Wanda

Liebe Sila, ich bin Wanda. Ich denke, Du wirst Dich an mich erinnern. Wenn nicht an mich, dann an den Garten.

Damals habe ich es sehr bedauert, dass ihr fortgegangen seid.

Ich war nie ein Familienmensch und wollte nach meinen Erlebnissen im Krieg um jeden Preis unabhängig sein, aber Du hast Dich dann doch in mein Herz gearbeitet wie eine Hummel in ihre Neströhre. Ich habe Dich sehr vermisst.

Dass Du Dich nicht gemeldet hast, hat mich nicht gewundert. Ich hatte mit Deiner Mutter ja verabredet, dass sie Dir erzählt, ich sei zu meiner Schwester nach Polen gezogen. Nimm es ihr also bitte nicht übel. Du hättest nicht verstanden, warum Du mir nicht schreiben sollst. Damals hat man Ärger bekommen, wenn man Post aus dem Westen erhielt, von Menschen wie euch, die geflüchtet sind. In meinem Fall wäre es besonders gefährlich gewesen, weil ich nicht auffallen durfte.

Wir waren uns nicht sicher, ob das mit dem Verkauf des Hofes an mich alles wasserdicht war. Ich habe Deiner Mutter ja nur ein paar symbolische Mark dafür gezahlt, und es ging alles so schnell. Sie war einfach nur erleichtert, den Hof loszuwerden, und niemand außer mir wollte ihn haben. Außerdem hing Dorothea doch irgendwie daran, auch wenn sie das Gegenteil behauptete. Ich denke, sie war ganz froh, den Wickenhof in guten und vertrauten Händen zu wissen. Wie ich sie kenne, hat sie danach nie wieder einen Gedanken daran verschwendet.

 

Inzwischen hilft mir zum Glück ein erfahrener Anwalt. Als ich mein Testament gemacht habe, hat er alles nach heutigem Gesetz geprüft. Der Hof gehört rechtens mir, zumindest auf dem Papier. Moralisch gesehen aber gehört er auf jeden Fall Dir, liebe Sila! Du bist Anna Beers Enkelin, und Anna hing viel mehr an dem Hof als ihre Tochter, Deine Mutter. Vor Anna gehörte der Wickenhof bereits seit Generationen ihrer Familie. Wie Du weißt, habe ich selbst keine Kinder. Meine Schwester in Polen gab es zwar, aber sie ist jung gestorben und hat ebenfalls keine Nachkommen. So ist es ganz klar, dass der Hof an Dich gehen soll, nachdem er so lange mein Glück und mein Leben gewesen ist. Ich hätte es nicht besser treffen können.

 

Du kannst meinem Anwalt vertrauen, er ist ein guter Mann. Tatsächlich habe ich mich in den letzten Jahren meines Lebens doch noch einmal verliebt, und zwar in ihn. Er heißt Harald. Mit 78, kannst Du Dir das vorstellen? Seit zwei Jahren sind wir glücklich miteinander. Es ist jetzt 2010, und ich denke, wir werden noch ein paar schöne Jahre zusammen haben. Er ist jünger als ich. Wenn Du das hier liest, wirst Du ihn wahrscheinlich bald kennenlernen. Er wird Dir die Schlüssel und Papiere übergeben.

 

Sila, ich hoffe, dass es Dir in Berlin besser ergangen ist und Du Freunde gefunden hast. Ich weiß, wie schwer Du es hier hattest. Harald hat mir auf einem Bildschirm gezeigt, was Du jetzt machst. Ich habe es gesehen und gedacht, es ist wohl noch viel von Deiner alten Gegend in dir. Andrena. Die Sandbiene.

Es bleibt natürlich völlig Dir überlassen, was Du mit dem Hof anstellst. Du weißt, wie sehr ich an dem Garten gehangen habe, und ich weiß, nachdem ich Deine Bilder gesehen habe, dass er auch Dir damals etwas bedeutet hat. Aber nichts ist für die Ewigkeit! Du wirst gewiss die richtige Entscheidung treffen.

 

Ich weiß nicht, was Dir Deine Mutter über den Hof erzählt hat. Sie hat ihn geerbt, als sie noch viel zu jung dafür war. Dein Großvater ist im Krieg geblieben, und Deine Großmutter Anna aufgrund einer Krankheit, die sie während des Krieges erlitten hat, früh gestorben. Ich habe sie noch gut gekannt. Ich kam nach Kriegsende als verstörtes fünfzehnjähriges Flüchtlingskind auf den Hof. Anna hat mich aufgenommen und mir beigebracht, hier zu helfen. Da war sie mit Deiner Mutter schwanger, nach dem letzten Fronturlaub ihres Mannes, bevor er fiel. Anna ging es nicht gut, und sie hatte es auch aufgrund des Krieges und der Zeit danach extrem schwer. Trotzdem ist sie immer nett zu mir gewesen. Ich war allein durch das zertrümmerte Land geflohen, und der Wickenhof mittendrin erschien mir wie eine Insel, ein Paradies.

Gewiss, es hatten dort schlimme Kämpfe stattgefunden, in der letzten Schlacht um Berlin. Jede Menge russische und deutsche Soldaten sind damals im Oderbruch gefallen. Ich sah noch einige am Wegrand liegen … Aber das Haus stand ungerührt, es war Frühling, als ich es das erste Mal erblickte. Die Obstbäume blühten, um das Haus herum tanzten Margeriten im Wind, und in meiner ersten Zeit dort blühten gerade die Wicken auf. Vielleicht kannst Du Dich daran erinnern. Sie gaben den Hof seinen Namen, weil rundherum an den Zäunen die mehrjährigen Staudenwicken rankten, und auch die bunte einjährige Sorte säte sich in allen Farben überall aus.

Du hast immer dicke Sträuße gepflückt und in allen verfügbaren Vasen verteilt. So duftete auch das Haus danach. Ich fand immer, sie waren ein bisschen wie Annas Persönlichkeit.

 

Liebe Sila, nimm es Deiner Mutter nicht krumm, dass sie von Annas liebenswürdigem Wesen so wenig geerbt hat. Vielleicht liegt es daran, dass sie in so schweren Zeiten groß geworden ist, ohne Vater und mit einer kränkelnden Mutter. Ich war selbst noch zu jung, um ihr richtig helfen zu können. Ich habe mich um Haus und Garten gekümmert und später um Dich, so gut ich konnte. Nachdem ihr fort wart, habe ich alles wieder so hergerichtet, wie es zu Annas Zeiten war. Ein bisschen moderner natürlich, aber vor allem den Garten habe ich wiederhergestellt, so wie er vor dem Krieg gewesen ist. Sie hatte mir so oft davon erzählt.

Nur der Gemüsegarten, der ist größer geblieben, weil wir im Krieg gelernt haben, wie wichtig es ist, sich in der Not vom eigenen Grund und Boden ernähren zu können. Für mich ist es eine sehr befriedigende Tätigkeit geworden, das Gemüse zu ziehen, es keimen und wachsen zu sehen und schließlich zu ernten. Ich habe es dann an diejenigen verteilt, die es gebraucht haben, manchmal auch ein wenig getauscht, wenn es nötig war. In letzter Zeit konnte ich mich nicht mehr so gut darum kümmern. Harald hat mir geholfen, aber es fehlt ihm an Kraft.

 

Was mit dem Wickenhof geschieht, liegt nun in Deinen Händen. Fühl dich ihm bitte nicht verpflichtet! Er war Annas Leben und meines, aber aufgrund der Umstände eben nicht Deines. Ich denke, Du wirst ihn verkaufen, und ich wünsche Dir Glück dabei. Es könnte ein wenig schwierig werden, hier einen Käufer zu finden. Die meisten Menschen heute würden sagen, hier ist ja nichts. Nichts da und nichts los. Gar nichts. Das kann ich verstehen. Es stimmt nicht, doch man muss schon sehr genau hinsehen, um es zu finden. Aber ich denke, so weit kannst Du Dich noch erinnern, dass Du ahnst, was ich meine.

Um die Bienen jedoch mache ich mir Sorgen, Sila. Es werden immer weniger! Nicht nur auf dem Hof, sondern in der ganzen Gegend. Dafür gibt es natürlich Gründe. Verhindern kann das wahrscheinlich niemand mehr. Aber solltest Du tatsächlich hierherkommen, wirst Du wohl noch einigen dieser alten Freunde begegnen. Wer weiß, wie lange das noch möglich ist.

Vielleicht erinnerst Du Dich ja an das, was die Bienen tun, wenn sie gerade nicht unterwegs sind? Nun haben sie umso mehr Grund dazu. Es ist das, was auch in den dunkelsten Stunden immer noch bleibt.

 

Alles Liebe für Dich, Sila!

Deine Wanda

 

PS: Die letztjährigen Samen von den Wicken stehen in der Werkstatt im Regal.

 

Sila schluckte, obwohl sie den Brief nun schon zum zweiten Mal las.

 

Sehr geehrte Frau Beer,

 

ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Wanda verstorben ist. Mitten im Winter, Anfang Februar. Sie ist vorher noch einmal durch den Garten gegangen, hat sich dann am Kamin in den alten Ohrensessel gesetzt und ist friedlich eingeschlafen. Sie hatte Winterportulak in der Hand, den sie im Gemüsegarten geerntet hatte, und sie lächelte.

Auch wenn wir uns sehr spät im Leben gefunden haben, ich habe Wanda sehr geliebt und bin unendlich dankbar für die gemeinsamen Jahre. Gerne hätte ich Ihnen das Testament persönlich gebracht, aber ich bin stark gehbehindert. Wenn Sie mich an meiner unten angegebenen Adresse in Bad Freienwalde aufsuchen, wann immer es Ihnen passt, übergebe ich Ihnen den Schlüssel und die Papiere für den Hof. Ich bin nach Wandas Tod in ein Seniorenheim gezogen, da ich alleine nicht zurechtkam und auch ohne sie dort draußen nicht mehr sein möchte. Ich freue mich darauf, Sie kennenzulernen.

 

Mit herzlichen Grüßen

 

Harald Hoffmann

 

Auf Nuras Frage, warum Wanda ihr jetzt nach all den Jahren geschrieben hätte, hatte Sila nur gesagt: »Weil sie gestorben ist. Ein Anwalt hat mir den Brief geschickt.«

»Krass! Ein Abschiedsbrief also. Das tut mir leid, Sila.«

»Danke. Schon gut. Sie war alt und anscheinend glücklich, und ich habe sie seit Jahrzehnten nicht gesehen. Wie war das jetzt mit deiner Hausaufgabe?«

»Schon gut, das ist genau das Richtige, damit mein Kopf wieder klarwird. Zeig her. Worum geht es?«

 

Zum Einkaufen oder Kochen hatte Sila aber hinterher keine Kraft mehr. Es war plötzlich undenkbar, in einer anonymen Menschenmenge an der Kasse zu stehen, nachdem all die alten Bilder in ihr immer lebendiger wurden. Sie hatte auf einmal den Wickenduft in der Nase, sah die fröhlichen Farben in sämtlichen Rosa-, Violett- und Blautönen, die weißen Blüten nicht zu vergessen. Und die weinroten! Sie hörte das Summen der Bienen. Nicht die Honigbienen. Die anderen. Die Wildbienen. Sie hatte die verschiedenen Arten am Summen unterscheiden können …

Devin würde inzwischen zurück sein und Hunger haben. Wenn er nicht mit Nicole essen gewesen war. Da Sila den Brownie nicht herunterbekommen hatte, knurrte ihr eigener Magen jetzt auch. Kurzentschlossen nahm sie unten an der Ecke etwas vom Chinesen mit.

Devin musste sie aus dem Fenster gesehen haben, denn er stand schon in der Tür. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Ging es in dem Brief doch um etwas Schlimmes?«

Er würde sich immer um sie sorgen. Wie seit beinahe dreißig Jahren schon. Ihr würde es umgekehrt nicht anders gehen, nur hatte es noch nie einen Grund gegeben, sich um ihn Sorgen zu machen.

»Nein. Nichts Schlimmes. Hast du Lust auf Chinesisch?«

Er nahm ihr die Tüten ab. »Perfekt.«

Nach dem Essen schob sie ihm den Brief hin.

»Hier. Ich mache uns solange einen Espresso.«