Neue Töne

Anna und der Soldat ohne Namen wollten nicht aufhören, in Silas Gedanken zu kreisen. Anna hatte es in Zeiten der Machtlosigkeit bestimmt geholfen, etwas für jemanden tun zu können. Erst für die jüdische Frau, dann für den verwundeten Mann, der Narzissen, Gärten und Bücher geliebt hatte.

Anna hatte die Ankunft der Russen überstanden und den Hof über die Zeiten gerettet. Aber was war aus dem Soldaten geworden? War er wirklich gefallen? In Gefangenschaft geraten? Hatte er doch noch seine Gisela wiedersehen dürfen?

Sila sprach mit Lisann und Martin darüber, und sie waren sich einig, dass es ohne weitere Anhaltspunkte wohl keine Chance gab, etwas über die Identität des Soldaten herauszufinden. Sila schrieb dennoch ans Rote Kreuz und gab die Namen Gisela und Konrad und den Fundort der Aufzeichnungen weiter. Mehr konnte sie wohl nicht tun.

Um sich abzulenken, half ihr, was ihr immer half. Sie wurde kreativ. Erst kam das reparierte Windspiel wieder an seinen Platz. Mit den ersten Tönen, die der Wind über die Felder blies, wurde es Sila leichter ums Herz. Dann suchte sie nach weiteren Skulpturen Wandas, befreite sie von Efeu und Brennnesseln, bog sie zurecht oder befestigte heruntergefallene Teile neu. Nun war es ein wenig, als wäre Wanda wieder da, um ihr Gesellschaft zu leisten, da Sila auf ihren täglichen Wegen hier und da an den lebensvollen Gestalten vorbeikam.

»Du kommst weg!«, sagte sie jetzt erbost und trat gegen das Gestell, weil sie sich schon wieder den Zeh daran gestoßen hatte. Doch das würde eine größere Aktion werden. Die rostigen, aber noch massiven Füße waren tief im Boden verankert.

 

Harry und Wanda hatten von dem Eiskeller nichts gewusst, stellte sich heraus, als Sila Harry anrief. Er stimmte ihr zu, dass dieser den Hof für einen Käufer interessanter machen könnte. Martin befreite also die alte Treppe von Erde und Geröll und besorgte eine neue, massive Holztür. Lisann trieb auf dem Markt sogar eine alte schmiedeeiserne Klinke dafür auf, die gut dazu passte. In die Öffnungen ließ Sila Glasfenster einsetzen. Zusammen mit Lisann fegte sie den Raum aus, entsorgte mit beklommenem Gefühl die verrottende Matratze und die Decke und legte den Helm, das Heft und den Rucksack in eine Schachtel, die sie im Schrank von Wandas altem Zimmer sorgsam verwahrte.

Sie polierten den alten Tisch und Stuhl, lüfteten lange und schlossen dann die neue Tür.

Sila hob die Schultern. »Können wir nur hoffen, dass dem neuen Besitzer etwas Sinnvolles einfällt.«

Manchmal war in Sila die Trauer hochgekommen und die Wut über alles, was hier geschehen war, auf dem Hof und im Land drum herum. Die Kriege, die DDR-Diktatur, die Misshandlung der Umwelt, das Verhalten der Kneipengäste, das ihres Vaters.

Semir war nicht begeistert gewesen, als Dorothea damals im Westen mit Sila an der Hand vor seiner Haustür auftauchte. Daniela hatte abgeraten, aber Dorothea konnte es nicht lassen.

»Du hast hier nichts zu suchen«, hatte Semir gefaucht und nicht mal die Sicherheitskette geöffnet. Sila hatte er völlig ignoriert. Dann war seine Frau hinter ihm aufgetaucht und hatte etwas auf Türkisch geschimpft. Schließlich hatte sie hässlich gelacht, und dann war die Tür ins Schloss gefallen.

Zwei Wochen später war Semir für immer in die Türkei verschwunden, wohl, weil es ein paar zu viele Frauen wurden, die seine Unterstützung einforderten.

»Würde es dir helfen, ihn zu suchen und zu treffen?«, hatte Devin sie einmal gefragt.

Sila hatte lange darüber nachgedacht und dann entschieden den Kopf geschüttelt. »Nein. Den Vater, den ich mal in ihm gesehen habe, den gab es nie. Das ist vorbei.«

Sie war selbst erstaunt, wie wenig Groll sie gegen Semir hegte. Er war ein Opfer seiner Zeit gewesen. Dorothea auch, und doch fiel Sila es hier in Altlewin zuerst schwer, so viel Nachsicht auch mit ihrer Mutter zu üben.

Jetzt aber, da sie von dem Soldaten wusste, war all das verflogen. Sie hatte Wanda gehabt, die Bienen, den Garten. Und

Mit einem Anflug von Stolz sah sie sich um. Der Hof sah bereits ganz verändert aus. Er wurde endlich zu dem glücklichen Ort, der er schon immer hätte sein können, wenn manches anders gekommen wäre.

In Sila regte sich etwas. Spontan packte sie ihre Brennstation aus und suchte sich ein langes, breites Holzbrett. Mit einiger Mühe wuchtete sie es hoch und lehnte es aufrecht an die Stallwand, glättete es sorgfältig erst mit einem Schleifer, dann mit Sandpapier und begann, Buchstaben darauf vorzuzeichnen. Aus einem Impuls heraus ging sie ins Haus, nahm den Bleistift des Soldaten aus der Schachtel und benutzte ihn dafür, nur dafür, dann legte sie ihn zurück.

Sie war sich sicher, dass ihm das etwas bedeutet hätte.

Schließlich begann sie, die Buchstaben einzubrennen, sorgfältig schattiert, so dass sie dreidimensional wirkten.

W

I

C

K

E

N

H

O

F

Ganz unten rechts signierte sie mit der Zeichnung einer Biene und dem Schriftzug Andrena.

Genau. Sie war Andrena! Weder die Erinnerung an Semir noch an die Flucht, an die Kneipengäste oder an Dorothea konnten ihr noch etwas anhaben. Sie hatte die Träume der Bienen wiedergefunden, die auch ihre eigenen waren, und diese galten noch immer, weil sie zeitlos und über alle menschlichen Streitigkeiten und Fehler weit erhaben waren.

Himmel, Freiheit, Erde, Blüten.

Das wollte sie, aber nicht hier. Sie wollte ihren ganz eigenen Ort finden, so wie ausschwärmende Bienen einen neuen Ort suchen müssen, sowohl die Königinnen der Honigbienen als auch die Wildbienen, die aus einem Erdloch oder Astloch schlüpfen.

So war Sila zumute. Durch die Rückkehr an den Ort ihrer Kindheit und die Befreiung von den alten Erinnerungen war sie aus einem Loch geschlüpft und hatte ihre Flügel ausgebreitet. So viele Möglichkeiten lagen nun vor ihr. Sie musste nur noch die Richtung finden.

Für das Horn hatte sie ein Mundstück aus Holz geschnitzt und eine Aufhängung aus einem verzierten, ledernen Pferdegeschirr gestaltet, dessen Reste sie gefunden hatte. Morgens blies sie es an ihrem offenen Fenster. Der Ton wurde von Tag zu Tag stärker, je besser sie in Übung kam. Manchmal war ihr, als könne dieser Ton ihr dabei helfen, ihre Richtung zu finden. Er klang fragend. Doch es kam kein Hinweis zurück. Nicht einmal der Ziegenkopf verzog eine Miene.

Sila dachte oft an Lexi, an ihre Begeisterung für die Loosehöfe

 

Als Sila draußen Maskenbienen entdeckte und ihr damit bewusst wurde, dass die Zeit hier überraschend schnell verging und es bereits Mitte Juni war, fiel ihr ein, dass sie doch nach den Goldenen Schneckenhausbienen, ihren Lieblingsbienen, hatte sehen wollen. Deren Saison würde bald vorüber sein. Hinter der hölzernen Wand des überdachten Schutzraumes für Fahrräder, Schubkarren und dergleichen war das Sandarium gewesen, die trockene Sandgrube, in die Wanda Kalksteine und Schneckenhäuser verschiedener Größe gelegt hatte. Das war genau die Sorte Ort, welche diese Bienen benötigen. Es war dann immer Silas Aufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass genug Schneckenhäuser vorhanden waren. Manchmal stahlen die Elstern welche.

Jetzt musste sie verwilderten Fingerhut und Akelei beiseiteschieben, doch dann fand sie Reste der Grube. Trocken war es noch, weil das Holzdach etwas überstand, die Kalksteine waren noch da, und zwischen altem Laub auch einige

Am liebsten nisten die Bienen in den großen Häusern der Weinbergschnecke. Davon waren nur noch wenige unbeschädigte vorhanden. Sila musste unbedingt welche suchen. Zur Tarnung, so nimmt man jedenfalls an, kleben die Bienen Tupfen von Pflanzenmaterial daran. In die Gehäuse bauen sie Zellen für ihre Eier, winzige Kinderzimmer. In jede Zelle kommen Blütenpollen und obendrauf ein Ei. Dann wird sie mit einer Wand verschlossen, und es folgt die nächste. Auch von ganz außen wird die Öffnung des Schneckenhauses mit einer Art Pflanzenmörtel verschlossen. Dafür kauen die Bienen besonders gern Blattstückchen von Erdbeeren und Sonnenröschen. Wanda hatte welche in die Nähe gepflanzt; nach einigem Suchen fand Sila noch einige und befreite sie vom Unkraut. Wie schön es sein musste, von Erdbeeren und Sonnenröschen beschützt so lange zu schlafen, hatte sie früher gedacht und war ein wenig neidisch auf die Bienenkinder gewesen.

Außerdem besuchen die Schneckenhausbienen gern die Blüten von Schmetterlingsblütlern wie den Wicken. Schon deshalb hatten sie von jeher auf den Wickenhof gehört.

Gut, dass sie noch da waren. Sila schaffte behutsam das alte Laub beiseite, kürzte die Akeleien ein wenig, so dass wieder mehr Sonne einfiel, schüttete an den Rändern mehr Sand auf und genoss das beruhigende Gefühl, dass die Zeit manchen

Sie blickte auf eine Biene, die gerade dabei war, ein Schneckenhaus zu verschließen, so dass ihre Nachkommen möglichst sicher aufgehoben waren, bis sie im nächsten Frühling schlüpfen würden.

Das ist es, was ich will, dachte sie. Einen Ort der Geborgenheit für mich. Keinen viel zu großen alten Hof, dem ich nicht gerecht werden kann und dessen Geschichte in meinem Leben vor langer Zeit geschrieben wurde. Aber auch niemals wieder in der Stadt. Einen kleinen, gemütlichen Ort der Geborgenheit, an dem auch Indra und Oswin einen Platz haben, wenn sie ihn brauchen. Mit einem Blick in die Weite, gesunder Luft und einem überschaubaren Stückchen Grün, auf dem es blüht und die Bienen sich wohl fühlen. Mit einem Raum für eine kleine Werkstatt. Mehr nicht.

»Spätestens im September, wenn die Heidekraut-Sandbiene und die Efeu-Steinhummel fliegen, muss ich mich entscheiden«, sagte sie leise zu dem zarten Wesen, das so eifrig in der Grube arbeitete. »Sonst kehre ich wieder nach Berlin zurück, wenn die Tage kurz und dunkel werden, und falle in alte, bequeme Gewohnheiten zurück. Dann wird sich nie mehr etwas ändern, und ich habe die Chance verspielt, die Wanda mir gegeben hat.«

 

Die langen Sommertage flogen nur so vorbei. Hier gab es einfach so viel zu sehen, zu erleben, zu genießen und zu tun. Das hölzerne Wickenhof-Schild montierte Sila auf zwei Furniereisen, die sie draußen rechts vom Tor in die Erde schlug. Gut sah das aus! Nun würde jeder Interessent und Besucher sofort wissen, dass er sein Ziel gefunden hatte.

»Oh, Sila! Das ist ja wunderschön! Würdest du für unseren Hof auch so ein Schild machen?«, fragte Lisann, als sie es sah.

»Sehr gerne. Endlich mal was, was ich für euch tun kann.«

 

Diesmal gab Sila sich noch mehr Mühe, feilte tagelang daran herum, verlor sich in dieser Arbeit, die so sehr ihre war. Gut, dass Devin sie gedrängt hatte, die Brennstation mitzunehmen!

Auf einmal hatte sie Sehnsucht nach ihm. Und nach Indra und Oswin. Der Hof war ja nun vorzeigbar. Sie hatte sogar die von Feldsteinen umsäumten Blumenbeete mitten im Hof wiederaufleben lassen. Tagetes und Rittersporn, Gartenmohn und Lupinen blühten dort, nur das rostige Dreibein ärgerte sie noch immer. Sie hatte Martin bitten wollen, ihr beim Ausgraben zu helfen, aber der war gerade zu sehr auf dem eigenen Hof beschäftigt. Inzwischen flogen schon Seidenbienen, Hosenbienen und Zottelbienen. Bald war Juli, die Hauptzeit für Bienen. Auf den Feldern reifte der Mais.

Einmal fuhr sie allein mit dem Fahrrad zur Oder und blickte lange auf den Fluss. Dann rief sie Devin an. Die ganze Zeit hatte sie ihnen allen Bilder geschickt, von den Blumen, von der Obstwiese, vom Gemüsegarten.

»Ich habe das Gefühl, ich kenne all deine Kohlrabis beim Namen«, hatte Indra geschrieben. »Viel mehr Freude macht uns aber, dass du so gesund und fröhlich aussiehst.«

»Die Kunden fragen nach dir«, hatte Devin immer wieder gesagt. Anfangs hatte er hinzugefügt »Aber lass dir Zeit, du

Sila wich aus. Sie wusste die Antwort nicht. Sie wagte es nicht einmal, für ein oder zwei Tage nach Berlin zu fahren, aus Furcht, dort wieder hängenzubleiben. Stattdessen beschloss sie, ein Sonnwendfest auf dem Wickenhof zu feiern. Mit Devin, Indra, Oswin, mit Harry und natürlich Lisann und Martin.

Danach würde sie Harry bitten, die Suche nach einem Käufer zu verstärken.

Du kannst gehen, wohin du willst, hatte Lisann gesagt. Aber so einfach war es eben doch nicht.