In guter Gesellschaft

Am Stand der Quarkeria entschied sich Lina für Orangenquark, Lars für den mit Schokostreuseln, Jonne nahm den mit roter Grütze und Lexi den mit Müsli, weil sie nach dem befreienden Gespräch plötzlich großen Appetit hatte. Die Becher in der Hand, schlenderten sie ein Stück die Strandpromenade entlang. Lexi winkte dem Fischbrötchenmann zu.

»Hallo, Rasmus! Alles gut bei dir?«

Sie hatte schon als Kind bei ihm Fischbrötchen geholt und meist ein paar der teuren Nordseekrabben geschenkt bekommen, die sie so gerne aß. Neuerdings wechselte er sich mit einem Kollegen ab, und sie hatte ihn länger nicht gesehen.

»Na klar, Lexi.« Er winkte die Kinder heran. »Mögt ihr Krabben?«

»Nöö, nicht so«, erklärte Lars.

»Hab ich mir gedacht.« Er zwinkerte Lexi zu. »Aber Bonbons doch sicher?« Er hielt ihnen ein Glas hin, in das sie eifrig griffen. »Danke!«, sagten sie im Chor.

»Nicht jedes Kind hat deinen Geschmack, was, Lexi?« Rasmus, dessen Haare weniger und grauer geworden waren, strahlte sie an. Es stand ihm gut, auch die Lachfalten, die sich vermehrt hatten. »Als Kind hat sie nicht nur die Krabben gemocht, sondern auch die Zwiebelringe von den Brötchen gemopst«, sagte er zu Jonne.

»Verständlich. Die mag ich auch«, sagte der erstaunt.

 

»Wenn du dich so für größere Gärten interessierst, wäre es doch bestimmt anregend für dich, dir mal welche anzusehen«, sagte Jonne. »Ich finde es auf den Drachenfestivals immer wahnsinnig spannend zu sehen, was andere so bauen. Wenn ich dann zurückkomme, habe ich tausend Eingebungen und weiß viel genauer, was ich will. Austausch ist wichtig und vor allem hilfreich. Warum gehst du nicht mal auf Tour? Du hattest mir doch von dieser Frau erzählt, die gerade einen Garten mit aufbaut, in dem sie pädagogische Naturfilme für Schulen dreht. Warum besuchst du sie nicht mal? Du hast gesagt, du benutzt ihre Filme im Unterricht. Das wäre doch für euch beide interessant, meinst du nicht?«

Lexi war gerührt, dass er sich so viel Gedanken machte. »Du meinst Linnea Joneleit. Die hat bestimmt zu viel zu tun. Aber es ist eine richtig gute Idee!« Sie merkte, wie sehr ihr der Gedanke gefiel.

»Ist denn dieser Garten weit weg?«

»Nein, es geht. Auf Hiddensee. Aber ich kann jetzt nicht fort, es sind keine Ferien.«

»Aber Lexi, bald sind doch Pfingstferien!«, sagte Lars empört.

»Stimmt ja. Hatte ich ganz vergessen.«

Lina lachte lauthals los. »Ferien vergisst man doch nicht!«

»Lehrer haben eben keine richtigen Ferien«, kam Jonne Lexi zu Hilfe. »Sie müssen sich immerzu um die Unterrichtsvorbereitungen kümmern.«

»Manchmal aber auch Blümchen«, ergänzte Lina.

»Die Filme von Linnea aus Timmos Garten findet ihr doch auch gut, oder?«, fragte Lexi.

Beide nickten heftig. »Die sind super«, bescheinigte Lars. »Warum heißt der eigentlich Timmos Garten? Lebte da mal ein Timmo, so wie bei dir die Valentina?«

»Ja, er ist nach einem Mönch benannt, der vor sehr vielen Jahren einmal dort lebte und Blumen und Tiere sehr gern mochte.«

»Fährst du dahin, Lexi? Nimmst du uns dann mit?« Lina fixierte Lexi erwartungsvoll mit ihren großen braunen Augen.

»Das geht nicht«, sagte Jonne bestimmt. »Ihr könnt doch euren Papa nicht länger alleine lassen. Und außerdem nimmt Lexi mich mit.«

Lexi verschluckte sich an ihrem letzten Löffel Quark und musste husten. Jonne klopfte ihr mit Unschuldsmiene auf den Rücken.

»Ich kann euch nicht mitnehmen, ihr wisst doch, alle Kinder müssen sich abwechseln. Ihr seid ja jetzt gerade dran«, erklärte sie, als sie wieder Luft bekam.

»Ach so, und dann ist Jonne dran«, sagte Lars verständnisvoll.

»Genau. Ich brauche auch mal pädagogische Zuwendung«, sagte der todernst und sammelte die leeren Becher ein, ohne Lexis Blick zu begegnen. »Die Details können wir ein andermal besprechen. Tschüs, ihr alle, ich muss jetzt los. Danke für die Hilfe mit der Schildkröte, ihr wart Superhelfer!«

Immer noch sprachlos sah Lexi ihm nach.

 

»Es tut mir leid, Lexi! Ich weiß auch nicht, welcher Teufel mich da vorhin geritten hat«, sagte er und klang ehrlich zerknirscht dabei. »Ich wollte mich wirklich nicht aufdrängen.« Die Pause dehnte sich. »Es ist nur, ich mag deine Gesellschaft«, fügte er schließlich hinzu.

»Ich deine auch«, sagte Lexi ehrlich, nachdem sie sich gefangen hatte. Warum nicht die Wahrheit sagen, wenn er es auch getan hatte?

»Weißt du, ich muss einfach mal von der Insel runter. Ich habe über Pfingsten ein paar Tage frei und wollte sowieso irgendwohin fahren. Ich habe von meinem Großvater geträumt. Bene hat mich streng angesehen und gesagt: ›Schön, dass du dir meinen alten Wohnsitz angesehen hast, Junge, aber nun leb dein eigenes Leben, nicht meins!‹« Jonne räusperte sich. »Ich kenne da jemanden von den Drachenfestivals her – Rico, er und sein Team schlagen mein Team meist knapp bei den Synchronflug-Wettbewerben. Er wohnt in Sassnitz und vermietet Zimmer in einer kleinen Pension, die von seiner Frau geführt wird. Ich könnte uns zwei Zimmer buchen, für einen Freundschaftspreis. Von Rügen aus bist du mit der Fähre ruckzuck auf Hiddensee – oder wir beide, wenn du mich mitnimmst. Aber bitte versteh mich nicht falsch, Lexi!«

»Deine Idee gefällt mir. Lass mich darüber bis morgen nachdenken, ja? Das mit Rügen hatte ich mir auch schon überlegt, weil es dort noch einen anderen Garten gibt, den ich mir gern

»Umso besser. Sag mir einfach Bescheid. Ich würde mich sehr freuen, aber ich kann auch verstehen, wenn du das lieber allein machen möchtest. Gute Nacht, Lexi.«

Sie blieb noch eine Weile in der Schaukel sitzen, während das letzte Licht des Tages verklang und sich Tau auf das Gras legte. Nein, sie wollte es nicht lieber allein machen, wurde ihr klar. Sie hatte so lange alles allein gemacht. Schon in ihrer halbherzigen Beziehung davor, und seitdem sowieso.

 

Wenn sie nach Rügen fuhr, würde sie den Garten sehen können, der nach jenem Mervin benannt worden war, der vor Pia ein paar Jahre hier gelebt hatte. Das war ihr erst kürzlich klargeworden, als sie über die Website von Linnea Joneleit auf eine Zeitschrift aufmerksam geworden war, die ebenso hieß: Mervins Garten.

Vielleicht würden die Leute, die den Garten angelegt hatten, sich dafür interessieren, dass Mervin hier gewesen war. Vor allem aber: In jenem Garten auf Rügen gab es einen Teil, der »Geschichtengarten« hieß. Dorthin durfte jeder, der wollte, den Ableger einer Pflanze bringen, die ihm etwas bedeutete. Einzige Bedingung: Man musste in einer vorgeschriebenen Länge die dazugehörige Geschichte aufschreiben. Die wurde dann auf einem Schild daneben aufgestellt.

Seit sie davon gehört hatte, hatte sie den Wunsch, eine Blume dort zu pflanzen und die Geschichte von Pia aufzuschreiben. Nun, da sie mit dem Gedanken spielte, den Garten

Sie würde sich für einen Ableger des tiefroten Bienenbalsams entscheiden, dachte Lexi. Der war robust, und Pia hatte die Blüten besonders geliebt.

»Diese Farbe!«, hatte sie jedes Jahr wieder ausgerufen, wenn sich die erste Blüte öffnete. »Sie ist Lebensfreude pur, findest du nicht? Man sieht sie schon von weitem. Sie ruft einen praktisch in den Garten hinein, und wenn man dann davorsteht, kann man ihre Kraft förmlich aufsaugen. Sie ist die Essenz von Mut, gemischt mit einem bisschen Trotz und einem ausgelassenen Lachen. Ja, ich glaube, diese Blüte ist das Lachen des Sommers.« Im Gedenken an Pia hatte Lexi seitdem noch alle weiteren Farben Bienenbalsam gepflanzt, die es gab, Weiß und Pink und Violett. Und doch war es die glühend Rote, die am meisten von Pia erzählte und die sie für den Geschichtengarten wählen würde.

 

Irgendetwas in dem Gedanken an diese Farbe war es, das Lexi den Mut verlieh, Jonne anzurufen und ihm zu sagen, dass sie sich für seinen Vorschlag entschieden hatte.

So kam es, dass sie am Freitag vor Pfingsten mit Jonne im Auto saß, in ihrem, da er seinem nicht traute, einen großen Topf mit Bienenbalsam hinter dem Sitz. Sie fuhren über den Rügendamm. Ein launiger Wind trieb einzelne Wolken über einen ansonsten blauen Himmel, der Pfingstwetter versprach, und rechts und links glitzerte der Strelasund, betupft mit weißen Schwänen. Der Bienenbalsam blühte noch nicht, aber bei jeder Erschütterung des Wagens gaben die Blätter ihren würzigen

Sie wechselte sich mit Jonne beim Fahren ab und stellte fest, dass er ein guter Beifahrer war und sich nicht in ihre Fahrweise einmischte.

»Diese Alleen mit den alten Bäumen sind einfach unglaublich«, sagte Jonne.

»Ja, irgendwie feierlich«, fand Lexi. »Ein bisschen wie in einer Kirche. Nur schöner. Passt perfekt zu Pfingsten.«

Jonnes Freund Rico war ausgesprochen temperamentvoll, aber ansonsten unkompliziert. Die Zimmer, die er ihnen zuwies, waren klein und einfach, aber Lexi war vollkommen zufrieden. Die kleine Gasse in Sassnitz hatte es ihr angetan, vor allem die kunstvollen keramischen Fliesen, die unten in die Hausmauer eingemauert waren. Sie zeigten Krebse und Fische, Möwen und Muscheln und strahlten etwas Mediterranes, Liebenswürdiges aus. Und das blankgewetzte, uralte Kopfsteinpflaster mochte sie auch.

Lexi hatte mit Remona Kreyhenibbe, die den Geschichtengarten führte, und auch mit Linnea Joneleit einige E-Mails gewechselt und festgestellt, dass beide sehr zugänglich waren. Sie hatte mit Remona für den morgigen Samstag einen Termin gemacht und mit Linnea für Pfingstsonntag.

Den Abend verbrachten Jonne und Lexi damit, durch Sassnitz zu schlendern, die Häuser zu betrachten und sich beim Griechen einen so hervorragenden wie riesigen Vorspeisenteller zu teilen. Jonne erzählte von den Drachenturnieren und den gescheiterten Modellen, die er gebaut hatte, bis Lexi aus dem Lachen nicht herauskam. Sie selbst gab Anekdoten über ihre

 

»Ist das schön hier!«, rief Lexi am nächsten Morgen überwältigt. Sie waren über Sagard zum Jasmunder Bodden gefahren, und Jonne hatte auf Lexis Bitte hin angehalten, damit sie aussteigen und das Licht auf dem Wasser betrachten konnte. Die Morgensonne füllte es mit einem warmen goldenen Glanz, die Schäfchenwolken spiegelten sich darin, und es wirkte, als wäre das Licht flüssig geworden. Ein paar frühe Stehpaddler waren unterwegs, obwohl die Luft noch frisch war. Wilder Flieder blühte am Ufer, und Wiesenschaumkraut wiegte sich im Wind.

»Ein ganz besonderer Ort«, stimmte Jonne zu, dann sah er auf die Uhr. »Wir können hier später noch ein Stück laufen, aber wenn wir jetzt nicht fahren, versäumen wir unseren Termin.«

Lexi riss sich los und stieg wieder ein. Von hier aus war es nicht mehr weit. Bald sah sie das hölzerne gebogene Schild, liebevoll poliert und geschnitzt, das über dem Tor hing. Mervins Garten.

 

Es war allerhand los hier. Leute kamen und gingen, viele mit Töpfen in der Hand. Vor dem Tor stand ein kleiner Verkaufstisch mit verschiedenen Pflanzen und Insektenhotels.

Eine Frau kam auf sie zu, groß und schlank, mit einem dunklen Pixiehaarschnitt und lebhaften, ungewöhnlich hellblauen Augen. »Hallo, ich bin Remy, herzlich willkommen«, sagte sie.

»Hallo, ich bin Lexi Rehling, und das ist Jonne. Wir sind angemeldet.«

»Bisher hatten wir nur einen Wohnwagen«, erklärte Remy. »Das Blockhaus ist ein großer Fortschritt. Nun gibt es ein richtiges Büro, und wir haben einen Raum, in dem man sich erfrischen kann, eine Kleinigkeit essen oder auch Vorträge halten oder dergleichen. Kennt ihr unsere Zeitschrift Mervins Garten

»Ja, dadurch habe ich von euch gehört. Seitdem habe ich jedes Exemplar gekauft«, sagte Lexi.

»Wenn du die Zeitschrift gelesen hast, kennst du auch die Schnitzereien von Mervin auf dem alten Schrank, die wir als Titelblatt benutzen. Wenn ihr in das Blockhaus geht, könnt ihr den Schrank jetzt im Original bewundern. Wir haben ihn dort gerade aufgestellt. Nun ist er da, wo er hingehört, ein Denkmal für Mervin, der diesen Garten ursprünglich einmal für die Insekten schuf – und für seine Frau Clara.«

»O ja, das muss ich unbedingt sehen! Ich habe auch eine Pflanze für den Geschichtengarten mitgebracht, wie angekündigt. Die Geschichte dazu hatte ich dir geschickt. Wo darf ich sie denn einpflanzen?« Der Topf war ein wenig schwer.

»Gib mal her, ich nehme den«, sagte Jonne.

Eine weitere Familie näherte sich dem Tor.

»Ich muss mich erst mal um die anderen kümmern. Sucht euch einfach einen Platz«, sagte Remy. »Schaufeln und Gießkannen stehen genug herum. Pflanzt sie ein, wo es euch gefällt.

 

Jonne und Lexi gingen durch das Tor, direkt in einen Bauerngarten hinein, der eine Fülle aus Farben und Gerüchen war. Pfingstrosen und Goldlack in allen Schattierungen von Orange, Gelb und Weinrot wechselten sich ab, am Rande des Weges dufteten Maiglöckchen, leuchtend hellgrün schimmerte dazwischen Wolfsmilch. Tränendes Herz hing in sanften Bögen, blaue Hasenglöckchen und Prärielilien wirkten wie kleine Stückchen Himmel. Elegante Iris erhoben sich in Zitronengelb, Schneeweiß und Violett.

»Ich habe noch nie so viele Schmetterlinge in einem Garten gesehen«, sagte Lexi und blieb verwundert stehen. Zitronenfalter und Tagpfauenaugen waren überall um sie herum unterwegs. Ebenso reichlich brummten und summten Bienen und Hummeln.

Im Blockhaus trafen sie auf einen fröhlichen jungen Mann, der ihnen das Schild aushändigte.

»Oh, das sieht schön aus! Danke!« Voller Freude betrachtete Lexi ihre eigenen Worte über Pia, die so schön auf dem Schild mit dem Stecker unten daran gedruckt worden waren. Sie steckte eine großzügige Spende in den bereitstehenden

»Natürlich. Dort steht er!« Er wies über seine Schulter und widmete sich den nächsten Gästen.

Ehrfürchtig stand Lexi vor dem Schrank, und auch Jonne betrachtete ihn bewundernd. Es war ein großer alter Sekretär, der mit höchst kunstvollen Intarsien von Bienen, Schmetterlingen, Käfern und Pflanzen in farbigen Hölzern verziert war.

»Als Remy diesen Schrank und die dazugehörige Geschichte gefunden hat, wurde sie zu ihrer Zeitschrift und dem Garten inspiriert«, erklärte Lexi Jonne. »Und Linnea Joneleit, die Frau mit den pädagogischen Naturfilmen, wurde wiederum von Remy und Mervins Garten angeregt. Mervin hat den Garten seinerzeit angelegt, um die Insekten zu schützen und ihnen einen Platz zu geben, an dem sie sich sicher fühlen. So wie Valentina ihren Garten an Menschen weitergab, die einen sicheren Platz brauchten.«

»Das klingt schön«, fand Jonne. »Und sinnvoll. Die Gärten befruchten sich gegenseitig, und für alles gibt es einen richtigen Standort. So wie die Pflanzen sich untereinander verhalten. Und wenn ich dich richtig verstanden habe, hat Linnea Joneleit wiederum dich inspiriert.«

»Ja, durch sie sind mir viele pädagogische Ideen gekommen. Nur verwirklicht habe ich davon noch kaum etwas, mangels Platzes.«

»Na, das kann ja noch kommen. Um dich weiter zu inspirieren, sind wir ja hier. Komm, lass uns diese schwere Pflanze unterbringen«, bat Jonne.

Nach dem Dunkel des Blockhauses war es draußen blendend hell. Nun galt es, für Pias Lieblingsblume und ihre Geschichte ganz genau den richtigen Ort zu finden.

Der Geruch der warmen Erde stieg ihr in die Nase, und als sie sich umsah, wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass sie auch einmal einen ebenso sinnreichen Ort schaffen wollte, wie er hier entstanden war.