»Da ist ein Brief für dich. Von einem Anwalt. Hast du etwas angestellt?« Devin stand mit einem Stapel Post in der Tür. Er trug noch Jacke und Mütze und roch nach Frühlingsregen. Den obersten Umschlag drehte er hin und her und sah dann zu Sila hinüber, wobei er die eine Augenbraue hochzog.
Früher einmal hatte sie das attraktiv gefunden. Sie schmirgelte noch heftiger mit dem Sandpapier über das Holz. Staub flog auf, und Sila musste niesen, was ihr erst einmal die Notwendigkeit einer Antwort ersparte.
»Oder hast du eine Erbtante, von der ich nichts weiß?« Er legte den Stapel auf das Fensterbrett, den verdächtigen Brief oben.
»Nicht dass ich wüsste. Die Überschaubarkeit meiner Familie ist dir ja bekannt.«
»Gut. Zu viel Geld verdirbt nur den Charakter.« Jetzt lächelte er sie verhalten an. Dieses Lächeln mochte sie immer noch. Meistens jedenfalls. Heute nicht so sehr. Es ärgerte sie, wenn er so gönnerhaft überlegen tat, nur wegen der acht Jahre, die er ihr voraushatte. In letzter Zeit war das häufiger vorgekommen. Am Wochenende hatten sie gerade erst seinen Zweiundfünfzigsten gefeiert. Am Fenster stand noch eine leere Sektflasche, eine halbleere Schachtel Pralinen lag geöffnet davor. Ihm war wohl selbst aufgefallen, dass sein Tonfall etwas daneben gewesen war, denn er wählte eine Praline mit Nougat, kam zu Sila herüber, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und steckte sie ihr in den Mund. »Die magst du doch. Tut mir leid! Ist wohl die Midlifecrisis. Ein Mann mittleren Alters ist eben auch mal launisch.«
»Na, ob das als Ausrede taugt?«, sagte sie um die Praline herum. Warum hatte er auch gesagt? Die zunehmend grauen Schläfen standen ihm hervorragend, aber das hatte sie ihm irgendwann schon mal gesagt.
»Kommst du voran?«, fragte er. »Willst du den Brief nicht aufmachen?«
»Später. Ich möchte das hier erst fertig machen. Da waren noch Splitter.«
»Splitter? Ich hinterlasse keine Splitter an den Möbeln, die ich mache.«
»Das Holz hat gearbeitet.«
»Wie auch immer. Ich muss wieder los«, sagte er. »Bis später.«
Eine angenehme Stille senkte sich über die Werkstattetage. Die anderen waren noch nicht da, sie arbeiteten meist lieber nachmittags. Sila widmete sich wieder dem Möbelstück. Sorgfältig glättete sie auch noch die letzten Unebenheiten an dem breiten Schaukelstuhl, den Devin gestern fertiggestellt hatte. Der Kunde hatte ihn so gewollt. Extra groß und bequem. Dadurch hatte Sila besonders viel Platz, um auf der Rückenlehne das gewünschte Dekor unterzubringen. Sie freute sich darauf. Aber ohne gründliche Vorbereitung ging das nicht. Schließlich waren Devin und sie für ihre sorgfältige Arbeit bekannt. Ein gutes Team.
Sila vergaß alles um sich herum, auch den Brief. Erst als sie fertig war, das Sägemehl aufgesaugt und die Stuhllehne feucht abgewischt hatte, holte sie sich ein Glas Wasser und trat ans Fenster. Dort fiel ihr Blick wieder auf den Poststapel. Was hatte sie mit einem Anwalt zu schaffen? Gut, dass sie erst gestern mit ihrer Mutter telefoniert hatte, sonst hätte sie angenommen, dass in Portugal etwas passiert sei. Aber Dorothea und ihr zweiter Mann saßen bei bester Laune in Lissabon, wenn sie nicht gerade auf irgendeinem Tanzturnier waren. Sila hatte ihre Mutter in den letzten zehn Jahren nur zweimal gesehen. Sorgen musste man sich um sie wirklich nicht machen. Also konnte der Brief wohl warten, bis sie in Ruhe ausgetrunken hatte.
Sila ging ans Fenster und öffnete beide Flügel. Die Sonne war herausgekommen, und der Regen, der vorhin Devins Jacke durchfeuchtet hatte, funkelte jetzt auf Autodächern, Geländern und in den Zweigen der Birken. Sila beugte sich hinaus und sog begierig die Luft ein, die nach Gras und nach April roch und leider auch nach Großstadt. Das Licht streute Silber auf die Spree, die träge dahinfloss. Dass man sie hier zwischen begradigte Mauern gezwängt hatte, fiel nun nicht mehr so auf wie im Winter, denn die Weiden an den Ufern trieben junge grüne Blätter und legten eine versöhnliche Weichheit über die Szene. Von hier oben im fünften Stockwerk aus fiel Silas Blick direkt auf die Lessingbrücke, die das Westfälische mit dem Hansaviertel verband.
Die Brücke hatte wie Sila eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Sie war im Krieg halb zerstört worden, dann provisorisch wieder aufgebaut und schließlich nach altem Vorbild ganz erneuert. Die metallenen Bögen der Trägerkonstruktion schwangen sich elegant und selbstbewusst in den Himmel, während unten solide Sandsteinbögen das Wasser durchquerten. Wann immer Sila nachdenken musste, Bewegung oder frische Luft brauchte, ging sie hinunter an den Fluss.
Schon lange bevor sie hier gelandet war, war ein Strom ihr Freund gewesen, ihr Trost und ihre Hoffnung und ein Versprechen auf die Zukunft. An einem anderen Ort in dieser riesigen Stadt, an dem sie keinen Blick auf die Spree gehabt hätte, wäre sie bestimmt nicht glücklich geworden. Doch hier ging es ihr gut, hier bei Devin und den anderen, die jetzt ihre Familie waren.
Sila streckte sich. Sie hatte vorhin beim Schleifen zu lange zusammengekauert gesessen. Ein Spaziergang wäre jetzt gut, ehe die Aprilsonne sich wieder verzog. Die Enten unten schnatterten aufgeregt, als riefen sie nach ihr. Und Jims Café unten auf dem alten Dampfer hatte vor ein paar Tagen wieder die Saison eröffnet. Vielleicht gab es dort schon diese leckeren Brownies? Jetzt hatte sie es auf einmal eilig. Sie würde rasch die Post durchsehen und dann hinuntergehen. Eine Mittagspause hatte sie sich verdient.
Sie öffnete eine Rechnung für Holzbeize, eine Werbung für Lötkolben, eine Einladung zu einer Vernissage. Die erste legte sie auf den Schreibtisch zu den anderen Rechnungen, die beiden letzteren vertraute sie ohne Bedenken dem Papierkorb an. Blieb der Brief. Sie sah genauer auf den Absender. Ein Anwalt aus Bad Freienwalde? Irgendwo hatte sie den Namen schon mal gehört. Wo war das denn? Noch bevor sie den Brief öffnete, googelte Sila es rasch auf dem Handy.
Oderbruch. Bad Freienwalde lag am Rande des Oderbruchs!
Sila beschloss, sich lieber hinzusetzen. Der Schaukelstuhl knarrte nur ein wenig. Devin baute solide. Doch der Stuhl war so breit, dass sie sich darin merkwürdig verloren vorkam. Oder lag das an dem Inhalt des Briefes, auf den sie ungläubig starrte?
Als sie schließlich verstanden hatte, was da stand, war die Sonne längst wieder verschwunden. Sila schnappte sich trotzdem eine Jacke und ihre Tasche, stopfte den Brief hinein und stürmte die Treppen hinunter, weil sie hier oben auf einmal nicht mehr genug Luft zu bekommen schien.
Sila stapfte am Ufer des Flusses entlang, beobachtete die Enten und versuchte, an gar nichts zu denken. »Hallo, Nepomuk!«, sagte sie zu dem schwarzen Schwan, der ihr spezieller Freund war und wie meist in der Nähe herumdümpelte. Heute war er verschlafen und nahm den Kopf erst nach einer Weile unter dem Flügel hervor, um Sila einen Blick zuzuwerfen. Da sie wusste, wie schädlich altes Brot und dergleichen für die Vögel war, hatte sie immer ein paar Getreidekörner oder Entenfutter für ihn in der Tasche. Die holte er sich dann auch gleich ab.
Irgendwann kam sie an der Treppe an, die durch einen Laubengang zur Brücke hinaufführte. Im Gang blieb sie einen Augenblick stehen und genoss das grüne Dämmerlicht, betrachtete die Knospen des Blauregens, die auf wärmeres Wetter hoffen ließen, und stieg schließlich vollends hinauf.
Auf das Brückengeländer gelehnt, blickte sie in den klaren Fluss, während hinter ihr der Verkehr vorbeirauschte. In den Teil des Geländers, der aus Sandstein bestand, waren Figuren eingelassen. Reliefs, die so lebendig wirkten, dass Sila als Kind mit ihnen gesprochen hatte, wenn ihr sonst niemand zuhörte. Das war, bevor sie Devin kannte. Er hatte ihr immer zugehört. Auf dem einen Relief war ein Frosch mit einer brennenden Fackel in der Hand zu sehen, der auf einem übellaunigen Wels ritt. Auf einem anderen trugen zwei freundlicher wirkende Otter jeweils einen Fisch im Maul.
»Ich glaub das einfach nicht«, sagte Sila zu dem Frosch. Heutzutage fiel es ja nicht mehr auf, wenn einer sprach, ohne ein Gegenüber zu haben. Alle Leute liefen herum und telefonierten mit irgendjemanden, und es sah aus, als sprächen sie mit sich selbst. Der Frosch sah sie immerhin verständnisvoll an.
»Von wegen, Wanda wäre nach Polen zu ihrer Schwester gezogen und niemand wüsste, wo das ist!«, sagte Sila. »Das haben sie mir damals erzählt. In Wahrheit war sie all die Jahre auf dem Hof gewesen! Ich hätte ihr schreiben können, nach der Wende.«
Hättest du es denn auch getan, wenn du es gewusst hättest?, schien der Frosch sie zu fragen. Du wolltest doch an die Zeit gar nicht mehr denken.
»Doch, wollte ich. Habe ich auch. Immerzu. Jahrelang. Es hat nur zu weh getan. Ich hab’s mir schließlich abgewöhnt, weil es keinen Zweck hatte. Du hast gut reden, du kannst auf deinem schlecht gelaunten Wels reiten, wohin du willst, und jederzeit abtauchen!«
Jetzt war es passiert. Der Brief hatte alte Erinnerungen geweckt.
Sila dachte an den Delfin, den sie als kleines Mädchen erfunden hatte. Ein Flussdelfin, kein chinesischer allerdings, sondern ein Brandenburger, der Einzige seiner Art. Ihr Phantasiegefährte, auf dem sie einmal bis zum Meer hatte reiten wollen. Dann, wenn es keine Grenzen und keine Gefahr mehr geben würde. Aber als das endlich passiert war, lebte sie längst an einem anderen Fluss, und der Freund ihrer Kindheit war im Strom der Zeit versunken.
Auf einmal war ihr der Lärm der Autos hinter sich zu laut. Sila ging zurück in den Laubengang und setzte sich dort auf eine Stufe.
Sosehr sie den Blick von hier aus auch mochte, auf einmal wünschte sie sich, man würde keine Häuser sehen. Sie dachte an jenen anderen Fluss im Frühling, an endlose, geflutete Ebenen, an alte Weiden und Erlen, die mitten im flachen Wasser standen. Wie ein riesiger Spiegel reflektierte es zwischen sonnenblondem Schilf und hellgrünen grasigen Erhebungen den Himmel. Weit und breit kein Gebäude, kein Mensch, nur Vogelschwärme und Stille und der warme Wind, der den Sommer ankündigte … Plötzlich überkam Sila eine seltsame Panik. Was, wenn sie hier den Rest ihres Lebens sitzen würde? Wenn alles immer so weiterging? Häuser. Benzingestank. Verkehr. Die Spree mit den engen, künstlichen Ufern. Devin.
»Hallo! Was machst du denn hier?«, fragte eine Stimme hinter ihr, und eine lange dünne Gestalt in sehr bunten Turnschuhen setzte sich neben sie.
»Nura! Hast du keine Schule?«
»Es ist doch Samstag. Geht es dir nicht gut?« Nura musterte Sila interessiert. »Du siehst komisch aus.«
»Danke. Du auch ein bisschen.« Nuras lange Locken, so schwarz wie Silas eigene, waren schon seit einer Weile unten herum blau. Aber jetzt waren sie oben zusätzlich weiß, und an einem Ohr trug sie eine Klemme in Form eines ziemlich beachtlichen Drachens.
Nura fasste danach. »Ach, das. Den hat mir Luca geschenkt. Der soll auf mich aufpassen.«
»Fein. Taugt in der Stadt sicher besser dafür als ein Delfin«, sagte Sila.
Nura lachte. »Hast du etwa die Reste eurer Party ausgetrunken?«
»Nein. Ich musste nur gerade an früher denken. Als ich halb so alt war wie du, hatte ich einen imaginären Freund in Form eines Delfins.«
»Du erzählst nie von früher.«
»Mach ich doch gerade.« Nura war nicht nur die Tochter ihrer jüngeren Cousine, sondern auch Silas Patenkind. Wann war die eigentlich so erwachsen geworden? Sie war doch erst fünfzehn. Vielleicht lag es an den weißen Strähnen, die sie so merkwürdig weise aussehen ließen. »Ist das gerade modern? Weiße Haare?«
»Ja. Total in. Aber keine Sorge, wäscht sich raus.«
»Bei mir nicht.«
Nura betrachtete Sila kritisch. »Das sind ja nur ein paar. Steht dir total gut, finde ich. Gerade weil der Rest so schwarz ist. Wir sehen uns viel ähnlicher als Mama und ich. Lustig.«
»Früher haben sie mich deswegen ausgelacht.«
»Wegen der schwarzen Haare? Warum das denn? Sehen doch viele so aus.« Nura wedelte mit einer langen Strähne und begann, einen dünnen Zopf hineinzuflechten.
»In Berlin-Moabit ja. In der DDR nicht. Da fiel das auf.«
»Mmh. Wir hatten das in der Schule. Das mit der Mauer. Ich kann mir das aber überhaupt nicht vorstellen. Da kann sich ja nicht mal Mama mehr dran erinnern. Und Oma redet nicht darüber.«
»Ist ja auch vorbei. Hast du Lust auf einen Brownie von Jims Café? Ich lad dich ein.«
»Sehr gerne. Ich kann uns aber auch welche holen, wenn du lieber hier sitzen möchtest«, bot Nura an.
»Willst du was von mir?«, fragte Sila belustigt.
Nura machte diskreten Gebrauch von ihren Grübchen. »Na ja, da ist diese Interpretation in Deutsch. Ich dachte, du hast vielleicht eine Idee … aber das eilt nicht. Warum bist du eigentlich so gerne hier?«
»Der Laubengang erinnert mich an einen ähnlichen, in dem ich als Kind gern gesessen habe. Da gab es allerdings keine Treppe, dafür eine Bank. Aber da wuchs Blauregen wie hier und außerdem eine Klematis, die hatte große Blüten wie weiße Sterne. Und im Sommer die Schwarzäugige Susanne und duftende Wicken in allen Farben.«
»Das klingt schön.« Nura machte große Augen. »Warum erzählst du denn heute auf einmal so viel von früher?«
»Das kommt in unserer Familie wirklich nicht oft vor, was?«
»Nee. Das ist irgendwie unheimlich. So, als wärt ihr einfach mal irgendwann als Erwachsene mit einem Ufo hier gelandet. Was ist denn heute los mit dir?«
»Ich habe einen Brief bekommen. Von Wanda.«
»Und wer ist Wanda? Ist die auch von früher? Wie dein Delfin?«
Sila stand auf. »Lass uns zu Jims Café gehen. Dann können wir über deine Deutschaufgabe reden.«
Nura beeilte sich, ihr zu folgen. »Aber erst sagst du mir, wer Wanda ist.«
Aber Sila schwieg, bis sie auf dem alten Dampfer, der unter den Weiden vertäut lag und nur noch als Café diente, an einem der Tische mit den blaukarierten Decken saßen. Der Besitzer hieß nicht Jim. Er hieß Eddie. Sein Café hatte er nach dem Sklaven Jim in »Huckleberry Finn« benannt, weil er sagte, der Betrieb sei seine Art von Abenteuer und das Schiff befände sich schließlich auf einem Fluss wie das Floß von Huck und Jim. Nur eben nicht unterwegs.
»Ich muss ja vor nichts weglaufen«, hatte er erklärt, und Sila fand, das klang unglaublich zufrieden. Vielleicht trank sie hier deswegen so gern ihren Kaffee. Und wegen der Brownies natürlich.
»Was möchtest du haben?«, erkundigte sich Sila. Aber Nura sah über ihre Schulter hinweg die Böschung hinauf. Sila folgte ihrem Blick. Oben auf der Stromstraße schlenderte Devin in angeregtem Gespräch mit einem roten Lockenkopf. Man konnte die beiden nur von den Schultern aufwärts sehen, aber sie hatten die Köpfe sehr dicht beieinander.
»Ist Devin wieder mit dieser Nicole zusammen?«, fragte Nura.
Sila zuckte mit den Schultern. »Möglich. Keine Ahnung.«
»Mama sagt, aus euch beiden wird man nicht schlau. Ich nehm ’ne Cola.«
»Das trifft es genau. Ich werde auch nicht schlau aus uns. Hallo, Eddie! Eine Cola und einen Cappuccino, bitte.«
»Jeht klar. Tach och, die Damen. Jut übern Winter jekommen?«, fragte Eddie und stellte ihnen ungefragt zwei Brownies hin. Er kannte seine Kunden. »Juten Appetit!«
»Wer ist denn nun Wanda?«, bohrte Nura mit vollem Mund nach, als er fort war.
Es war so schwer, Wanda zu beschreiben. Sila musste tief in ihrer Erinnerung graben. Das Bild war zugleich verschwommen und ganz klar. Wie konnte das sein? Vielleicht, weil es mehr ein Gefühl von Geborgenheit war, der Klang einer Stimme, die Geste einer Hand, der Geschmack frischen Kompotts mit Kuchen, der Refrain eines Volkslieds in einer fremden Sprache. Sila betrachtete ihren Brownie, ohne ihn wirklich zu sehen. »Damals kam Wanda mir uralt vor. Sie kann aber erst um die fünfzig gewesen sein. Sie lebte auf dem Hof, wo wir wohnten.«
»In der DDR?«
»Ja. Es war kein richtiger Hof mehr. Die Felder gehörten uns nicht, nur das Stück Land um das Haus herum. Meine Mutter hatte nicht viel Zeit für mich …«
»Wie meine auch«, stellte Nura fest.
»Na ja. Nicht ganz. Deine Mutter gibt sich Mühe. Sie hat eben viel Arbeit.«
»Ich weiß. Erzähl mir lieber mehr von Wanda. Hatte sie denn Zeit für dich?«
»Wanda war immer da. Schon seit ich ganz klein war. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass sie mal nicht da gewesen wäre. Ja, sie hatte immer Zeit für mich, obwohl sie noch eine andere Arbeit hatte, als Sekretärin in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Bei uns war sie so eine Art Hauswirtschafterin. Dafür durfte sie bei uns wohnen. Aber in Wirklichkeit war sie viel mehr als nur eine Hauswirtschafterin.«
»Die hätte ich auch gerne kennengelernt«, sagte Nura und schlürfte genüsslich ihre Cola. Sila horchte auf und nahm sich vor, sich mehr um Nura zu kümmern. Wobei die ja eigentlich in einem Alter war, in dem einem so was eher peinlich ist. Aber Nura war eben immer ein bisschen anders. Genau wie Sila damals.
»Ja, Wanda hätte dir gefallen. Sie tröstete mich, wenn ich hingefallen war, und brachte mir bei, sofort wieder aufzustehen. Sie hatte einmal eine Elster aufgezogen, die saß auch später noch oft auf Wandas Schulter. Heinrich hieß der Vogel und brachte mich immer zum Lachen. Wanda trug einen sehr langen schneeweißen Zopf, war groß und schlank, aber so stark, dass sie Skulpturen aus alten Eisenteilen biegen konnte. Ganz verrückte Gestalten, die standen dann im Garten herum, als ob sie dort gewachsen wären. Im Garten blühte es schöner als auf irgendeinem anderen Hof, und wir hatten das beste Obst und Gemüse. Ich hielt Wanda für eine Art Blumenfee, obwohl sie fürchterlich schimpfen konnte und viel zu praktisch veranlagt war, um als Fee geeignet zu sein.« Sila merkte, dass sie lächelte. »Ich habe sie schrecklich vermisst, als wir fortmussten.«
»Und dann hattet ihr nie wieder Kontakt? Wie lange ist das her? Magst du deinen Brownie nicht aufessen?«
Silas Appetit war vergangen. Ihr Kopf war so voller Erinnerungen. »Du kannst ihn gern haben.« Sie musste nicht nachrechnen. So ein Datum vergisst man nicht. »Das ist tatsächlich vierunddreißig Jahre her.«
»Ui, so lange. Und warum hat sie dir dann jetzt auf einmal geschrieben? Und was?«