Aufwind

»Lexi, wenn wir morgen nach Hause fahren, darf ich in deinem Garten einen großen Blumenstrauß für Papa pflücken?«, fragte Lina. Sie saßen in Valentinas Garten beim Frühstück. »Dann wird er bestimmt noch schneller gesund. Weil er doch dann auch ein bisschen sehen kann, wie schön es hier ist. Wenn die Blumen für Bienen gut sind, dann sind sie bestimmt auch für Menschen gut.«

»Au ja, aber dann müssen wir vor der Schule noch beim Krankenhaus vorbeifahren«, sagte Lars.

Lars und Lina waren Geschwister, deren Vater eine schwere Operation hinter sich hatte. Lexi hatte die beiden übers Wochenende mit nach Fehmarn genommen, um die Mutter ein wenig zu entlasten und die Kinder abzulenken, was auch gelungen war. Gestern hatten sie einen wunderbaren Tag am Strand und im Garten verbracht, auf dem Dach gesessen und morgens die Rehe beobachtet. Lexi hatte beide Kinder lachen gehört und dabei gedacht, dass sich jetzt vielleicht irgendwo Pia darüber freute und auch Valentina und alle, die dazwischen den Garten gehütet hatten.

»Das ist eine gute Idee, Lina. Das machen wir. Aber so früh wollen sie uns im Krankenhaus nicht haben. Wir stellen den Strauß einfach in eine Vase ins Klassenzimmer, bis ihr nach Schulschluss in aller Ruhe zu eurem Papa könnt. Dann können sich die anderen Kinder solange auch darüber freuen.«

Es war ein recht sonniger, warmer Tag, doch es wehte ein frischer Wind aufs Meer hinaus. »Wollt ihr mir helfen, die Blumenbeete zu gießen, bevor wir an den Strand gehen?«, fragte Lexi. »Der Wind trocknet die Erde ganz schön aus.« Die automatische Bewässerung erwähnte sie nicht. Sie wusste, wie tröstlich und beruhigend das Gießen der Blumen sein konnte.

»Aber nur, wenn du Lina sagst, dass sie mich nicht mit dem Schlauch nass spritzen darf«, erklärte Lars.

In diesem Augenblick klingelte Lexis Handy. Jonne!

»Hallo, Lexi. Bist du auf Fehmarn?«

»Ja, bin ich. Warum?«

»Ich muss einen neuen Drachen ausprobieren. Der Wind ist heute prima dafür geeignet. Aber ich bräuchte jemanden, der mir hilft. Hast du Zeit und Lust dazu?«

Er war so unkompliziert. Er redete nicht lange drum herum, sondern fragte, was er fragen wollte. Das mochte sie. »Zeit und Lust hätte ich schon. Aber ich habe Besuch.«

»Das war mir schon klar. Die Kinder bringst du natürlich mit. Je mehr, desto besser, dann habe ich gleich ein paar Testpersonen! Es gibt auch wahlweise Eis für alle, Fischbrötchen oder Schokoladenstreuselquark.«

»Wer könnte da widerstehen! Warte mal kurz.« Lexi nahm das Telefon vom Ohr. »Lars, Lina, habt ihr Lust, einen Drachen steigen zu lassen? Ich habe da einen Freund, der welche für einen Laden baut. Er braucht unsere Hilfe. Was meint ihr?« Hatte sie gerade Freund gesagt? Wann fing eigentlich eine Freundschaft an? Bei Sila war ihr zumute, als würden sie sich schon lange kennen. Und Jonne? Bei dem fühlte sie sich einfach

 

Der Drachen, den Jonne wenig später am Südstrand entfaltete, hatte die Gestalt einer riesigen Meeresschildkröte. Eifrige Kinderhände halfen, die Folie auf dem Sand auszubreiten, die Stangen zusammenzustecken und in die Schlaufen zu bugsieren. »Aber Schildkröten fliegen doch nicht«, protestierte Lars.

»Doch, Meeresschildkröten schon. Hast du noch nie eine im Aquarium gesehen? Sie tun es nur eben unter Wasser. Wenn sie schwimmen, sieht es genauso aus wie Fliegen. Sie bewegen ihre paddelartigen Füße genau wie Vögel ihre Flügel.«

»Außerdem hat man doch Drachen deshalb, damit Tiere fliegen können, die sonst nicht fliegen, stimmt’s, Jonne?«, fragte Lina, die Jonne schon nach wenigen Minuten wie einen alten Bekannten behandelte. Er hatte wirklich eine gute Art, mit Kindern umzugehen. Wahrscheinlich lag es daran, dass er so unkompliziert war. Einen Knoten, den Lina versehentlich in die Schnur gemacht hatte, knüpperte er in aller Ruhe wieder auf. Dann gab er die Rolle Lars. »Könntest du bitte damit jetzt ein Stück am Strand entlanggehen? Immer schön gleichmäßig den Faden abrollen lassen, ohne dass er sich verwirrt? Am besten gehst du rückwärts, und Lexi passt auf, dass niemand im Weg ist. Lina und ich bleiben hier, und wenn du weit genug weg bist, heben wir die Schildkröte in den Wind. Wenn sie nicht gleich hochsteigt, rennst du ein Stück, ja?«

»Klar doch! Habe ich mit Papa auch schon oft gemacht.« Lars stapfte los und ließ die Augen nicht vom Faden. »Lexi, machst du ein Foto für Papa, wenn die Schildkröte oben ist?«

Genau. Ausrufezeichen! Das, was wir hier tun, ist nicht nur eine Freizeitbeschäftigung. Das ist genau das, was im Leben wichtig ist, dachte sie. Selbst Lars weiß das schon. Deswegen will er ein Foto haben. Er weiß, was gut für seinen Vater ist. Im Grunde ist es so einfach.

Sie dachte an ihren Vater, der sagen würde: »Drachen? Der Mann baut Drachen? Und was, glaubst du, wird er damit im Leben erreichen? Aus dem wird doch nie was!«

Ja, die Ausrufezeichen im Leben ihres Vaters waren eben andere als die in ihrem.

Alle Kinder sollten Zugang zu einem Strand mit Drachen am Himmel haben, dachte sie. Aber für die meisten ist ein Strand weit weg. Ob es auf Silas Hof wohl eine Wiese oder ein Feld nebenan gibt, auf der man Drachen steigen lassen könnte? Ganz bestimmt.

»Lexi, Lexi, guck!« Lars zeigte mit der Rolle, die er sorgsam in beiden Händen hielt, in die Ferne, wo vier Hände die Schildkröte in den Himmel hoben. In einem eleganten Bogen sauste sie nach oben. Der Wind griff mühelos unter ihren Panzer, dann streckten sich auch die Beine aus. Kurz sackte sie noch einmal ab, und Lars rannte eilig ein Stück, bis sie sicher oben blieb. »Die hat ja einen Schwanz!«, stellte Lars erstaunt fest. »Den hatte sie vorhin nicht. Den muss Jonne noch angehängt haben.« Er fing an zu kichern. »Ach nein, das sind ja Fische!«

 

»Die hinteren Flossen muss ich noch ein wenig vergrößern, dann liegt er besser in der Luft.«

»Der Schwanz mit den Fischen ist wunderbar. Es sieht aus, als ob sie der Schildkröte hinterherschwimmen. Das macht die Sache lebendig. Zu einer richtigen Geschichte«, fand Lexi.

Jonne kniff die Augen zusammen und sah kritisch nach oben. »Ja, aber ich glaube, es sind zwei Fische zu viel. Wenn der Schwanz zu lang ist, ist es auch nicht gut für die Stabilität. Ich habe erst überlegt, ob ich Babyschildkröten statt Fischen nehmen soll, aber das wäre nicht korrekt. Schildkrötenmütter kümmern sich nicht um ihre Nachkommen. Wenn Schildkrötenkinder aus dem Ei kriechen, ist die Mutter schon längst wieder in den Ozeanen unterwegs.«

Lexi staunte. »Du achtest auf biologische Korrektheit, wenn du deine Drachen baust?«

»Na ja, nicht, wenn ich einen Pegasus konstruiere. Aber im Prinzip schon, klar.«

»Diese zwei Kinder hast du heute jedenfalls glücklich gemacht«, stellte Lexi fest.

Er warf ihr einen Blick zu. »Und was ist mit dir? Du wirkst, als ob dich etwas sehr beschäftigt.«

Jonne wartete geduldig, aber aufmerksam. Und weil sie gerade Zeit hatten, zusammen am Strand saßen und die Kinder beschäftigt waren, erzählte Lexi ihm von den Loosehöfen und wie sie sich seither vorstellte, was man alles auf einem solchen großen, vielfältigen, biologisch interessanten Hof anstellen könnte. All das, wovon sie geträumt hatte! So viele Blumenbeete für so viele Kinder, wie sie wollte, Sommerfeste, Schnitzeljagden, Lagerfeuer, Biostunden im Freien. »Und eine Wiese zum Drachensteigen gibt es da bestimmt auch. Man könnte sogar in irgendeinem alten Stall Drachen mit den Kindern bauen. Drachen und Vogelscheuchen und Flöße und weiß der Himmel was noch alles«, endete sie. »Auf so einem Hof wäre einfach Platz genug für alles.«

»Aber da wäre kein Meer«, gab Jonne zu bedenken.

»Nein, kein Meer. Aber nicht jeder kann oder will sein ganzes Leben am Meer verbringen. Es würde einen Fluss oder einen See geben, und man könnte einen Teich anlegen. Einen Brunnen konstruieren. Das wäre doch was!« Lexi setzte sich gerade. »Einen ganz großen Zierbrunnen mit den Kindern bauen, mit einer Solarpumpe, jeder kann irgendeine Art von kleinem Becken hinzufügen, und dazwischen verlaufen ganz viele Rinnen, so dass das Wasser von einem ins andere läuft. Vielleicht an einem Abhang, mit kleinen Wasserfällen.« Lexi war Feuer und Flamme und sah es bereits vor sich.

Jonne lachte auf. »Ich sehe schon, du findest immer eine Lösung.«

»Eine Lösung nicht, aber eine Idee.« Sie seufzte. »Das Problem ist einfach nur, dass viele Ideen auch viel Platz brauchen und viele Kinder sowieso.«

Er setzte sich wieder hin und sah Lexi an. »Weißt du, solche Ideen, wie du sie da hast, die lassen sich nicht unterdrücken. Ich weiß das von mir. Wenn mir eine Idee in den Kopf kommt, wie ich einen neuen Drachen bauen könnte, dann muss ich sie auch verwirklichen. Man erstickt sonst. Nicht alle verstehen das. Darauf darf man nicht warten. Für viele erscheint es wahrscheinlich wie ein Luxusproblem. Aber man muss sich auch nicht dafür schämen.«

»Nicht?« Lexi sah ihn an. »Meinst du nicht, ich müsste mich dafür schämen, dass ich hier mitten im Paradies unzufrieden bin?«

Jonne sammelte ein paar Muscheln ein, die um ihn herum lagen, und baute damit einen kleinen Turm. Wahrscheinlich merkte er nicht einmal, dass er das tat. »Wie war das, als Pia dir den Garten vererbt hat?«, fragte er.

Lexi erklärte ihm kurz die Vorgeschichte des Gartens, wie sie in den alten Büchern stand, und dann erzählte sie von Pia. Sie spürte, wie dabei ein Lächeln über ihr Gesicht flog.

Pia war so warm und liebevoll gewesen. Lexi mit all ihren Problemen hatte ebenso in ihr großes Herz gepasst wie der Himmel, das Meer, sämtliche Blumen und die Rehe. »Weil sie wusste, wie wohl und geborgen ich mich im Garten fühlte. Sicher vor der Missbilligung meiner Eltern, sicher vor jedem Streit zwischen ihnen und Wolfgang. Sicher vor den Lehrern, die meine Ideen nicht immer passend fanden. Sie wusste, dass ich glücklich war über jede einzelne Blüte, die sich hier öffnete, jedes selbstgezogene Radieschen, das ich essen konnte, und

Jonne betrachtete nachdenklich den Turm, den sie gemeinsam gebaut hatten. »Und jetzt hast du Angst, Pia zu enttäuschen, wenn du neue Wege gehst?«

»Na ja, im Augenblick weiß ich ja noch gar nicht, wie diese neuen Wege aussehen sollen. Aber ja, ich denke, es erscheint mir wie ein Verrat.« Lexi wagte nicht, noch eine weitere Muschel obendrauf zu legen. »Und gleichzeitig habe ich auch ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so jung sozusagen in ein gemachtes Nest gesetzt habe. Die anderen, die den Garten erhalten haben, waren alle älter als ich. Sie waren in Not oder krank oder geflüchtet. Mir geht es viel zu gut. Vielleicht ist es zwecklos, meinem Vater etwas beweisen zu wollen. Aber mir, mir selbst muss ich doch irgendwann etwas beweisen!«

Jonne zuckte mit den Schultern. »Das schlechte Gewissen ist uns eingeimpft worden, bis es schon aus Gewohnheit auftaucht. Wir sind alle so erzogen worden, dass wir wegen allem Gewissensbisse haben müssen. Damit müssen wir leben. Man kann sich aber ganz gut darüber hinwegsetzen, wenn man sich das einmal klarmacht. Dann fällt dieses wackelige Konstrukt in sich zusammen.« Er tippte den Turm leicht an, und die Muscheln verteilten sich wieder im Sand, wo sie das Licht der Sonne auffingen und ihre Farben zeigten. »Ein schlechtes Gewissen hat noch niemanden weitergebracht. Es lähmt. Es kostet Kraft. Und es ändert genau null. Valentinas Wunsch für den Garten war

Lexi hatte ihm mit wachsendem Erstaunen zugehört. »Du hast recht. So habe ich es überhaupt noch nicht gesehen. Wenn man es so betrachtet, hätte Pia bestimmt nichts dagegen. Sie hat sogar mal gesagt, man sollte nicht am falschen Ort zu tiefe Wurzeln schlagen. Sie wollte auch nur, dass es mir gut geht. Da hätte ich auch selber draufkommen müssen. Jonne, danke, das habe ich gebraucht! Ein Perspektivwechsel. Jemand, der das von außen sieht, mit klarem Kopf.«

»Immer gern zu Diensten«, sagte Jonne und lächelte sie an.

Aber Lexis Euphorie verflog schon wieder. »Ich wüsste nur weit und breit niemanden, dem ich den Garten geben könnte. Wolfgang würde er mehr schaden als nutzen. Meine Schüler

Jonne stand auf und reichte ihr eine Hand, um sie hochzuziehen. »Du musst ja nichts überstürzen. Erst musst du wissen, wo du selbst hinwillst. Alles andere wird sich ergeben. Hat sich nicht immer etwas Gutes ergeben für Valentinas Garten?«

»Doch«, gab Lexi zu. »Das hat es wohl.«

»Dann finde heraus, wie dein Weg aussehen soll, wo du deine Ideen verwirklichen kannst und wie, und überlass den Rest dem Meer. Irgendeine Antwort hat es immer, wenn man ihm Zeit lässt. Das hat jedenfalls mein Großvater immer gesagt. Sein Vater, jener Falk Trynoga, hat auf der Flucht einmal einen alten Mann im Wald getroffen, ich glaube er hieß Grafunder. Von dem hatte er das, und er hat zeitlebens daran geglaubt, auch als er nicht mehr am Meer lebte.«

»Das klingt gut«, sagte Lexi und klopfte sich den Sand von den Hosen. »Im Augenblick allerdings hat das Meer deinen Drachen verschluckt.«

Eine Windbö hatte den Drachen plötzlich heruntergedrückt, und er war ins Wasser gestürzt. Lars war eifrig dabei, die Schnur gegen den Widerstand der Strömung wieder einzuholen. Lina hüpfte aufgeregt umher und lief in die Wellen.

»Na, dann wollen wir den Drachen mal retten«, sagte Jonne.

Lexi folgte ihm. Sie fühlte sich auf einmal wesentlich leichter. Anscheinend gab Jonne nicht nur den Drachen Auftrieb.