Es war still auf der Streuobstwiese, so still inmitten des Dufts von Klee und Raps. Sila war ein wenig eingedöst, und als sie aufwachte, bemerkte sie, dass der Klang von Wandas altem Windspiel durch ihre Träume getrieben war. Eigentlich müssten die Töne unten vom Ufer her zu ihr heraufwehen und sich mit dem Geruch des Sommers vermischen, so wie es früher immer gewesen war. Wo war das wohl geblieben?
Sila sprang auf und lief hinunter zum Wasser, dann am Graben entlang, bis sie bei den drei alten Kopfweiden ankam. Eine davon war umgefallen und lag nun als vermodernder Stamm halb im Wasser. Die anderen beiden hielten sich aufrecht, wenn auch noch dicker, schiefer und knorriger als zuvor. Tatsächlich, an dem einen Ast, zugewuchert von dünneren Ruten, fand Sila das alte Wagenrad wie einst.
Viele Zweige waren durch die Ketten und das Rad gewachsen. Die Klangrohre aus Metall hingen zwar noch daran, doch auch dort waren die Äste hindurchgewachsen, hatten die Schnüre zum Teil abgerissen und alles verschoben. Das Zahnrad, das als Klöppel gedient hatte, fand Sila nach langem Suchen fast überwuchert im Gras wieder. Den Windfänger aus Blech, der das ganze bewegt hatte, konnte sie nicht mehr entdecken. Wahrscheinlich war er abgerissen und im nassen Gras zu Rost zerfallen.
Entschlossen lief Sila ins Haus. Sie holte einen Jutesack aus dem Stall, eine große Astschere, eine kleinere Baumschere und Arbeitshandschuhe. So bewaffnet, kehrte sie zurück und schnitt behutsam alle Äste ab, die dem Windspiel im Weg waren. Sie zog die Zweige aus den Löchern und schnitt die letzten Reste der Schnüre ab. Dann barg sie die Klangrohre, legte sie vorsichtig in den Sack und befreite auch das Zahnrad aus den Graswurzeln. Das Wagenrad an seinen Ketten aber hing noch sicher im Baum und war nicht verrottet, so sorgfältig hatte Wanda es wahrscheinlich einst gebeizt. Sila entfernte nur ein wenig Moos und Spinnweben und richtete es gerade.
»Ich mache es wieder ganz, Wanda«, sagte sie leise. »Es soll von dir erzählen!« Ein Rotkehlchen auf einem nahen Ast hüpfte näher und schien zu lauschen.
Im Stall breitete Sila alles auf einer Werkbank aus. Auf der Suche nach Werkzeug stieß sie auf einen Teppichklopfer. Gedankenvoll sah sie darauf. Sie kannte ihn nur allzu gut. An der Seite war ein Stück abgebrochen, an einem Tag, an dem ihr Dorothea damit besonders erbost den Hintern versohlt hatte. Sila fröstelte. Entschlossen brach sie ihn über der Tischkante in zwei Teile und versenkte ihn im Müll.
Mit dem Hammer klopfte sie die Klangrohre wieder gerade, wo sie von der Kraft der Zweige eingebeult worden waren. Sie polierte alle, bis sie wieder glänzten, bis auf einige Altersspuren, die ihnen gut standen. Ein wenig Patina hatte schließlich auch Sila selbst in der Zwischenzeit angesetzt, dachte sie, als ein weißes Haar auf ihre Arbeit fiel. Dann machte sie sich daran, das Zahnrad vom Rost zu befreien. Das war schon etwas schwieriger.
»Hier bist du!« Martins breite Silhouette verdunkelte den Eingang zum Stall. »Gut, dass du so einen Krach machst, sonst hätte ich dich nicht gefunden. Was treibst du da? Ich habe etwas für dich.«
Sila hielt das Zahnrad hoch. »Ich repariere Wandas altes Windspiel.«
Martins Gesicht hellte sich auf. »Oh! Das habe ich schon lange vermisst. Manchmal, wenn die Klänge früher aus der Ferne herübertrieben, war es wie die Stimme des Morgens. Apropos Klänge, du wolltest doch gern ein Horn. Ich habe einem Bekannten eines abgeschwatzt. Er züchtet Rinder. Hier! Ich habe es schon poliert, ein Loch da gemacht, wo es sein muss, und ein Mundstück aus Holz darangesetzt. Lisann meinte, du bräuchtest etwas, was dich aufheitert, nach dem Schreck gestern. Ich habe es desinfiziert, nachdem ich es getestet habe. Nun ist es ganz deins.«
»Oh, Martin! Wie wunderschön!« Sila fuhr über die glatte Oberfläche, dann versuchte sie, ehrfurchtsvoll hineinzublasen. Das Geräusch, das dabei entstand, war so komisch, dass sie und Martin gleichzeitig loslachten.
»Es ist gar nicht so einfach, da einen anständigen Ton herauszuholen, aber es geht«, sagte Martin. »Ich musste auch erst im Internet nachsehen, wie man es macht. Du musst sozusagen hineinprusten, mit viel mehr Kraft.«
Nach einigem Üben bekam Sila einen halbwegs vernünftigen Ton heraus. »Ich werde mir das lieber auch noch mal im Internet ansehen«, sagte sie und legte das Horn vorsichtig auf einem weichen Tuch auf der Werkbank ab. »Vielen lieben Dank, Martin. Wie kann ich mich revanchieren?«
»Wenn du das Windspiel reparierst und ich es wieder hören kann, dann freue ich mich. Das genügt. Und wenn du das Horn bewältigst und morgens und abends einen Ton zu uns herüberschickst, wie du es geplant hast, dann freuen wir uns auch, Lisann und ich, weil wir wissen, dass auf dem Wickenhof wieder Leben eingekehrt ist. Brauchst du Hilfe mit dem Windspiel?«
»Ja, womit bekomme ich diese dicke Rostschicht am besten ab?« Sila musterte ratlos die Reihen von Putzmitteln auf einem Regal hinter der Tür.
Martin trat neben sie. »Nimm dieses.« Er reichte ihr einen kleinen Metallkanister. »Weich das Zahnrad über Nacht darin ein, dann wird das schon.« Er wühlte in einer Kiste. »Ah, hier! Das ist Harrys dicke Angelschnur. Die nimmst du am besten, um die Klangrohre wieder aufzuhängen. Die ist unverwüstlich.« Er stellte eine Rolle Schnur auf die Werkbank.
»Danke, Martin.«
»Da ist noch etwas. Wenn Lisann nachher kommt, würdest du uns beiden dann den Eiskeller zeigen? Ich bin so neugierig.«
»Ach ja, der Eiskeller. Den hatte ich erst mal verdrängt. Natürlich, ich möchte unbedingt, dass ihr euch den anseht und dass wir überlegen, ob man die Tür wieder öffnen könnte.«
»Genau das wollte ich dich fragen. Ich finde die Sache hochinteressant. Wenn er wirklich noch statisch in Ordnung ist, wäre er auf jeden Fall erhaltenswert, schon aus historischen Gründen. Außerdem könnte man zumindest Futter darin lagern, oder Obst, denn diese alten Eiskeller waren meist sehr gut isoliert.«
»Dann kommt doch nachher einfach rüber, wenn ihr Zeit habt. Ich bin hier.«
»Bestens. Dann bis später.«
Sila legte die Klangrohre nach Größe geordnet nebeneinander. Sie schnitt genau abgemessene Stücke von der Schnurrolle ab und begann, sie durch die Löcher zu fädeln. Doch dann legte sie alles beiseite, fuhr noch einmal über das glatte Horn, für das sie noch einen Riemen basteln wollte, an dem man es aufhängen konnte, und verließ den Stall. Martins Erwähnung des Eiskellers hatte die Geschehnisse des Vortrags wieder in ihre Aufmerksamkeit gerückt.
Nun ließ ihr der Gedanke an das Heft des Soldaten keine Ruhe mehr.
Da unten war sie mit ihrer eigenen Angst beschäftigt gewesen, aber jetzt hatte sie wieder das Bild von dem verlassenen Stahlhelm vor Augen, dem selbstgenähten Rucksack, dem Geschirr, das wirkte, als wäre jemand in großer Eile aufgestanden und niemals wiedergekommen.
Wie hatte der Mann geheißen? Was hatte er dort unten gemacht? Sicher war es ein Versteck gewesen, warum sonst sollte er sich dort aufgehalten haben? Hatten die Bewohner des Hofes es gewusst? Damals konnte eigentlich nur ihre Großmutter dort gewesen sein.
Was hatte Wanda geschrieben? Sie war kurz nach dem Krieg auf der Flucht aus Ostpreußen auf dem Wickenhof gelandet. Silas Großmutter hatte sie aufgenommen, und Wanda hatte auf dem Hof geholfen. Die Großmutter war mit Dorothea schwanger gewesen.
Anna! Ihre Großmutter hatte Anna geheißen. Und der Name Anna hatte doch auch in dem Heft gestanden?
Sila ging zurück in die Küche. Sie zögerte. Dann griff sie nach dem Büchlein und lief in den Gemüsegarten, wo sie einen alten Stuhl entdeckt hatte. Hier war alles so beruhigend wirklich, so alltäglich und erdverbunden. Hier würde sie die Notizen lesen können. Die Kräuter, die sprießenden Kartoffeln, die Ranken der Gurken. Großmutter Anna hatte bestimmt auch im Krieg immer etwas zu essen gehabt, und mit Wandas Hilfe auch danach.
Die Schrift war nicht verblichen. Da unten im zeitlos Dunkeln, in dem geschlossenen Heft im Rucksack verborgen, war sie so frisch geblieben, als hätte jemand gerade erst den Bleistift weggelegt. Nur die Ränder der Seiten waren leicht angeschimmelt. Sila roch einen Hauch von Moder, als sie die Seiten umblätterte, was die Worte umso lebendiger machte.
Es gab Einträge ab 1942, in großen Abständen und in Eile geschrieben. Sie erzählten vom Marschieren und von Schützengräben, von verwundeten und gefallenen Kameraden, dem Donner der Geschütze, durchgelaufenen Stiefeln und Hunger. Manchmal von Freundschaft und Mut, aber auch von Sehnsucht und Angst. Sila blätterte weiter, ohne die Stellen im Einzelnen genauer zu lesen. Zu unerträglich war es, und sie suchte ja vor allem die letzten Zeilen, die aus dem Eiskeller.
17. April 1945
Wenn die wunderbare Anna mich nicht gefunden hätte, wäre ich jetzt tot. Diese erstaunliche Frau hat mich hier heruntergebracht, obwohl ich kaum laufen konnte. Ich hatte mich auf den Hof geschleppt, weil ich in meinem Fieber und Schmerz die Blumen jenseits des Zaunes sah wie eine Vision des Paradieses. Sie hat meine Wunde desinfiziert und mit einer Kräutersalbe verbunden, die wahre Wunder wirkt. Sie hat gesagt, ich darf sie Anna nennen, Annas gäbe es viele, und es wäre besser, wenn ich ihren ganzen Namen nicht kenne. Ich habe ihr versichert, dass sie mir vertrauen kann. Und sie sagte: ›Das weiß ich, das sehe ich in Deinen Augen.‹ Da fühlte ich mich auf einmal für einen Augenblick wieder wie ein Mensch, ein richtiger lebendiger Mensch und nicht wie ein Zinnsoldat, mit dem jemand ein gnadenloses Spiel spielt.
›Du kannst bleiben, Du musst nicht mehr zurück und kämpfen, es hat doch keinen Sinn‹, hat sie gesagt. Ich habe zugegeben, dass ich auch nicht daran glaube, schon längst nicht mehr, und dass ich bereits seit einer halben Ewigkeit hoffe, dass der Mann mit dem bösen Blick nicht siegt. Sie war der erste Mensch, dem gegenüber ich das laut aussprechen konnte.
Ich bin so froh, wenn alles vorbei ist. Ich würde sofort desertieren, doch ich kann die Kameraden nicht im Stich lassen. Anna hat gesagt ›Überleg es Dir! Bleib, bis Du wieder laufen kannst, und dann überleg es Dir! Es sind schon viel zu viele Menschen gestorben. Im Eiskeller bist Du sicher, ich verdecke den Eingang mit Reisig. Ich habe hier schon eine Frau für ein ganzes Jahr versteckt, und niemand hat jemals Verdacht geschöpft.‹
›Wo ist die Frau jetzt?‹, habe ich gefragt, und Anna sagte, die Frau hätte mit ihrer Hilfe einen Weg gefunden, endlich auf ein Schiff nach Amerika zu gelangen, wo sie Familie hätte.
Und als ich heute Nacht nicht schlafen konnte, dachte ich, ich wäre lieber jemand wie Anna gewesen, der eine Jüdin rettete, als die Marionette eines Geisteskranken. O ja, am Anfang, als junger Bursche, da habe ich noch an den Krieg geglaubt und an das Vaterland, an die gute Sache. Die meisten von uns haben aber bald gemerkt, dass die Wahrheit eine andere ist.
Jemand wie Anna, mit freundlichen Augen in der Farbe des Flusses an einem Sommertag und mit einem Lächeln, von dem Dir warm ums Herz wird, obwohl Dir eigentlich schon seit Monaten im Innersten eiskalt ist, so jemand ist die Wahrheit! Ich denke an meine liebe Gisela zu Hause, die auf mich wartet. An unseren kleinen Sohn Konrad, den ich noch nie gesehen habe und nun wohl niemals sehen werde, so wie ich auch niemals mehr die Gedichtbände in Vaters Bibliothek lesen oder mit Befriedigung auf ein Blumen- oder Gemüsebeet blicken werde, das ich in seinem Garten mit meiner Hände Arbeit bestellt habe.
18. April
Diesen einen Tag bleibe ich noch hier. Mein Bein schmerzt, und Anna will es noch einmal frisch verbinden. Ich bin erschöpft, schlafe viel, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so ruhig habe schlafen können. Und essen. Anna hat Kartoffelpuffer gebacken! Kartoffelpuffer mit Apfelmus, alles aus eigener Ernte, wie zu Hause, vor so langer Zeit. Meine Kindheit war mir unversehens noch einmal ganz nahe. Anna sagt, diesen einen Tag soll ich mir noch gönnen, wenigstens, ich wäre sonst kein Nutzen für die Kameraden, wenn ich nicht einmal auftreten kann. Sie hat recht, das Bein schmerzt, und meine Seele auch.
19. April, am frühen Morgen
Anna hat mir ein Messer geschenkt, ein klappbares Taschenmesser mit einem perlmutternen Griff und ihren Initialen darauf. Ein merkwürdig unpassender und tröstlicher Glanz alter, friedlicher Zeiten. Sie sagte, ich bräuchte es für den Notfall, falls die Wunde doch noch zu eitern beginnt und ich den Verband aufschneiden muss. Sie hat es sterilisiert, erklärte sie.
Annas Mann ist gefallen. Sie sagte es mir, als ich sie auf die Traurigkeit angesprochen haben, die sie auf den Schultern trägt. Und doch, wenn Anna die Stufen herunterkommt, bringt sie das Licht mit sich, das Licht eines Tages, wie er sein könnte. Ein Frühlingstag, mit dem man etwas ganz anderes machen sollte, als in einem Keller zu hocken und zu wissen, dass man morgen oder übermorgen wohl sterben wird, denn wir haben keine Chance gegen den Russen. Unsere Einheiten sind völlig aufgerieben und versprengt. Die Sache ist aussichtslos.
Ich muss morgen trotzdem zurück zu meinen Leuten. Anna darf nicht der Grund sein, dass ich bleibe. Doch wenn die Kameraden und ich fallen, dann in der Hoffnung, dass Menschen wie Anna, Gisela und mein kleiner Konrad eine bessere Zukunft haben werden. Ich glaube daran, dass der Mensch es besser kann! All die edlen Gedanken der Schriften in meines Vaters Bibliothek haben mich stets davon überzeugt. Ich hatte nur das Pech, in einer Zeit zu leben, die ein großer menschlicher Irrtum ist. Lehrer wollte ich werden, ich hatte doch gerade erst damit begonnen. Daraus wird nun nichts.
Ich glaube aber, wenn ich noch einmal eine Chance auf Leben bekäme, würde ich dieses Mal den Beruf des Gärtners wählen.
Wenn Konrad in meinem Alter ist, so wünsche ich mir für ihn, dass er von Frieden umgeben ist, von Büchern und von Blumen, so wie es hier auf diesem Hof ist, eine Insel inmitten des Wahnsinns. Danke, Anna, dass Du mir diesen einen Moment der Ruhe, des Atemholens und des Rückblicks geschenkt hast. Ich habe mich nachts einmal hinausgeschlichen, auf die Krücken gestützt, die Du mir gegeben hast, und mich in Deinem Garten umgesehen. Die weißen Narzissen leuchteten im Mondlicht wie Funken der Hoffnung, eine Hoffnung, die nicht mehr meine sein darf, aber doch für die nächste Generation gilt. Nach dem Krieg gibt es Frieden, irgendwann.
Es sind Dichternarzissen, die hier blühen, das weiß ich von meinem Vater. Es gab sie auch im Garten meiner Kindheit. Sie sind bescheiden in ihren Ansprüchen und vermehren sich von selbst, sie breiten sich unbemerkt aus, und plötzlich blühen sie. Ich denke, mit dem Frieden wird es eines Tages auch so sein. Ich stand da, sah diese Blüten und war dankbar – dankbar für das, was ich in meinem kurzen Leben genießen durfte. Es ist mehr, als viele gekannt haben. Der Garten meines Vaters und seine Bücher, dann die Liebe Giselas und ihre Briefe von der Geburt unseres Sohnes.
Ich hatte eine glückliche Kindheit, und ich durfte lieben! Was will man mehr? Das heißt nicht, dass ich ohne Groll gehe. Natürlich sind Wut und Aufbegehren in mir, dass es so kommen musste, dass uns dieser Krieg geschehen ist, an dem wir nicht unschuldig sind. Doch was nützt das jetzt noch? Ich ziehe es vor, an die guten Momente zu denken, und an die Giselas und Annas dieser Welt. An die Dichternarzissen, die dem Frost trotzen und dem Sturm und in der nackten Erde die Kraft finden, zum Himmel aufzublicken. Ich will es ihnen gleichtun, wenn mein Augenblick gekommen ist.
Anna, Du hast schon so viel für mich getan. Dennoch habe ich eine letzte Bitte an Dich. Würdest Du Gisela …
Hier brach der Text ab. Das passte zu der offensichtlichen Eile, mit welcher der Soldat vom Tisch aufgesprungen war. Er hatte zwar das Heft noch rasch im Rucksack verborgen, aber dann musste er hinausgestürmt sein. Sila fröstelte. Vielleicht hatte es eine Detonation in der Nähe gegeben oder Gewehrfeuer, vielleicht einen Hilferuf von Anna, als die Russen kamen? Sie wendete das Heft hin und her, doch sie konnte den Namen des Soldaten nicht finden. Er war nirgends vermerkt, vielleicht aus Sicherheitsgründen.
Sila steckte das Heft sorgfältig ein und stand auf. Sie war so in Gedanken, dass sie in eine ganz andere Richtung lief als sonst, nicht aus dem Gemüsegarten zurück ins Haus, sondern weiter fort, an verwilderten Büschen vorbei. Sie achtete kaum auf ihre Umgebung. Wenn sie doch nur den Namen des Soldaten wüsste! Seine Sprache mochte ein wenig altmodisch sein, aber für Sila war er, der heute sehr alt wäre, wenn er es hätte werden dürfen, ein junger Mann mit den Augen eines Dichters, voller Sehnsucht, Träume und Trauer. Sie hätte ihn gern kennengelernt.
»Oh!« Erschrocken blieb sie stehen, als eine Gestalt vor ihr erschien. Im ersten Augenblick dachte sie unwillkürlich an einen Soldaten, aufgetaucht aus dem Nebel der Vergangenheit. Dann musste sie lachen, als sie eine der alten Skulpturen erkannte, die Wanda früher an verschiedenen Stellen im Garten platziert hatte. Manche waren aus Holz gewesen, aus herabgefallenen Ästen, von denen war sicher nichts mehr übrig. Andere hatte sie aus Furniereisen und Schrottteilen zusammengebastelt, alten Schutzblechen von Traktoren oder unbrauchbar gewordenen Gartenwerkzeugen. Bei dieser hier handelte es sich um eine solche, die wohl so etwas wie eine Baumfee darstellte, eine große Frau mit einem Rock aus Rankgittern und Haaren aus rostrotem Draht, mit einer alten Sense in der Hand. Sie wirkte majestätisch und eigenartig lebendig, denn an ihrem Rock rankten Wicken und Kapuzinerkresse, und ihre Haare zierte wilder Wein.
Sila fühlte sich seltsam getröstet, als wäre Wanda neben ihr aufgetaucht. Sie setzte sich auf einen Stein, zog ihr Handy heraus und suchte im Internet nach Informationen über jene Kriegstage im Oderbruch.
In der Schlacht an der Oder standen sich beinahe eine Million Soldaten der Roten Armee mit ungefähr dreitausend Panzern und etwa hundertzwanzigtausend Soldaten der Wehrmacht mit fünfhundert Panzern gegenüber. Am 19. April war die Schlacht für die Deutschen verloren, Zehntausende russische und deutsche Soldaten waren gefallen, der Weg nach Berlin stand offen.
Der 19. April, das letzte Datum im Heft.
Sila erinnerte sich daran, dass Wanda in ihrem Brief die gefallenen Soldaten erwähnt hatte, die sie auf ihrer Flucht hatte sehen müssen, und als was für eine Insel der Hof ihr erschienen war.
Warum war Anna später nie in den Eiskeller zurückgekehrt und hatte das Heft an sich genommen? Wahrscheinlich hatte sie sich vor den Russen verstecken müssen und hatte dafür nicht den Eiskeller gewählt, um ihren Schützling dort nicht zu verraten. Und als sie zurückkehren konnte, hatte sie sicherlich andere Sorgen gehabt und gewusst, dass der Soldat nicht mehr da war. Vielleicht hatte sie es nicht ertragen können, den Keller zu betreten, oder der Eingang war verschüttet, oder sie war verletzt und konnte die Stufen nicht gehen, und später geriet alles in Vergessenheit. Sila würde es wohl nie erfahren.
Als sie zurückging, um die Minischweine zu füttern, schämte sie sich ein wenig ihrer eigenen Ängste wegen. Was waren denn eine kurze Flucht in einer Waschmaschine und ein paar Hänseleien wegen ihrer Herkunft gegen das, was diese Menschen erlitten hatten? Sie durfte leben!
Sila beschloss, keinen Gedanken mehr an ihre eigene Vergangenheit zu verschwenden. Vielmehr war sie sich jetzt sicher, dass sie mit ihrem Leben noch etwas ganz Neues anfangen musste. Jeder Tag war wertvoll.
Die unausgesprochene und unerfüllte Bitte des Soldaten aber konnte ja nur geheißen haben, dass Anna seine Frau Gisela ausfindig machen sollte und ihr erzählen, dass er bis zuletzt an sie gedacht und sie geliebt hatte, sie und den kleinen Konrad. Vielleicht hatte er sogar darum bitten wollen, dass Anna seiner Frau die Worte zukommen ließ, die er aufgeschrieben hatte. Obwohl dafür ein bisschen viel Anna darin vorkam, fand Sila.
Und jetzt? Was sollte sie jetzt damit machen?
Als sie im Stall das Futter abfüllte, fiel ihr Blick auf das Horn. Sie nahm es und trat damit vor dir Tür. Mit aller Kraft blies sie hinein, wie Martin es ihr gezeigt hatte.
Der Ton trieb laut und klar, melancholisch und doch kraftvoll in das weite, grüne, friedliche Land hinaus.
»Das ist für dich«, flüsterte Sila. »Für dich und alle deine Kameraden.«