Sila hatte Wandas altes Fernglas in der Küche gefunden. Als sie beim Frühstück wieder die Rufe der Bussarde hörte, ging sie hinters Haus und richtete es auf die riesige alte Tanne am Ende des Grundstücks. Erst sah sie nur Runaj, der einen Ast entlanghüpfte, doch dann entdecke sie es. An einer Stelle nahe dem Wipfel war der Horst, nahe am Stamm. Darin saß das Weibchen, größer und heller als Runaj.
»Ich werde dich Joy nennen«, sagte Sila leise. Jetzt sah sie, wie Runaj seiner Partnerin eine Maus überreichte. Dann flog er hinab zum Graben. Dort gab es Frösche und reichlich Kaulquappen, wie Sila auf ihrer gestrigen Abendrunde festgestellt hatte. Durch das Fernglas beobachtete sie, mit welcher Hingabe Runaj an einer flachen Stelle im Wasser badete, seine Schwingen ausbreitete und glitzernde Tropfen aufspritzen ließ. Hinterher flog er auf einen Stein und pflegte gründlich sein Gefieder, bis es trocken war. Zu guter Letzt schnappte er sich einen Frosch und flog damit davon, nicht ohne Sila einen Blick zuzuwerfen, der zu sagen schien: Ich weiß, dass du da bist, und es ist in Ordnung für mich.
Die vertrauensvolle Nähe des erhabenen Vogels verursachte ihr Gänsehaut. Es war ein bisschen wie ein Ritterschlag.
Mit neuem Schwung holte Sila Futter für die Minischweine, die sie mit fröhlichem Quieken und Schnuffeln begrüßten und sich an ihren Beinen rieben. Ehe Sila es sich versah, hatte sie eine halbe Stunde mit ihnen gespielt. »So geht das aber nicht«, sagte sie zu Curie, die mit einem seligen Ausdruck in den Augen halb auf Silas Schoß lag und protestierte, wenn sie aufhörte zu kraulen. »Ich muss die Benjeshecke bauen. Und nach den Wicken sehen. Und überhaupt den ganzen Hof in Ordnung bekommen, ehe ich das einem Makler zeigen kann! Der fällt ja sonst in Ohnmacht.«
Die Pflöcke zurechtzusägen war nicht so schwer, wie sie gedacht hatte. Sie hatte Wanda früher schon dabei geholfen, die Äste anzuspitzen. Holz war genug da. Sila war hochzufrieden, als es ihr gelang, die fertigen Pfähle mit dem Vorschlaghammer so tief zu versenken, dass sie stabil waren. Das hatte sie sich gar nicht zugetraut. Nach einer kurzen Mittagspause schichtete sie das Reisig dicht zwischen die Pfahlreihen und holte auch noch die zweite Ladung aus dem Obstgarten. Zum Schluss sammelte sie zwischen Haus und Nebengebäuden und auf dem Innenhof die herumliegenden Zweige auf und packte sie oben auf die Hecke. Trotz verbleibenden Unkrauts, alten Herbstlaubs und der schmutzigen Wege sah alles jetzt schon viel besser aus. Außerdem hatte der Gemüsegarten seinen Windschutz wieder und das Kleingetier Unterschlupf.
Sila zählte gerade die Mückenstiche auf ihren Armen und überlegte, ob sie eine Salbe eingepackt hatte, als Lisann mit fröhlichem Hupen vorfuhr.
»Hey, ich wollte dir nur sagen, Martin hätte morgen Vormittag Zeit, nach deinem Auto zu sehen«, sagte sie und setzte sich neben Sila auf die Stufen vor der Haustür. »Du warst aber fleißig! Hier sieht es schon viel besser aus.«
»Finde ich auch. Aber ich habe noch nicht mal das ganze Gelände gesehen. Es gibt noch viel zu tun, ehe ich Harry bitten kann, den Makler zu schicken.«
»Lass dir Zeit. Alles auf einmal geht nicht. Hast du es denn so eilig?«
Sila dachte an die Stadt, die bald sommerheiß und staubig sein würde. An die Enge zwischen den Häusern, an den Lärm.
»Nein. Ich vermisse Indra und Oswin und Devin, aber sie könnten mich ja mal besuchen kommen.«
Die Idee hatte sie noch gar nicht gehabt. Das wäre doch schön! Aber erst, wenn sie noch viel weiter mit allem war. Sie wollte, dass die anderen den Wickenhof von seiner besten Seite sahen. Am besten im Hochsommer, wenn es in der Stadt beinahe unerträglich war. Es würde ihnen guttun. Und Harry! Wenn sie das Auto in Gang brachten, könnte sie auch Harry einmal hierherholen. Sicher wäre es auch für ihn schön, wieder einmal auf dem Wickenhof zu sein und zu sehen, wie alles blühte. Oder würde es ihm zu sehr weh tun, ohne Wanda? Sila würde ihn fragen. Der Wickenhof war ein Ort, der Menschen guttat.
Und das sollte er nach Möglichkeit bleiben. Das wünschte sie sich, wurde ihr klar. Einen Käufer, der einen Ort für Menschen daraus machte.
»Sila?« Lisann wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. »Wo bist du?«
»Oh, Entschuldigung. Ich war in Gedanken.«
»Das merke ich. Ich habe dich gefragt, ob wir übermorgen eine Fahrradtour an die Oder machen wollen. Da habe ich nachmittags frei. Mit Picknick, so wie früher?«
Die Erinnerung an ihren Vater am Fluss flog durch Silas Kopf, aber sie verscheuchte sie. Heute war heute, und eine große Sehnsucht nach dem Blick auf das Wasser überkam sie. »Sehr gerne. Wenn ich Wandas Fahrrad finde. Das mit dem Picknick übernehme ich.«
»Sie ist noch lange damit gefahren. Das wird nur Luft brauchen. Sonst nimmst du eben Martins. Also, bis dann!« Lisann stand auf. »Übrigens, falls du es vergessen hast, gegen das Jucken der Stiche hilft am besten Spitzwegerich!«
Sie sah nicht mehr, wie Sila sich an die Stirn schlug. Natürlich! Warum hatte sie daran nicht mehr gedacht? Was für ein Stadtmensch sie doch geworden war! Sie musste nicht lange suchen, bis sie ein paar der langen, schmalen Blätter zwischen den Wegplatten fand. Sie zerrieb einige zwischen den Fingern und schmierte den austretenden Saft auf die Mückenstiche. Bald hörte es auf zu jucken.
Aber ihr Scheitel brannte. Sie hatte wieder ohne Hut in der Sonne gearbeitet. Sila schüttelte den Kopf über sich selbst und machte sich auf die Suche nach Wandas Strohhut. Sie fand ihn in deren Kammer, in der immer noch das alte, breite, hölzerne Himmelbett stand wie früher. Man kam gerade so zwischen Bett und Kleiderschrank hindurch, mehr Platz war da nicht. Der Strohhut hing an einem Haken an der Tür. Es war ein buntes Tuch darumgebunden, genau wie Wanda ihn immer getragen hatte. Zu jeder Jahreszeit eine andere Farbe. Dieses zeigte ein Muster aus Herbstblättern.
Im Schrank entdeckte Sila einen Stapel saubere, abgewetzte Latzhosen. Und Baumwollblusen, langärmelige aus Flanell und leichte kurzärmelige. Dazwischen lagen kleine Säckchen mit getrocknetem Lavendel. Sila schnupperte daran und spürte für einen Augenblick ganz deutlich Wandas wohltuende Gegenwart.
Sie hatte im Rucksack nicht viel Kleidung mitnehmen können. Zumal Devin darauf bestanden hatte, dass sie die Brennstation einpackte. »Das ist doch nur die kleine Kiste. Was willst du denn sonst machen, wenn du deinen kreativen Schub bekommst?«, hatte er gefragt. »Dann bist du unglücklich. Kleidung kannst du überall besorgen. Deine Brennstation nicht.«
Sie hatte nachgegeben, weil es sie berührte, dass er so gut wusste, was ihr wichtig war. Dass ihm so viel daran lag, dass sie glücklich war. Sie hätte ihn auf einmal gern geküsst oder wenigstens umarmt, aber sie dachte daran, wie gelöst er neulich mit der Rothaarigen gewirkt hatte, und verwarf den Gedanken rasch. Es war nicht fair, ihn wieder durcheinanderzubringen. Sie hatten es oft genug versucht.
Jetzt zog sie eine der Blusen an und eine Latzhose. Wanda war größer gewesen, aber wenn Sila Beine und Ärmel umkrempelte, ging es. Sie fühlte sich überraschend wohl darin.
Im Schrank lag ganz hinten auch der Stapel mit den bunten Tüchern. Sila wählte ein frühlingsgrünes mit Vergissmeinnicht darauf und band es um den Hut. Das Herbsttuch legte sie in den Schrank.
Im Windfang sah sie sich selbst in dem alten, etwas trüben Spiegel und blieb überrascht stehen. Sie trug Wandas Sachen und wirkte doch mehr wie sie selbst als sonst! Sila hatte noch nie so ausgesehen, aber es passte trotzdem zu ihr. Oder bildete sie sich das nur ein?
Draußen lehnte sie das Handy mit Selbstauslöser an die Bank und machte ein Ganzkörperselfie von sich, die Hände in den Taschen der Latzhose, den Strohhut auf und eine Mistgabel in der Hand. Das schickte sie mit einem Lachsmiley an Devin und an Indra. Oswin lehnte Handys ab, aber Indra würde ihm das Bild zeigen.
Die Antworten ließen nicht lange auf sich warten. »Goldrichtig, Liebes. Passt zu dir. Ich kann sehen, dass es dir gut geht. Weiter so! Und liebe Grüße von Oswin«, schrieb Indra.
»Eine ganz neue Seite von dir. Spannend«, war Devins Kommentar.
Spannend. Ob er das auch über die Schweinchen sagen würde? Von denen hatte sie noch kein Bild geschickt. Das musste sie unbedingt nachholen. Sila holte ein paar der schrumpeligen Äpfel, die sie noch beim Futter gefunden hatte, und ging Kopernikus und Curie besuchen, auch, um mit der Mistgabel die Toilettenecke zu säubern. Die zwei begrüßten sie bereits wie eine alte Freundin. Sie machte ein Foto von ihnen und schickte es hinterher.
»Ich habe ja auch Schwein!«, schrieb sie darunter.
Von Devin kam prompt ein Herzchenaugensmiley und ein erhobener Daumen.
Indra schrieb: »Du hast Schwein verdient. Auch doppelt! Oswin sagt, er wird die beiden als Stoffhocker machen. In bunt natürlich.«
»Na, das ist eine Ehre«, sagte Sila zu ihren beiden neuen Gefährten und stellte sich vor, wie das wohl im Wohnzimmer aussehen mochte. Es würde eine ganz frische Note ins Haus bringen, eine Heiterkeit, die ihm nie eigen gewesen war. Außer wenn Sila im Sommer die Wickensträuße im ganzen Haus verteilt hatte. Je mehr Blüten man schnitt, desto stärker blühten die Wicken. Tat man es nicht, hörten sie auf zu blühen und setzten nur noch Samen an. Sila füllte von Juni bis September jedes Gefäß, das sie finden konnte, und lieh sich sogar die Bierhumpen aus der Wirtschaft dafür aus, bis Dorothea ihr eine wischte, weil nicht genug für die durstige Kundschaft übrig war.
Sila nahm das in Kauf, es passierte sowieso oft genug. Dafür duftete das ganze Haus und erstrahlte in Rosa, Weinrot, Blau und Weiß und Violett. Sie fühlte sich dann wie eine Biene, die von Blüte zu Blüte schwirrte und nur die Farben und die Süße wahrnahm. Es gab ihr das Gefühl, dass sie die Welt verändern konnte. Ein bisschen wenigstens.
Sila leerte den Eimer aus der Schweineecke auf die frische Hälfte des Komposthaufens. Eigentlich müsste jetzt der alte Kompost gesiebt und in den Gemüsebeeten verteilt werden, dachte sie.
An einer Stelle in den Beeten hatten sich Tomaten ausgesät und gediehen prächtig, nur ein wenig zu hellgrün waren die Blätter – es fehlte Dünger. Die Gurken, die dort rankten, sahen ebenso hungrig aus. Außerdem hatte Sila neben den Samen der Wicken noch jede Menge Mohrrüben-, Radieschen- und Salatsamen gesehen. Es wäre ein Leichtes, sie in die Erde zu bringen. Warum eigentlich nicht? Wer auch immer den Hof übernahm, würde sich vielleicht freuen, wenn er etwas ernten konnte. Oder Lisann konnte sich daran bedienen. Oder …
Ein lautloser Schatten flog über Sila hinweg, und Runaj landete auf den Rand des Gurkenbeets. Er schüttelte sich und fixierte Sila auffordernd mit seinen hellen, intelligenten Augen.
»Vielleicht bleibe ich ja, bis die Wicken blühen«, sagte Sila leise zu ihm. Er bewegte den Kopf einmal auf und ab, als wollte er ihr nachdrücklich zustimmen. Aber es war nur die Bewegung gewesen, die er vor jedem Start machte, denn nun flog er los, erhaschte zwischen den Beeten eine Maus, die Sila nicht gesehen hatte, und verschwand Richtung Horst. Sicher war die Maus ein weiteres Geschenk für Joy, die, ohne eine Pause zu machen, auf ihrem Gelege saß.
Dann würde ich sogar noch sehen, wenn ein Küken schlüpft, dachte Sila und fragte sich, ob das Geld auf ihrem Konto so lange ausreichen würde. Immerhin hatte der letzte Kunde bezahlt, das half vorerst. Außerdem hatte Indra angeboten, Silas Mietanteil der Werkstatt zu übernehmen.
»Ich brauche doch so wenig, Liebes«, hatte sie gesagt.
Heute Abend gab es Federwolken am Himmel wie gemalt, von der untergehenden Sonne rosarot gefärbt. Sila hatte sich geduscht und erfreut festgestellt, dass in den letzten Jahren irgendetwas mit den Wasserleitungen geschehen sein musste, denn so stark war der Druck noch nie gewesen, und das Wasser war sogar heiß.
Nun schlenderte sie am Zaun entlang und sah nach den Wicken. Ja, sie trieben überall aus. Erst im Juni würden sie zu blühen beginnen, daher konnte man die Farben noch nicht erkennen. Aber sie rankten munter in die Höhe, und nur an wenigen Stellen gab es Lücken. Doch diese wenigen wollte Sila füllen. Bevor sie schlafen ging, entnahm sie die Samen aus den verschiedenen Tütchen aus Wandas Kästchen und weichte sie über Nacht ein. Morgen würde sie sie in die Erde bringen. Daneben legte sie die Tüten mit den Radieschen, Kohlrabi, Mohrrüben, Feldsalat und Kopfsalat.
Der Rhabarber war schon erntereif, hatte sie gesehen. Wenn es Martin gelingen würde, das Auto in Gang zu bringen, könnte sie nach Letschin fahren und einkaufen und vielleicht einen Rhabarberkuchen backen, auch um sich bei Lisann und Martin zu bedanken. Es wäre schön, wenn das Haus wieder nach Kuchen roch. Wanda hatte oft gebacken, auch für die Wirtschaft.
Ein lauer Nachtwind ließ die Weinblätter vor dem Fenster leise rascheln. Er trug den Duft von Tau auf jungem Gras herein. Darunter, wusste Sila, blickte der tönerne Ziegenkopf wachsam über den Hof wie seit über zweihundert Jahren.
Es war irgendwann nach Mitternacht, als Sila aufwachte. Erst wusste sie wieder nicht, wo sie war, dann sah sie die halbrunden Fenster mit dem Mondlicht dahinter, das die Weinblätter jetzt silbern erscheinen ließ. Der Vollmond hatte sie geweckt, er schien ihr direkt ins Gesicht. Es gab zwar Vorhänge, aber Sila hatte sie weder damals noch heute jemals geschlossen, da vor den Fenstern nur die Blätter und der Himmel waren. Sie wollte morgens die Schwalben fliegen sehen und die Stare, die Bienen und die Wolken.
Noch im Halbschlaf kam sie sich vor, als wäre sie wieder acht oder neun Jahre alt. Genauso hatte der Mond sie damals geweckt. Dann waren Stimmen durch den Flur geklungen, aus dem großen Schlafzimmer. Ihre Mutter, ihr Vater.
»Wie hältst du eigentlich diese Stille hier aus, Dorothea?«
»Ich würde auch lieber in Berlin leben. Wenn du mich heiraten würdest, könnten wir …« Sila hasste es, wenn die Stimme ihrer Mutter so klang. Ein bisschen traurig, ein bisschen bettelnd, dabei dennoch ein bisschen hochnäsig. Sie hatte keine Worte dafür, aber sie mochte es nicht. Auch weil sie ahnte, dass ihr Vater es ebenso wenig mochte und er dann wieder monatelang nicht auf den Hof kommen würde. Dabei hatte er gestern noch mit Sila Fußball gespielt, als wäre sie der Junge, den er gewollt hatte. Sie hatten viel zusammen gelacht.
»Du würdest mich wirklich heiraten, um in den Westen zu kommen?«, fragte Semir nach. Seine Stimme mochte Sila, sie war tief wie ein Brummbär, irgendwie gemütlich.
Den Westen stellte sie sich vor wie ein großes, beleuchtetes Schloss mit lauter Musik, darin viele Läden, in denen es gab, was ihre Mutter mochte, Nylonstrümpfe und Haarfarbe und Lippenstift und Zigaretten. Sila wollte nicht in den Westen. Sie wollte bei den Bienen bleiben und bei Wanda und dem Fluss.
»Natürlich. Wir könnten es schön haben. Ich habe immer gedacht, das würden wir bald tun. Schon als ich dein Kind bekam, wäre es doch richtig gewesen.«
»Meine Tochter hat nichts damit zu tun. Ich kann dich nicht heiraten. Du gehörst nicht meinem Glauben an.«
»Und wenn schon. Ich habe keinen Glauben. Ich kann einfach deinen annehmen.«
»So einfach ist das nicht. Das ist eine ernste Sache.«
»Denk wenigstens darüber nach.«
»Dann überzeuge mich doch«, sagte Semir, und Sila hörte genau, dass er dabei lächelte. Und dann zog sie die Bettdecke über die Ohren.
Sila kämpfte sich aus dem Halbschlaf in die Gegenwart, setzte sich auf, fuhr sich durch die Haare, rieb sich die Augen, lauschte. Stille. Natürlich war im Flur Stille, es waren nur alte, sehr alte Worte, die dort noch herumgeisterten. Semir und Dorothea waren längst fort. Warum waren ihre Stimmen nicht verstummt?
Sila stand auf, lehnte sich aus dem Fenster in die angenehm kühle Nachtluft und betrachtete eine Weile den hellen Mond und den Schatten, den der Ziegenkopf auf die Hauswand warf. In der Ferne konnte sie die hellen Blüten an den Obstbäumen sehen. Sie wartete, bis ihr Atem ruhiger ging und die Stille freundlich und frei von alten Echos war, dann legte sie sich wieder hin. Müde genug von der Tagesarbeit war sie, um rasch einzuschlafen. Der Mond war weitergewandert und schien nicht mehr in ihr Bett.
Zwei Stunden später kämpfte sie sich aus einem Albtraum, zitternd und verschwitzt und mit einem entsetzlichen Gefühl der Beklemmung. Sie hatte keine Luft bekommen. Es war eng, so eng gewesen!
Ganz klein zusammengerollt hatte sie in dieser Trommel aus Metall gesteckt, die hallende, klappernde Geräusche von sich gab, wenn Sila sich bewegte. Aber sie durfte sich nicht bewegen, es war verboten, sonst würden sie geschnappt werden und ins Gefängnis kommen. Niemand durfte wissen, dass sie hier drin war. Keinen Mucks durfte sie machen, obwohl ihr alles weh tat und sie keine Luft bekam.
Irgendwo ganz nahe waren die anderen, auch in solchen Trommeln versteckt, ihre Mutter, ihre Tante Daniela, Semirs Bruder Akif. Aber Sila konnte sie nicht hören. Es war dunkel. Vielleicht war sie auch schon ganz allein, vielleicht hatte man sie vergessen. Alles bewegte sich, ratterte um Sila her, schwankte, ihr war schlecht, aber sie musste sich klein machen und so tun, als wäre sie nicht da. Sie wusste nicht, wie lange es schon dauerte und wann es aufhören würde. Vielleicht nie wieder …
Sila flüchtete aus dem Bett, lief ins Bad, ließ kaltes Wasser über ihr Gesicht laufen. Jahrelang hatte sie keine solchen Träume mehr gehabt. Sie hätte nicht herkommen sollen! Das weckte alles wieder auf. Es würde nicht genügen, dass es jene Zeit nicht mehr gab. Hier war sie noch lebendig. Es würde nicht aufhören, nie, auch nicht, wenn die Wicken blühten.
Draußen war es noch stockdunkel. Sila lief hinunter in Wandas Kammer und kroch dort ins Bett. Die Wäsche roch ein wenig muffig und gleichzeitig nach Lavendel.
Hier unten hallten keine alten Gespräche durch den Flur. Es war still, bis die ersten Amseln begannen, den Tag über dem grünen Horizont zu begrüßen.