch Sirius im Winter. Ansonsten war der Himmel auch nachts eher von einem verwaschenen Rosa als ganz schwarz. Hier aber war er ein Feuerwerk aus hellen Punkten. Im Hintergrund stand als Silhouette davor tapfer die kleine Kirche, in der ein Fenster erleuchtet war. Doch keine gottverlassene Gegend, dachte Sila.
Ihr Handy klingelte wieder. Diesmal war es Devin. Es tat gut, seine Stimme zu hören. Er war doch ihr Anker. Nicht immer, aber immer wieder. »Ich wollte hören, wie es dir geht«, sagte er sanft.
»Ich glaube, gut. Zwischendurch auch nicht. Aber dann doch wieder. Es ist eben alles noch hier genauso wie früher. Das, was nicht gut war, und das, was gut war. Ich brauche ein bisschen Zeit, um mich zu sortieren.«
»Zeit hast du ja. Wenn du mich doch noch brauchst, Anruf genügt, und ich komme. Aber ich glaube, es ist richtig, dass du dort bist. Manchmal muss man den Dingen entgegengehen, die einen ein Leben lang verfolgt haben. Damit sie endlich damit aufhören. Irgendwann ist man lange genug weggelaufen.«
Er kannte sie so gut. »Ja. Jetzt wo ich hier bin, wird mir das auch klar. Und das kann ich nur alleine tun. Aber danke. Es gibt mir so viel Kraft zu wissen, dass du da bist, wenn ich Hilfe brauche. Und dass du mich verstehst.«
»Immer, Sila. Das weißt du.«
»Devin?
»Ja?«
»Danke.«
Sie sah sein Lächeln vor sich. »Schlaf gut, Sila.«
Sila fühlte sich auf einmal seltsam geborgen. Fast ein wenig, als wäre sie zu Hause. Und doch wusste sie, dass sie das hier niemals sein konnte und nie wirklich gewesen war. Dennoch freute sie sich. Sie freute sich darauf, in ihrem Zimmer zu schlafen und beim Aufwachen den Wein vor dem Himmel zu sehen. Sie freute sich darauf, schon morgen im Obstgarten tätig zu werden, das Gartentor zu reparieren und einfach nur hier zu sein, in der Stille und der Weite und dem Nichts.
Sie wusste noch nicht, wie lange sie bleiben würde, aber sie fühlte sich von einer Last befreit, weil sie hier sein konnte und ihr eine Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft geschenkt wurde, zum Durchatmen und Sich-neu-Sortieren. Dafür war die Einsamkeit hier genau richtig. Einfach nur sein, zwischen Himmel und Erde, wie ihre Freunde, die Bienen.
Sie würde nachsehen, ob die Schneckenhausbienen noch da waren oder ob man ihnen wieder ihren Platz schaffen musste. Sie würde die Zeit nutzen, um sich mit ihrer Kindheit zu versöhnen. Um den Abschied vom Hof nachzuholen, der ihr damals verwehrt geblieben war. Um offene Wunden zu schließen wie die Bienen ihre Waben mit Wachs.