Zwei Wochen später beobachtete Lexi, wie geschickt und konzentriert Linnea in Valentinas Garten und drum herum ihren versprochenen Beitrag drehte.
Wie sie den alten Stein von der Burg ins Visier nahm, dann das Tor mit dem Reh. Erst aus einer Perspektive, dann der anderen. Wie sie eine Wolke abwartete oder einen Ast beiseiteklemmte, um die Beleuchtung zu verändern. Dann in den tiefen Schatten trat, um auf dem Display die Szene zu überprüfen, nur um sich im nächsten Augenblick auf etwas Neues zu stürzen. Sie schien einen genauen Plan im Kopf zu haben, dem sie folgte. Dabei konnte sie zuhören, Anweisungen geben, Fragen stellen und mit dem Handy hantieren, alles auf einmal.
Wenn Lexi doch selbst auch so genau wüsste, wie es weitergehen sollte!
Die Tour durch die Inselgärten hatte ihr gutgetan. Jonne hatte recht gehabt. Mal etwas anderes sehen, erleben, wie unter den Händen Gleichgesinnter aus Träumen Pläne und aus Plänen Wirklichkeit wurde. Und doch konnte sie sich selbst seitdem auf gar nichts konzentrieren.
Jonne meldete sich nicht. Warum nur? Er hatte sie doch gebeten, ihm mit dem Bau eines Drachens zu helfen! Allerdings hatte er nicht gesagt, wann. Doch es waren ja nur noch ein paar Monate bis zum Drachenfestival im Herbst. Hatte Lexi sich so sehr getäuscht? Sie war sich sicher gewesen, dass er die gemeinsame Zeit ebenso schön gefunden hatte wie sie. Und nun – nichts! Eine kurze belanglose Nachricht, mehr nicht.
Mehrfach hatte sie schon zum Hausboot hinüberspazieren wollen. Aber dann musste sie an einem Wochenende nach Berlin zu Wolfgangs Hochzeit. Ohne ihre Eltern, natürlich. Alle ihre Vermittlungsversuche hatten Kraft gekostet und nichts gebracht. Dafür war die Feier ohne deren Anwesenheit herrlich unbeschwert.
»Ich bin so froh, dass ich dich habe, Schwesterlein!«, hatte Wolfgang gesagt und sie lange umarmt. »Und Alika ist jetzt auch deine Schwester. Und du wirst Tante. Das ist doch mal eine Familie, was?«
Lexi war sehr bewegt gewesen und musste das erst einmal verdauen. Gleich danach drängte die Vorbereitung für den Dreh mit Linnea, die viel schneller als erwartet loslegen wollte. Außerdem standen die Sommerferien bevor. Zeugnisse mussten geschrieben werden, es gab Lehrerkonferenzen und Elterngespräche. Die Kinder waren unruhig. Es blieb einfach keine Zeit. In den Ferien, ja dann … aber Lexi wusste gar nicht, was sie dann machen würde.
Wenn sie sich durchlas, was sie auf die E-Mails von Sila, der Mondbiene, antwortete, klang sie kompetent und gelassen – aber sie fühlte sich nicht so.
Ich habe nicht mehr gewusst, dass Gärtnern so glücklich macht, egal wie es einem gerade geht, schrieb Sila. Wanda, von der ich dir erzählt habe, hat es mich schon gelehrt, als ich gerade laufen konnte, und jeden Tag danach, bis wir fortmussten. Sie hat es mir einfach vorgelebt, und ich habe es nachgemacht. Bald wusste ich: Egal, was gerade Schlimmes passiert, mit den Händen in der Erde wird man wieder ganz. Dann, wenn es nach Regen riecht oder du die Sonne wie eine zärtliche Berührung auf dem Nacken spürst, wenn Heu geerntet wird, wenn du Äpfel pflückst, Möhren ziehst oder Blumenkränze windest und dich selbst zur Prinzessin in deinem grüngoldenen, duftenden Reich machst. Dann wird alles erträglich, alles neu. Dann findest du eine Antwort auf alles, und sie ist so einfach.
Die Bienen wissen das. Sie fliegen von Blüte zu Blüte, folgen dem Duft und sammeln nur, was sie brauchen. Sie tanzen, um den anderen davon zu erzählen. Oder nur für sich, weil sie sich auf den Himmel von morgen freuen.
Das klingt wie ein Märchen, nicht wahr? Und doch ist es die Wirklichkeit. Ich bin entschlossen, das nicht wieder zu verlieren wie schon einmal. Darum träume ich von einem Ort, wo ich so leben kann. Doch er muss einfacher sein als dieser riesige, unübersichtliche Hof, der überwältigend schön ist, aber eben auch überwältigend groß. Er birgt auch zu viel Vergangenheit für mich, obwohl ich meinen Frieden mit ihr gemacht habe. Aber die Schatten werden immer da sein. Für jemand anderen wäre das nicht so. Bienen schwärmen aus und suchen einen neuen Ort. Das werde ich auch tun, sobald ich weiß, was hiermit geschieht.
Liebe Sila, danke für diese Worte, schrieb Lexi zurück. Du hast völlig recht. Es hat mich daran erinnert, was ich mir früher von Pia abgeguckt habe, so wie du von Wanda. Gärtnern macht glücklich, ja. In all meiner Beschäftigung mit Pädagogik habe ich vergessen, wie einfach es ist, dabei wollte ich doch genau das den Kindern zeigen. Zeigen, nicht beibringen! Darauf werde ich mich wieder besinnen.
Nur dass gerade jetzt gar nichts einfach schien. Remy hatte sich noch nicht gemeldet, also hatte sie wohl bisher von nichts Geeignetem gehört.
Und was war nur mit Jonne? Sie hätte so gern weiter mit ihm über ihr Problem gesprochen und dabei seine beruhigende, heitere Gegenwart gespürt.
»Lexi! Lexi?« Linneas Stimme drang durch ihre Gedanken. Schuldbewusst blickte Lexi auf. Linnea, die ihr zugewinkt hatte, den Topf mit der Tomate ein Stück nach rechts zu tragen, ließ ihr Handy sinken und kam zu ihr herüber. »Wollen wir uns einen Moment setzen?«, fragte sie. »Es ist so schön in diesem Garten. Ich habe schon viele Gärten im Laufe meiner Arbeit gesehen, aber dieser ist etwas ganz Besonderes.« Sie ließ sich gemütlich zwischen die Kissen in der Schaukel nieder und sah sich sichtlich erfreut um. »Man fühlt sich einfach geborgen. Vielleicht, weil er so klein ist, aber sicher liegt es auch an seiner Geschichte. Er war ja immer ein Zufluchtsort, seit Valentina ihn dazu bestimmt hat, dass er an jemanden weitergegeben wird, der ihn braucht.« Linnea recherchierte gründlich. Auf ihre Bitte hin hatte Lexi ihr Scans von den wichtigsten Stellen aus den alten Büchern geschickt.
»Ja, das könnte sein.«
Linnea warf Lexi einen Blick zu und sprach weiter. »Auf Hiddensee, im Lesegarten, da ist es anders. Das ist auch ein Ort der Geborgenheit, aber er ist eher als Rahmen gedacht. Er steht nicht selbst im Mittelpunkt. Man soll dort nur ungestört sitzen können und schweigen oder lesen, eintauchen in die Welten zwischen Buchdeckeln. Hier ist es anders. Hier will man gar nicht lesen. Man möchte einfach nur da sein. Sich umsehen, hören, riechen. Genießen. Man selbst sein dürfen, ohne dass jemand einen ändern möchte, Forderungen stellt oder woandershin drängt. Und man möchte dazu beitragen, dass es so bleibt, noch für ganz viele Menschen, die nach uns kommen.«
Lexi, die aus ihrem Grübeln einfach nicht herauskam, setzte sich mit einem Ruck auf. »Genau! Linnea, genau so ist es, und es ist wunderschön, aber ebendas ist auch mein Problem. Ich habe diesen Garten mal gebraucht. Aber nun bin ich nicht mehr die Richtige dafür. Ich brauche etwas anderes.«
»Warum ist das ein Problem? Gib ihn weiter. So soll es doch sein.«
»Ja, das hat Jonne auch gesagt.«
»Wo ist der eigentlich?«, erkundigte sich Linnea und sah sich um, als hätte Lexi ihn hinter dem Rankgitter für die Gurken versteckt. »Ich fand ihn ausgesprochen sympathisch und interessant.«
Lexi zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Was kommt als nächste Szene?«
»Verstehe.« Linnea stand auf. »Ich dachte, wir zeigen den Blick vom Dach. Ich filme den Kürbis, und du erzählst von den Kindern, die ihn gepflanzt haben.«
»Okay.« Lexi stellte die Leiter ans Dach und musste dabei prompt wieder an Jonne denken, mit dem sie da oben gesessen hatte. »Ziepeltrine«, schimpfte sie mit sich selbst.
»Wie bitte?«, sagte Linnea und lachte los. »Das habe ich zuletzt während meines Studiums in Hamburg gehört. Das heißt so viel wie Heulsuse, richtig?«
»Ja. Hat mein Vater oft zu mir gesagt.«
»Es klingt viel netter als Heulsuse«, meinte Linnea. »Oh, was für ein besonderer Platz hier oben!« Linnea blickte sich auf dem Dach um. »Das nehme ich gleich als erste Szene für den Beitrag. Das ist unwiderstehlich.« Sie begann, die Zitronenfalter an den Kürbisblüten zu filmen und dann die Früchte, die sich schon beeindruckend rundeten, vor dem blauen Horizont mit den Möwen. »Ich freue mich übrigens schon sehr auf unsere spätere Zusammenarbeit, wenn ich deine pädagogischen Projekte begleiten und in die Schulen senden darf.«
»Wenn daraus jemals etwas wird.«
»Ich weiß, dass es etwas wird. Ziepeltrine!«, sagte Linnea über die Schulter und grinste.
Liebe Lexi, kennst du eine Unterkunft, in der ich auf Fehmarn ein oder zwei Wochen mit zwei alten Leuten bleiben könnte? Ich möchte dich gern besuchen und deinen Garten sehen, wenn es dir recht ist, und den beiden einen kleinen Urlaub am Meer schenken. Ich weiß nur noch nicht, wann und wie ich hier fortkann. Es hängt alles davon ab, wann sich ein Käufer oder wenigstens ein Pächter findet. Mein Anwalt ist im Kontakt mit einem Makler, aber alles ist schrecklich ungewiss. Liebe Grüße, Sila.
In Lexi breite sich erwartungsvolle Freude aus. Das war die Antwort auf die drohende Leere in den Sommerferien! Sila erinnerte sie so an Pia. Sie könnten viel über Gärten reden, und Sila würde vielleicht Rat wissen.
Ihr könnt sehr gern hier wohnen. Es gibt genug Zimmer, auch wenn sie nicht groß sind. In den Ferien habe ich keine Kinder, die sind alle mit ihren Eltern unterwegs, schrieb sie. Ich freue mich!
Dann begannen die Ferien. Lexi atmete durch. Sie räumte die Schulunterlagen für eine Weile weg, erledigte im Garten, was getan werden musste, und spazierte dann den Strand entlang. Sie kaufte sich ein Eis und bahnte sich einen Weg zwischen den unzähligen Familien, die dort Sandburgen bauten, Strandmuscheln aufstellten und Luftmatratzen ins Wasser schoben.
Für eine Weile kam sie sich selbst vor wie ein Kind, dessen Sommerferien gerade begonnen hatten, aber je länger sie durch die Menge spazierte, desto einsamer fühlte sie sich. Sie wanderte bis zum Café Sorgenfrei und kaufte sich dort ein Stück Schokoladentorte. Mit dem Teller auf den Knien saß sie auf den hölzernen Stufen und blickte über das Wasser, sah ein Schiff nach dem anderen vom Hafen her hinausfahren zu dem lockenden Horizont, der im Sommerdunst so unwirklich aussah wie der Eingang zu einem Land der Träume. Um sie herum schnatterte und lachte die Menschenmenge. Als sie fertig war, brachte sie den Teller zurück und folgte dem Weg an der Bucht bis zum Hafen. Dann die Mole entlang bis zur äußersten Spitze, wo die Hausboote verankert waren. Sie wagte sich an dem Schild vorbei, welches besagte, dass nur Mieter der Hausboote den Steg betreten durften, und klopfte an Jonnes Tür. Schweigen. Verlassen schaukelte das Boot auf dem Wasser.
»Ich bin so dumm«, sagte Lexi zu den metallenen Möwenskulpturen auf dem Felsen am Ufer, die so gemütlich rund und gute Zuhörer waren.
Natürlich, warum sollte er auch mitten am Tag hier sein, als hätte er auf sie gewartet. Er arbeitete schließlich! Er hatte keine Ferien. Ganz im Gegenteil, der Laden hatte jetzt Hochkonjunktur. Badematten, Handtücher, Sandförmchen und Drachen gingen über den Tisch wie nie. Sie würde abends wiederkommen. Wenn sie dann noch den Mut dazu hatte.
Zurück in Valentinas Garten zupfte sie eine Stunde lang Unkraut, aber das half ihr auch nicht, ihre Unruhe zu bekämpfen. Kurzentschlossen stieg sie ins Auto und fuhr nach Burg. Sie mochte die kleine Stadt mit den eng aneinandergelehnten uralten Backsteinhäusern und der entspannten Stimmung. Sie spazierte einmal um die solide Kirche, die immer beruhigend auf sie wirkte, berührte die dicken alten Mauern und schimpfte dann mit sich selbst, weil sie die Zeit nur vertrödelte. Jetzt war sie einmal hier, jetzt konnte sie auch ihrem ursprünglichen Impuls folgen.
Kneifen gilt nicht, hörte sie Pia sagen.
Sie musste Jonne sehen. Unbedingt. Egal, was dabei herauskam.
»Wie im Flug« hieß der Laden, in dessen Schaufenster die Drachen zwischen aufblasbaren Bällen, Strohhüten und Buddeleimern prangten. Sila folgte einer Familie mit drei Kindern hinein. Sie sah sich um, bis sie schließlich den Verkaufstresen fand, hinter dem eine blonde Frau die Kasse klingeln ließ.
»Entschuldigung, ist Jonne Trynoga da?«, fragte Lexi. Ohne aufzusehen, winkte die Frau in Richtung einer halboffenen Tür hinter sich, als ob sie ständig Ströme von Besucherinnen in Jonnes Richtung dirigieren müsste. Lexi drückte sich hastig an ihr vorbei, auch um dem Gedränge und der Enge zu entkommen.
Hier war mehr Platz, wenn auch nicht viel. Es schien sich um eine kleine Werkstatt zu handeln. Überall an der Decke hingen Drachen, an den Wänden stapelte sich Materialien, und in der Mitte stand Jonne über einen Tisch gebeugt, eine große Schere in der Hand. Da die Tür offen gewesen war und die Stimmen aus dem Laden bis in die Werkstatt schwappten, hatte er Lexi nicht kommen gehört.
Sie stand eine Weile da und betrachtete ihn. Seine Schultern unter dem sonnengebleichten blauen T-Shirt, seine Haare, die über dem rechten Ohr grundsätzlich mehr abstanden als über dem linken. Die Konzentration, die aus seiner ganzen Haltung sprach. Die Mischung aus heiterer Jungenhaftigkeit und konzentriertem Ernst, die man ihm sogar von hinten ansah. Lexi wusste jetzt wieder ganz genau, warum sie gekommen war.
»Hallo, Jonne«, sagte sie.
Er erstarrte einen Augenblick, dann richtete er sich auf und wandte sich langsam um. »Lexi!«
Das hatte sie auch vermisst. Seine Stimme. Irgendetwas darin stellte ihre Welt immer wieder auf die Füße. Einen langen Augenblick rührten sich beide nicht. Endlich schloss Lexi die Tür hinter sich, ging auf Jonne zu und nahm ihm die große Schere aus der Hand. Dann legte sie ihm die Arme um den Hals, stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn.
Es erschien ihr eine Ewigkeit, bis er seine Arme auch um sie schloss, dafür jetzt umso fester.
»Ich habe dich so vermisst«, sagte er gedämpft in ihre Schulter, als der Kuss endete.
»Ich dich auch. Heute konnte ich nicht mehr warten.« Lexi lehnte sich zurück und sah ihn an. »Warum? Warum hast du dich nicht mehr gemeldet?«
Er schob sie zu einem Stuhl, setzte sich und zog sie auf seinen Schoß. »Ich wollte ja! Du hast ja keine Ahnung, wie sehr. Aber dann kamen mir alle diese Zweifel! Ich weiß, dass ich hier nicht bleiben werde, und ich will dir nicht weh tun. Und ich darf deinen Plänen nicht im Wege stehen. Du sollst frei sein, deinen Weg zu finden, gerade jetzt, wo das so wichtig für dich ist. Außerdem habe ich keine Ahnung, wie meine eigene Zukunft aussehen wird. Ich fand, es sei nicht fair dir gegenüber, dich jetzt in eine so ungewisse Beziehung zu verwickeln.«
»War das alles?« Lexi war unendlich erleichtert und fuhr ihm durch die Haare. Endlich durfte sie die berühren. »Ich wusste gar nicht, dass du so auf Sicherheit bedacht bist.«
»Ich auch nicht. Vor allem will ich nicht zu einem Hindernis für dich werden.«
»Das ist lieb von dir. Das Problem ist nur, es ist ein viel größeres Hindernis für mich, wenn du nicht bei mir bist und ich nicht mit dir über meine Zukunft sprechen kann. Und über sonst noch so einiges.«
»Wenn das so ist, dann ist es gut. Mir geht’s nämlich genauso.« Diesmal küsste er sie zuerst.
»Wolltest du nicht, dass ich dir mit einem Glühwürmchendrachen helfe?«, fragte Lexi dann.
»Natürlich! Würdest du ihn dir ansehen und auf biologische Korrektheit überprüfen? Ich bin schon ziemlich weit, aber ich konnte mich nicht recht konzentrieren, weil ich immer an dich denken musste.«
»Das hättest du einfacher haben können.« Lexi inspizierte interessiert den Drachen, den er vor ihr auf den Tisch ausbreitete. Im Glück des Moments hatte sie das Gefühl, sie könnte auch eigenhändig ein Flugzeug bauen.
»Das Problem ist, dass sie eine relativ große Leuchtfläche am Hinterteil haben«, erklärte Jonne. »Aber eine größere Leuchte wäre zu schwer. Daher habe ich den Hinterleib aus einer reflektierenden Folie gemacht, so wie man sie im Straßenverkehr verwendet. Aus einer Warnweste. Es ist nur eine ganz leichte Lichterkette darunter gespannt. Das funktioniert ziemlich gut. Aber irgendetwas stimmt noch nicht.«
»Ja, die Augen sind viel zu klein und die Fühler zu kurz«, stellte Lexi fest.
»Ist das alles? Na, das kann ich leicht beheben. Gut, dass du da bist. Ich brauche wohl ganz dringend eine Lehrerin in meinem Leben.«
»Auch eine ratlose?
»Auch. Das passt im Augenblick gut zu mir. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass ich im Herbst hier beim Drachenfestival mitmachen werde. Mit meinem Team trainiere ich eine Synchronnummer ein, und wir werden auch tagsüber hier ganz viele Drachen zeigen. Die nächtliche Show am Ende ist der Höhepunkt. Danach enden auch die Saison und mein Vertrag hier.«
»Dann weißt du immerhin schon mehr als ich. Ich hoffe darauf, dass Remy vielleicht tatsächlich einen Betrieb findet, in dem ich einige meiner Ideen verwirklichen kann, einen landwirtschaftlichen oder sozialpädagogischen, weiß der Himmel. Und vielleicht stößt sie ja sogar auf jemanden, der meinen Garten braucht.« Lexi betrachtete eine Rolle bunter Folie. »Es ist wie mit dem Horizont über dem Meer, wenn er so dunstig ist. Man hat eine Ahnung, dass gleich etwas Bedeutendes dahinter auftauchen wird, aber man weiß nicht, was.«
Jonne nahm sie in den Arm und küsste sie erneut. »Dann lass uns einfach die Sommertage genießen und darauf vertrauen, dass wir den richtigen Weg finden.«
»Zusammen? Das macht es wahrscheinlich noch schwieriger.« Aber trotz ihrer Worte hatte Lexi das Gefühl, dass für den Moment ihre Probleme wesentlich unbedeutender geworden waren.
»Auf jeden Fall zusammen. Jetzt lasse ich dich nicht mehr los!«, erklärte Jonne.
Den Rest des Nachmittags arbeiteten sie an dem Drachen, bis Lexi zufrieden war.
»Kommst du mit aufs Hausboot?«, fragte Jonne zärtlich und ein wenig verlegen.
Lexi schüttelte den Kopf. »Sonst immer gerne. Aber ich möchte dir unbedingt etwas zeigen. Bei mir. Vielleicht wissen ja die Götter, wie es mit uns weitergeht.«
»Welche Götter?«, fragte Jonne belustigt.
»Meine Götter. Du wirst schon sehen.«
Als draußen über dem Meer der Erntemond aufging, eine helle Brücke über das Meer warf und sogar die großen Kürbisse, die auf dem Dach reiften, in eine geheimnisvolle Farbe tauchte, bemerkten Lexi und Jonne nichts davon. Denn sie saßen zusammen vor dem Aquarium und sahen den Seepferdchen dabei zu, wie sie in der blauen Dämmerungsbeleuchtung umherzuschweben schienen. Ihren winzigen Flossenschlag sah man kaum.
»Ich kann verstehen, dass Pia sie nach alten Göttern benannt hat«, sagte Jonne ehrfurchtsvoll. »Seepferdchen sind sowieso so erstaunliche Wesen, und hier in diesem Licht wirken sie direkt überirdisch. Es liegt ein Zauber in ihnen.«
Er zog Lexi an sich, während Aton und Isis aus den Pflanzen auftauchten, sich in einem langsamen Liebestanz umkreisten und dann innig ineinander verschlungen zur silberglänzenden Wasseroberfläche emporstiegen.