Hier und Jetzt

Es regnete. Sila saß auf den Stufen unter dem Vordach, die Hände um die warme Kaffeetasse gelegt, und lauschte dem gleichmäßigen Tropfen und Plätschern, wo das Wasser aus der Dachrinne ins Regenfass lief. Die Geräusche waren beruhigend, löschten langsam den Nachklang der alten Gesprächsfetzen und ließen es in Silas aufgewühlter Seele wieder still werden.

Die Luft war warm, und die feuchte Erde duftete nach Frühsommer. Die Amseln sangen immer noch, dieses bestimmte Lied, das sie nur im Regen singen. Schließlich stellte Sila die leere Tasse zur Seite, stand auf und lief hinaus in diesen reinigenden Regen, hob das Gesicht zum Himmel und spürte die Feuchtigkeit auf ihrer Stirn, ihren Lippen, ließ die Tropfen in ihren Kragen rinnen, streckte die Arme in die Höhe. Sie zog die Schuhe aus und lief barfuß über die nasse Erde hin zu Kopernikus und Curie, um zu sehen, was die kleinen Schweine bei diesem Wetter trieben.

Die beiden waren dabei, durch die Pfützen zu sausen und sich mit Vergnügen darin zu suhlen. Sila stieg über den Zaun, und beide rannten ihr eilig entgegen und stoben dann wieder fort. Es war wie eine Einladung, ihnen zu folgen. Sila tat es, rannte mit ihnen, bis sie völlig außer Atem war. Es kam, wie es kommen musste. Sie rutschte aus und fiel in den nassen Lehm. Ihre beiden Spielgefährten drückten sich quiekend an sie. Und so lag Sila auf der duftenden Erde, von oben bis unten voller Schlamm,

Was waren die Gespenster der Vergangenheit gegen diesen Zauber? Nichts! Sie machten den Moment nur um so kostbarer.

 

»Hallo?«

Sie hörte die fremde Stimme erst, als die Gestalt plötzlich am Zaun stand, eingehüllt in einen Regenparka, von dessen Kapuze es in einen Bart tropfte. Blaue Augen betrachteten sie amüsiert.

»Ich bin Martin. Wenn du Sila bist, passt du deutlich besser hierher, als ich es von einer Berlinerin angenommen hatte«, sagte der Mann. »Komme ich ungelegen? Ich wollte nach deinem Auto sehen.« Er stieg über den Zaun und reichte ihr eine Hand, um ihr aufzuhelfen.

»Hallo, Martin. Vielen Dank, aber fass mich besser nicht an.«

»Liebe Sila, ich bin Landwirt. Ich habe schon Schmutzigeres angefasst.« Schon hatte er sie hochgezogen.

Sein Lächeln war herzlich, und Sila sah sofort, warum Lisann sich in diesen Mann verliebt hatte. Sie freute sich. Lisann hatte Glück verdient.

»Wenn du mir die Autoschlüssel gibst, kümmere ich mich schon mal. Ich weiß, wo der Wagen steht. Du möchtest dich vielleicht umziehen«, schlug Martin auf dem Weg zum Haus vor.

Sila hatte den Autoschlüssel schon am Vortag von dem Schlüsselbund mit dem grünen Herzen abgemacht und an einem anderen Anhänger befestigt. Jetzt nahm sie ihn vom Haken neben der Tür und reichte ihn Martin. »Danke dir, das ist wirklich nett. Ich komme gleich nach.«

»Lass dir Zeit. Ich sehe mal, ob ich herausfinde, was dem alten Fridolin fehlt.«

Er zuckte mit den Schultern. »Das war Wandas Idee.«

Sila sah ihm nach, wie er um die Pfützen herum Richtung Garagenschuppen ging, dann ließ sie ihre nassen Sachen im Windfang fallen und lief in die Dusche. Sie lächelte vor sich hin. Fridolin. Runaj und Joy. Kopernikus und Curie. Anscheinend hatte sie hier auch eine Art Familie. Eine, die ihr lag. Und nette Nachbarn obendrein.

Dafür würde sie es wohl einige Zeit ertragen, mit den bedrückenden Spuren der Vergangenheit zu leben.

Sie wollte eine Weile träumen wie die Bienen. Von Wiesen und Sommerduft und einem weiten Himmel, von der Süße der Gegenwart und einem Meer aus Blüten. Davon, dass es am Morgen wieder hell wurde.

 

Seit Wanda der kleinen Sila erzählt hatte, dass auch Bienen träumen, war in der Forschung viel geschehen. Sila hatte es seit einiger Zeit verfolgt. Man hatte herausgefunden, dass Bienen nicht nur im Schlaf ihre Beine in einer Art bewegen, die vermuten ließ, dass sie tatsächlich träumen. Man hatte auch beobachtet, dass manche Bienen mitten in der Nacht aufstanden und zu tanzen begannen, egal, ob andere Bienen dies beachteten oder nicht.

Bekannt war schon seit langem, dass Honigbienen einander mit Hilfe von Schwänzeltänzen mitteilen, wo welche Blumen blühen, wo es Wasserstellen gibt und wo neue Nistmöglichkeiten. Sie teilen sich auf diese Art Richtung und Entfernung und vieles mehr mit und sind somit außer den Menschen die praktisch einzigen Lebewesen, die ein Symbolsystem benutzen, um sich zu verständigen. Warum aber eine Biene plötzlich nachts für sich allein begann, einen solchen Tanz aufzuführen, das

Wanda jedenfalls, so schien es, hatte recht gehabt. Bienen träumen, und im Grunde träumen die Menschen von denselben, einfachen Dingen. Sie wussten es nur nicht immer.

Ich weiß es, dachte Sila. Ich wollte immer nur die einfachen Dinge. Frieden, Geborgenheit, Licht und Farben, Bienen und Blumen.

 

Sie trocknete sich ab, schlüpfte in ein warmes Hemd und in Wandas Arbeitshose, zog ihre Regenjacke über, kochte Kaffee und ging mit einer Thermoskanne und zwei Tassen hinüber in den Garagenschuppen.

Der alte Pickup-Truck war quietschgrün gestrichen, stellte Sila fest. Der Motor lief. Als Martin Sila sah, stellte er ihn aus und kletterte vom Sitz. »Es war nur das Übliche. Die Zündkerzen. Öl hat er auch gebraucht. Ich habe außerdem den Tank aufgefüllt. Der Kanister ist jetzt leer und liegt hinten drin. Wenn du an einer Tankstelle vorbeikommst, solltest du ihn auffüllen und nach dem Reserverad sehen lassen. Ansonsten ist der gute alte Fridolin wohl fahrtüchtig.« Er gab dem Wagen einen aufmunternden Klaps.

»Vielen Dank, Martin! Das ist eine Riesenhilfe. Möchtest du?« Sila hielt die Thermoskanne hoch.

»Gerne.« Er wischte sich die Hände an einem Lappen ab und ließ sich auf einem Heuballen nieder. Sila setzte sich dazu.

Zufrieden trank er seinen Kaffee. »Das tut jetzt gut! Übrigens, Lisann tut es auch gut, dass du hier bist.«

»Sie tut vor allem mir gut. Aber ich kann nicht bleiben.«

Sila dachte daran, wie sie mit den Minischweinen im Schlamm gesessen hatte. Auch der Rest des Tages gehörte ihr allein. Um sie herum roch es nach Heu und Benzin, Kaffee und nasser Erde. Martin war sympathisch. Und er hatte recht.

»Doch«, sagte Sila. »Das genügt vollkommen.«

 

Später fuhr sie nach Letschin und kaufte ein. Mit Fridolin kam sie nach ein paar kleineren Anfangsschwierigkeiten gut zurecht.

Danach erntete sie Rhabarber und rührte den geplanten Kuchen zusammen, während immer noch Tropfen auf die Fensterbretter und das Vordach fielen. Als es im Haus anfing, nach dem Backwerk zu duften, riss der Himmel auf, und alles draußen begann, silbern zu funkeln. Sila stand lange am Fenster, bis die nächste Regenwolke aufzog und es wieder grau wurde.

Sie holte den Kuchen aus dem Ofen und war sehr zufrieden damit.

Das Aroma verteilte sich in allen Räumen, zog bis ins Obergeschoss und machte ihr Mut. Sie suchte Staubsauger und Lappen und folgte dem Duft nach oben. Dort riss sie überall die Fenster auf, auch im Zimmer ihrer Mutter, und ließ die frische, klare Regenluft herein. Sie wischte Staub, bis sie in keiner Ecke mehr welchen entdeckte, saugte auch unter den Betten und im allerletzten Winkel.

Die Schränke waren zum Glück leer. Falls ihre Mutter etwas zurückgelassen hatte, so hatte Wanda es längst beseitigt,

Sila rollte noch den Läufer im Flur zusammen und schüttelte ihn am Fenster aus, beschloss dann jedoch, ihn gar nicht mehr hinzulegen. Die blanken Dielen sahen viel schöner aus. Sie trug die Rolle hinunter in den Keller und lehnte den Teppich an zwei aussortierte Stühle. Wieder oben, stellte sie fest, dass so etwas wie ein Aufatmen durch das Haus gegangen war. Jedenfalls erschien es ihr so. Heute Nacht würde sie besser schlafen.

Inzwischen stahl sich warmes Licht zwischen den Weinblättern hindurch. Sila lief hinaus. Die Regenwolken waren endgültig fort, aber der Himmel war noch verhangen. Am Horizont färbte sich der untere Wolkenrand rosa. In den Fliederbüschen unten am Graben sang eine Nachtigall. Klar trieben die Töne auf dem Abendwind zu Sila hin. Sie holte die eingeweichten Wickensamen und steckte sie am Zaun entlang in die Erde, überall dort, wo sie Lücken entdeckt hatte. Auch neben der Haustür am Rankgitter, am Eingang der Remise, neben der Garage und an allen möglichen Stellen, die ihr begegneten.

 

Die Radieschen, Möhren und Kohlrabi wollte sie nun doch erst aussäen, wenn sie wenigstens etwas Kompost gesiebt und in die Erde der Gemüsebeete eingearbeitet hatte.

Sila genoss es, wie sich ein Projekt nach dem anderen ergab, als ob der Hof selbst sie an der Hand nahm und führte, wie es früher Wanda getan hatte.

Sila war eigentlich todmüde von der unruhigen Nacht und der körperlichen Arbeit und Bewegung, aber sie zögerte noch, schlafen zu gehen. Sie wollte nur rasch nachschlagen, wie lange Kohlrabi von der Aussaat bis zur Erntereife benötigte. Sie konnte sich partout nicht erinnern. Im Grunde spielte es keine Rolle, aber sie hasste es, nicht zu wissen, was sie tat.

Der erste Artikel, auf den sie dazu stieß, führte sie auf einen Blog namens Valentinas Garten, geschrieben von einer Frau, die sich SeeReh nannte. Dort stand über Kohlrabi, dass es etwa acht bis zwölf Wochen dauere, bis man ihn ernten kann.

So lange würde Sila vielleicht sogar hierbleiben. Sie konnte sich dunkel an den Geschmack frisch geernteten Kohlrabis aus Wandas Garten erinnern. Mit dem aus dem Supermarkt hatte der so gut wie gar nichts gemeinsam.

Der Schreibstil der Bloggerin SeeReh gefiel Sila. Sie erklärte gut, klar und anschaulich, mit einem lebendig-freudigen Unterton, der Sila ansprach. SeeReh behauptete, der Kohlrabi, der am Meer wuchs, hätte eine ganz besondere würzige Note und dass wahrscheinlich jeder Kohlrabi nach der Landschaft schmecke, in der er gewachsen war. Kohlrabi, schrieb sie, sei anders als die eigenwilligen Mohrrüben so etwas wie eine Leinwand, auf der Raum sei für ein individuelles Aroma der Umgebung.

Sila las sich fest. Da war auch ein Artikel über Kompost und einer über Obst. Die Bloggerin war Biologielehrerin, erfuhr Sila nach einiger Zeit, und nutzte ihren Garten dazu, ihren Schülern

Laut Impressum hieß SeeReh mit Klarnamen Alexandra Rehling, und ihr Garten befand sich auf der Insel Fehmarn. Sila musste nachsehen, wo die genau lag. Sie war in ihrer Zeit mit Devin einmal mit ihm in Warnemünde gewesen, ansonsten hatte es sie auf ihren wenigen gemeinsamen Reisen eher in den Süden gezogen, nach Italien oder Portugal. An der Ostsee kannte sie sich nicht aus.

Die Seite gefiel ihr so gut, dass sie sich auf der Plattform unter dem Namen Mondbiene anmeldete und einen Kommentar schrieb.

Als Sila schließlich ins Bett ging, lehnte sie sich vorher aus dem Fenster und sagte dem Ziegenkopf gute Nacht, wie sie es früher getan hatte. Im Mondlicht schien er ihr zuzuzwinkern.

Deshalb Mondbiene. Bei Tag die Bienen mit ihrem Summen und ihrer vertrauten, beruhigenden Gegenwart. Bei Nacht das Mondlicht über dem Garten. Das bin ich, dachte Sila. Das ist es, was mich hält, was ich mag.

Diesmal schreckten sie keine längst verklungenen Stimmen aus dem Schlaf. Sie träumte von der Streuobstwiese und einem neuen, hellen Tag.

Wie wahrscheinlich die Bienen unten im Garten auch.

 

Wandas Fahrrad stand in der Remise, komplett mit den alten Körben am Lenker und rechts und links am Gepäckträger. An diese Körbe konnte sich Sila noch erinnern. In dem vorderen

Das Fahrrad selbst hatte seitdem jemand neu lackiert, in Hellblau mit weißen Wolken darauf. Das gefiel Sila ausnehmend gut. Wenn Devin sie besuchen kam, könnte er einige von den Farbeimern in der Werkstatt mitbringen, dachte sie, während sie die Reifen aufpumpte. Plötzlich hatte sie das Verlangen, die Zimmer frisch zu streichen. Die hatten es wahrlich nötig. Das würde der gedrückten Atmosphäre und den alten Stimmen den Rest geben. Mit dem Zimmer ihrer Mutter würde sie anfangen, danach ihr eigenes. »Mitte des Sommers« vielleicht, ein warmes Hellgelb. Oder doch »Aprikosenzeit«? Am besten das eine so, das andere so. Dann Wandas Zimmer in »Meeresruhe«, hellblau wie das Fahrrad, das Wohnzimmer eher ein heiteres Grün, »Wiesenkonzert« zum Beispiel. Über die Küche musste sie noch nachdenken. Das Streichen wäre etwas für Regentage. So könnte sie im Haus ihre eigenen Spuren hinterlassen, wenn sie es verkaufte.

Daneben lehnte ein schlichtes schwarzes Herrenrad, also hatte auch Harry wahrscheinlich noch eine Zeitlang fahren können. Sila lächelte, stellte sich vor, wie Wanda und Harry nebeneinander unterwegs gewesen waren, am Ende eines langen, arbeitsreichen und oft schwierigen Lebens, frei, verliebt und unabhängig.

Die Luft in den Reifen schien zum Glück zu halten, aber vorsichtshalber legte Sila die Pumpe in den Korb. Dann ging sie ins Haus, um das Picknick für Lisann und sich zu packen.

Immer wenn sie an der Scheune vorbeiging, in der die Wirtschaft gewesen war, wandte sie den Kopf ab. Sie war noch nicht bereit, dort hineinzugehen.