Meinungen

Das Gluckern der Espressomaschine beruhigte Sila ein wenig. Es war so vertraut. Zusammen nach dem Essen Espresso zu trinken und dabei über wichtige Dinge zu reden war eine liebgewordene Gewohnheit zwischen Devin und ihr. Ganz unabhängig von irgendwelchen Nicoles oder ihren eigenen Freundschaften.

Als sie aus der winzigen Kaffeeküche ins Zimmer zurückkehrte, steckte er die Papiere gerade sorgfältig zurück in den Umschlag. Er sah nachdenklich aus. »Danke.« Mit Genuss schnupperte er an seiner Tasse, auch eine Geste, die sie mochte. Devin verstand es zu leben, die kleinen Dinge zu genießen.

Genauso, wie Sila es zuerst von Wanda gelernt hatte. Das wusste sie jetzt wieder. In der schweren Zeit hatte sie es nur vergessen. Oder einfach nicht gekonnt. Sie war Devin dankbar, dass er sie immer wieder daran erinnerte.

»Und wie geht es dir jetzt?«, erkundigte er sich und sah sie forschend an.

»Ich weiß nicht.«

»Wenn es dir zu viel ist, könnte ich mich darum kümmern. Oder du bittest Wandas Anwalt, diesen Herrn Hoffmann, es zu tun. Auch wenn er gehbehindert ist, kennt er bestimmt jemanden, den wir beauftragen können, den Hof herzurichten und so bald wie möglich zu verkaufen. Oder zu verpachten, wenn dir das lieber ist.«

Devin nahm einen Schluck. »Ich denke aber, es ist besser für dich, das selbst zu tun. Es könnte dir dabei helfen, mit alldem abzuschließen. Du konntest dich damals gar nicht richtig verabschieden. Und diese Wanda hat dir etwas bedeutet, stimmt’s? Ich merke es dir doch an.«

»Ja.« Wie gut er sie kannte! »Würdest du mir das denn zutrauen? Das alles hinzukriegen?«

»Ja, sicher. Du dir nicht?«

»Na ja. Geschäftstüchtigkeit ist nicht gerade meine Stärke. Und ich werde nicht objektiv sein können. Dafür ist es dann doch zu persönlich. Auch nach all den Jahren. Nein, gerade nach all den Jahren«, verbesserte sie sich.

»Das kann auch von Vorteil sein. Und was das Geschäftliche angeht, kannst du dich von dem Herrn Hoffmann beraten lassen. Der kennt sich da aus mit Grundstückswerten und Immobilien, wenn er dort lebt.«

Sila musste lächeln. »Immobilie! Das ist ein merkwürdig unpassendes Wort für den Wickenhof.«

»Wenn es dich wieder zum Lächeln bringt, passt es doch.« Er schmunzelte selbst. Wenn er so aussah, wirkte er liebenswert lausbubenhaft. Dann kam Sila sich manchmal vor, als wäre sie die Ältere von ihnen beiden.

Dennoch – sie war so große Entscheidungen nicht gewöhnt. Tatsächlich hatte sie sich viel zu lange vor allerlei Derartigem gedrückt. Wahrscheinlich war es richtig gewesen von Wanda, Sila endlich aus ihrer Komfortzone herauszuzwingen. Das hatte sie früher auch immer getan. Sila war es, als hörte sie Wandas Stimme. Eine Altstimme, warm und etwas kratzig. Natürlich kannst du über den Zaun klettern, Mädchen, streng dich an! Oder:

»Würde es dir helfen, wenn wir zusammen hinfahren?«, fragte Devin.

»Ich weiß nicht. Das ist lieb von dir. Ich muss darüber nachdenken.«

»Natürlich. Aber vermutlich besser nicht zu lange. Dieser Herr Hoffmann ist alt. Sicher ist das eine Belastung für ihn. Er will den Wunsch Wandas erfüllen und dir die Sache übergeben, und es ist nicht gut für ein Haus, wenn es lange leer steht. Es verkommt rasch und verliert schnell an Wert. Also, wenn du meinen Rat möchtest, schieb es nicht zu lange auf. Das hilft nicht und belastet dich nur. Vielleicht magst du mit deiner Cousine darüber sprechen. Mein Angebot steht jedenfalls.«

»Danke. Du hast recht, ich werde mit Mine darüber reden.« Nuras Mutter war im Gegensatz zu Sila tatsächlich eine Geschäftsfrau. Eine gute. Schließlich führte sie den Feinkostladen ihres Vaters inzwischen als gleichberechtigte Partnerin mit und war sozusagen darin aufgewachsen. »Dann kann ich auch gleich einkaufen. Der Kühlschrank ist leer.«

 

»Geschäftsfrau vielleicht, aber von Immobilien habe ich absolut keine Ahnung«, erklärte Mine später, während sie die Oliven abwog. »Danke übrigens, dass du Nura mal wieder mit den Hausaufgaben geholfen hast. Wie mir früher. Ohne dich wäre gar keine Geschäftsfrau aus mir geworden.«

»Glaub ich nicht. Du bist so tüchtig. Anders als ich weichst du nie einer Entscheidung aus oder schiebst sie auf.«

»Diesen Käse hier kann ich heute empfehlen. Koste mal.« Mine hielt Sila ein Stück auf einer Gabel entgegen. »Also, in

»Anwesen! Wieder so ein Wort, das überhaupt nicht zum Wickenhof passt. Der Käse ist megalecker. Gib mir bitte das größere Stück da.«

»Sila, ich kann das nicht beurteilen. Das war vor meiner Zeit. Ich war nie dort.« Das stimmte. Mine war zehn Jahre jünger als Sila. »Ich kann höchstens Vater fragen, ob er einen Immobilienmakler kennt«, bot Mine an.

»Danke. Vielleicht komme ich darauf zurück.«

 

Für den Käse hatte sich das Gespräch schon gelohnt, dachte Sila auf dem Heimweg, aber ansonsten hatte es nicht viel gebracht. Sie würde besser die beiden Menschen fragen, die ihr über die Jahre so etwas wie ein Elternersatz geworden waren. Die zwei hatten immer einen Rat für sie. Sie waren so etwas wie ihre guten Geister. Vielleicht waren sie inzwischen oben bei der Arbeit.

Aber die Werkstattetage war immer noch verwaist, und auch Devin war fort. Bin bei einem Kunden, dann beim Skat. Heute Abend spät zurück, stand auf einem Zettel.

 

In dieser und manch anderen Gegenden der Stadt kam es häufig vor, dass mehrere Künstler oder kleine Gewerbe sich eine Etage teilten, um dort zu arbeiten. Jeder hatte seinen Platz, mal abgeteilt, mal nicht. Man half einander, regte sich an und trank zusammen Kaffee. Ideen verschiedenster Menschen in verschiedenem Alter und von verschiedener Herkunft befruchteten sich gegenseitig. So war es auch in diesem Haus am Ufer der Spree. Hier war es Devin gewesen, der vor Jahrzehnten die

Und als Sila dazukam, hatte es von Beginn an gepasst, als wäre sie das fehlende Puzzleteil gewesen.

 

Sila räumte die Lebensmittel weg. Die Sonne hatte die Räume erhitzt. Sie öffnete die schmale Tür und trat hinaus auf den engen Balkon. Der Lerchensporn und die Narzissen, die sie in die Kästen gepflanzt hatte, blühten jetzt. Ebenso der Löwenzahn, den sie absichtlich nicht aus den Rissen in den Fliesen gezogen hatte. Sie beobachtete die Bienen, die sich eifrig am Nektar bedienten, und stellte erfreut fest, dass sich unter den zahlreichen Honigbienen eine Weidensandbiene befand. Sie sonnte sich auf dem warmen Geländer. Unten am Ufer standen genug Weiden, bestimmt kam sie von dort und ruhte sich hier nur aus. Der Hinterleib des zarten Wesens war von elegantem Schwarz, obenherum glänzte ihr weißer Pelz in der Sonne.

Es gab neuerdings viel zu viele Honigbienen in der Stadt, seit es unter größeren Firmen und Hotels Mode geworden war, Bienenvölker auf dem Dach zu halten und eigenen Honig zu produzieren. Der wurde dann als Werbegeschenk auf

Auf dem Land war es noch viel schlimmer, aufgrund von Monokulturen, Überdüngung und Pestiziden. Natürlich gaben sich bereits viele Betriebe große Mühe, Blühstreifen anzulegen und möglichst naturnah zu wirtschaften. Aber es waren noch längst nicht genug. Kein Wunder, dass Wanda sich Sorgen gemacht hatte.

Auf dem Balkon ein Stockwerk tiefer klirrten leise Gläser. Der Klang erinnerte Sila an das Windspiel, das Wanda damals gebaut und in den Birnbaum gehängt hatte. Wanda hatte übriggebliebene Metallröhren zurechtgeschnitten, Löcher hineingebohrt und in zwei ineinanderliegenden Kreisen an ein altes Wagenrad gehängt. Ein schweres Zahnrad diente als Klöppel, an dem unten ein großer Windfänger aus Blech baumelte. Alle behaupteten, das Ganze wäre zu groß, um zu funktionieren. Doch Wanda lächelte nur. Sie behielt recht. Der Wind fegte oft genug über die offenen Flächen des Oderbruchs und brachte den kleineren, inneren Kreis der Röhren mit Leichtigkeit zum Klingen. Wenn im Frühjahr und im Herbst die Stürme kamen oder im Sommer Gewitterböen, dann sangen auch die äußeren, langen Röhren in tieferen Tönen ein Lied von der einsamen, weiten Landschaft. Die Klänge erzählten wortlos von den bizarren Kopfweiden und dem Fluss, der die Wiesen im Frühling mit

Sila hatte ein kleines Windspiel hier auf dem Balkon aufgehängt, als sie neu dazugekommen war. Doch die Nachbarn beschwerten sich. Zu laut. Sie musste es entfernen. Nun hatte sie seit Jahrzehnten nicht mehr daran gedacht.

Wandas Brief aber hatte die Erinnerung an jene Klänge in ihr geweckt, so frisch und lebendig wie einst. Sila war es, als müsste sie sich nur umdrehen und könnte hören, wie Wanda von draußen rief: »Kommst du, Kind? Wir müssen uns um die Erdbeerpflanzen kümmern, es wird Zeit …«

»Bist du da draußen, Sila?«, kam tatsächlich eine Stimme. »Es zieht! Sollen wir heute grünen oder weißen Tee kochen?«

Sila fuhr zusammen und musste einen Augenblick lang ihre Gedanken sortieren. Es war nicht Wanda, natürlich nicht. Es war Indra, die jetzt in der Werkstatt stand und Sila fragend ansah. Indra, die selbst mit ihren zweiundneunzig Jahren noch eins achtzig maß und mit ihrem schneeweißen Igelhaarschnitt stets hellwach und unternehmungslustig wirkte. Der Rollator, den sie benutzte, hauptsächlich weil sie ihn bei der Arbeit zum Sitzen praktisch fand, passte überhaupt nicht zu ihr. Er sah in ihren Händen aus wie ein Spielzeug. Indra hatte Sila bei der ersten Begegnung tatsächlich ein wenig an Wanda erinnert, nicht nur ihrer Größe und Haltung und Energie wegen.

Indra arbeitete ebenfalls mit Metall, allerdings auch mit Peddigrohr, Reispapier, Kunststoff und Kabeln. Sie konstruierte hauptsächlich humorvolle Stehlampen, die aussahen wie menschliche Gestalten oder Comicfiguren. Sie verkauften sich glänzend, denn sie waren funktional und strahlten dabei eine Art schwerelosen Humor aus. Ihr neuestes Werk war eine Figur,

»Grünen Tee. Ich bring ihn dir gleich«, entschied Sila. Indra brauchte ihren Tee bei der Arbeit, und sie hatten es zum Ritual gemacht, dass Sila ihn zubereitete und eine Tasse mittrank. »Geht es dir gut?« Unvorstellbar, dass Indra eines Tages nicht mehr da sein würde.

»Was denn sonst? Kennst mich doch. Aber was ist mit dir?« Indra musterte Sila mit ihrem scharfen Blick unter buschigen Brauen. »Du hast Wolken auf der Stirn.«