Henrik

Er stand neben dem Tor, als Sila hinausging, um zu sehen, ob die Post schon da gewesen war. Eine hohe Stirn, in nachdenkliche Falten gezogen, dunkle Haare mit einigen wenigen silbernen Fäden darin, beginnende Geheimratsecken und klare graublaue Augen. Er sah Sila nicht, so sinnend betrachtete er den Hof, der in einem fast unwirklichen Sommerglühen und einer Duftwolke vor ihm lag. Sila hielt den Mann erst für eine Erscheinung aus ihren Gedanken, in die sie gerade noch im Gemüsegarten versunken gewesen war.

 

Es hatte sie früh hinausgezogen, als noch der Tau auf dem Gras funkelte. Bald wurde es Zeit, die Wiese zu mähen. Martin hatte sich dazu bereit erklärt. Eine Wiese blieb nur eine Wiese, wenn man sie auch rechtzeitig mähte. Die Blumen hatten sich längst ausgesät, und auch das Heu durfte nicht verschwendet werden. Martin konnte es für sein Vieh gut gebrauchen. Dennoch tat es Sila jedes Mal weh, genau wie damals. Aber es dauerte ja nicht lange, und alles blühte erneut. Heute genoss sie noch einmal das Tanzen der zarten Blüten und Samen auf der Streuobstwiese und überall, wo sie nur hinschaute. Auf den Feldern würde bald geerntet werden. Und es war ein gutes Apfeljahr.

Dann war sie in den Gemüsegarten gegangen. Sie aß zurzeit fast nur noch frisch geerntete Gurken, Radieschen, Mohrrüben, Salat, Tomaten und was noch alles wuchs. Sila hatte sich

Jeden Morgen kam sie hierher, um die Früchte zu ernten. Auch heute hatte sie ihren Korb gefüllt, ihn in den Schatten gestellt und sich dann auf einen Baumstamm gesetzt, der einer ihrer Lieblingsplätze war. Dann hatte sie ihren Freunden zugesehen, wie sie in den Zucchiniblüten herumsummten. Zwölf Bienenleben brauchte es, um einen Teelöffel Honig herzustellen. Wie viele Menschenleben waren nötig, um einen Frieden zu erkaufen?

Sie hatte noch immer nichts von der Dienststelle gehört, die die Gefallenen identifizierte und die Angehörigen benachrichtigte. Nach über siebzig Jahren konnte man wohl nicht erwarten, dass das schnell ging. »Da musst du Geduld haben«, hatte Martin gesagt, und Lisann meinte, auf ein paar Wochen käme es ja nicht an.

Aber Sila musste ständig daran denken, schließlich ging sie täglich an der Fundstelle vorbei. Sie würde sich auch noch überlegen müssen, was sie jetzt mit der Grube und den herumliegenden Steinen anfangen wollte. Auch das alte verbogene Metallgestell lag noch da. Doch sie fühlte sich in dieser Sache seltsam gelähmt. Sie wusste noch immer kaum mehr über Annas Soldaten als das, was im Heft stand. Er hat Annas Taschenmesser bei sich gehabt, als er fiel. Wem aber hatte wohl die Uhr gehört? Und was hatte der Ring zu bedeuten?

Es gab so viele Hinweise! Da konnte es doch nicht sein, dass sie gar nichts herausgefunden hatten. Lag es an ihr, weil sie das Heft nicht dazugegeben hatte? Sila beschloss, es noch nachzuliefern. Sie konnte angeben, sie hätte es erst jetzt gefunden. Sie

Über die Wasseroberfläche des Regenfasses huschten Wasserläufer, unscheinbare Insekten mit vier langen und zwei kurzen Beinen, die so leicht waren, dass sie auf der Oberfläche laufen konnten. Die vier Füße verursachten nur vier kleine Dellen in der Oberfläche. Am besten erkannte man diese Wesen an ihrem Schatten, der wie eine Blume aussah, die über den Sand am Boden huschte.

Sie sind so leicht, dass sie nicht versinken, dachte Sila. Ich möchte einen Ort finden, wo ich mich genauso leicht fühle! Wo alles klar ist, wo kein Gewicht der Vergangenheit, keine Verwirrung der Zukunft alles trübt. Wo alles einfach ist. Dort möchte ich leben und nicht mehr verursachen als nur eine Delle in der Oberfläche, die nicht mehr zu sehen ist, sobald man weitergeht.

Schließlich riss sie sich los, trug ihre Ernte in die Küche und ging hinaus, um die Post zu holen. Vielleicht war ja endlich ein Angebot dabei, eine Nachricht von Harrys Makler.

 

Und dann stand da dieser Mann, rührte sich nicht und blickte über den Zaun, als hätte er eine Vision, die ihn völlig gefangen nahm. Da er sie nicht bemerkt hatte, überlegte Sila, ob sie ihn ansprechen sollte. Vorsichtig trat sie einen Schritt näher. Die Sonne fiel durch die Weidenbäume hindurch auf seinen linken Arm. Sila fiel ein Glänzen an seiner Hand auf, dann ein grünes Funkeln. Jetzt konnte sie nicht anders, als auf ihn zuzugehen, und sah es schließlich mit Gewissheit. Der Siegelring!

Er trug den Siegelring, der Annas Soldat gehört hatte. Sila blieb stehen. Nun wandte der Mann sich zu ihr um.

Er war um einiges jünger als sie, stellte Sila fest und fand langsam zurück in die Wirklichkeit. Einen Moment zuvor war ihr noch gewesen, als wäre sie in eine andere Zeit geraten, als wäre sie Anna und vor ihrer Tür stünde der Soldat.

Doch dieser Mann war nicht verwundet. Er lächelte sie verlegen an und schien nicht genau zu wissen, was er sagen sollte. »Ich wollte nur einmal den Ort sehen«, erklärte er schließlich. »Den Hof, wo …« Der Satz blieb in der Luft hängen.

Sila kam ihm zu Hilfe. »Kann es sein, dass Sie den Ort suchen, an dem jemand aus ihrer Familie gefallen ist? Ich war dabei, als er gefunden wurde«, sagte sie sanft. »Kommen Sie doch bitte herein«, fuhr sie fort, nachdem er fast unmerklich genickt hatte.

Der Mann folgte ihr stumm durch das Tor und blickte sich aufmerksam um, während Sila ihn einlud, auf der Bank Platz zu nehmen. Gelbe und violette Stockrosen blühten rechts und links davon, an der Dachrinne prangte eine Wicke in Rosa, und an der Hauswand rundeten sich die Weintrauben. An der Stallwand reiften dunkelglänzende Brombeeren. Über den Weg neigten sich Löwenmäulchen und Rittersporn, dazwischen standen hohe Sonnenblumen, die Köpfe dem Licht zugewandt.

Der Mann sah sich überwältigt um. »Ob es damals hier auch so ausgesehen hat?«, fragte er beinahe flüsternd.

Sila setzte sich neben ihn. »Ich kann Ihnen auf jeden Fall versichern, dass in diesem Garten immer Blumen geblüht haben, auch zu den schlechtesten Zeiten. Und das Haus ist älter als beide Kriege. Dieser Ziegenkopf da oben, der hat alles gesehen.«

Er blickte hinauf, dann richtete er sich auf und bot Sila die

»Tulpe? Dann ist das auf dem Siegelring eine stilisierte Tulpe! Ich bin Sila, Sila Beer.«

»Freut mich, Frau Beer. Ja, er zeigt eine Tulpe von oben. Der Ring ist seit Generationen in meiner Familie. Es ist mein Großvater, den Sie gefunden haben. Heinrich Tulpe. Er hat ihn auch als Ehering benutzt, bei der Hochzeit. Es war eine Kriegshochzeit, das hatten sie keine Zeit, Ringe zu besorgen und gravieren zu lassen.«

Heinrich. Heinrich Tulpe. Annas Soldat hatte nun endlich einen Namen. Sila fühlte sich seltsam erleichtert.

»Dann heißt Ihr Vater Konrad«, sagte sie mehr zu sich als zu ihm.

Erstaunt blickte er sie an. »Ja, woher wissen Sie das? Hat die Dienststelle Sie auch kontaktiert?«

»Nein. Ich habe da was für Sie. Warten Sie bitte.« Sie lief ins Haus und kehrte mit dem Rucksack, dem Helm und dem Heft zurück. »Ich hätte die Sachen dem Umbetter mitgeben sollen. Ich kann Ihnen auch nicht erklären, warum ich es nicht getan habe. Da war dieses starke Empfinden, dass ich es jemandem persönlich übergeben müsste. Und als Herr Krenbichler sagte, die Angehörigen würden meistens kommen, um den Ort zu besuchen, bin ich diesem Impuls gefolgt. Ich habe das hier in einem verschütteten Eiskeller gefunden, in dem Ihr Großvater wahrscheinlich die letzten Tage seines Lebens verbracht hat. Aber lesen Sie doch selbst. Möchten Sie etwas trinken?« Sila stand auf.

»Ja, gerne. Frau Beer, warten Sie!« Er berührte ihre Hand, als wollte er sie zurückhalten. »Ich bin froh, dass Sie mir diese

»Oh, das freut mich! Danke, das bedeutet mir viel. Ich hatte ein wirklich schlechtes Gewissen. Möchten Sie Kaffee, oder lieber Johannisbeersaft? Selbst gemachten?«

Sein ernstes Gesicht hellte sich auf. »Johannisbeersaft, unbedingt. Mein Vater hat früher auch welchen gemacht, nach einem Rezept meines Urgroßvaters.«

Nach ein paar Schritten blieb Sila stehen. »Sagen Sie, wenn Ihr Großvater Heinrich hieß, wer war denn dann Otto?«

»Wegen der Uhr, meinen Sie? Otto und Hilda waren meine Urgroßeltern. Heinrich hatte die Uhr seines Vaters in der Tasche. Er hatte sie ihm geschenkt, damit sie ihn beschützen sollte. Er sagte, sie hätte ihn selbst im Ersten Weltkrieg beschützt. Diese Funktion hat wohl nur für einen Krieg gereicht.«

»Aber sie hat die Liebe weitergetragen«, sagte Sila leise.

Henrik Tulpe blickte überrascht. »Da haben Sie recht. Mein Vater hat die Uhr wieder herrichten lassen. Meine Großmutter Gisela lebt leider nicht mehr, aber es bedeutet Vater sehr viel, diese Uhr zu haben. Es war schlimm für ihn, ohne Vater aufwachsen zu müssen, obwohl er einer von vielen war. Für mich war das auch schwierig. Er wollte mir deswegen ein besonders guter Vater sein und hat mich damit fast erdrückt. Den Ring hat er mir geschenkt, damit ich auch etwas von Opa habe.« Plötzlich lächelte er. »Wissen Sie was? Ich habe noch nie Opa zu Heinrich sagen können, da ich ihn ja nicht kennenlernen konnte. Jetzt, da ich diese Dinge in der Hand halte, seinen Ring trage und diesen Ort gesehen habe, ist mir auf einmal, als ob ich ihn

Sila schüttelte den Kopf. »Es ist wahrlich nicht mein Verdienst, dass wir ihn gefunden haben. Aber vielleicht ein bisschen der meiner Großmutter, die ich übrigens auch nicht mehr gekannt habe. Schauen Sie in das Heft, dann werden Sie sehen, was ich meine.«

Sie brachte ihm den Saft, dann ging sie in die Küche, um einen Salat aus ihrer Ernte zu machen.

 

Schließlich sah Sila durch das Fenster, wie er aufstand und sich unschlüssig umsah. Sie ging zu ihm hinaus.

Er sah sie fragend an. »Würden Sie mir die Stelle zeigen, wo Sie ihn gefunden haben? Und vielleicht auch den Eiskeller?«

»Natürlich, sehr gerne. Sie stehen praktisch schon an der Stelle.« Sie führte ihn an zwei Stockrosen vorbei und zeigte ihm die Grube. Herr Krenbichler und der Jürgi hatten sie notdürftig wieder ein wenig zugeschaufelt. Es war nur eine Vertiefung geblieben, die merkwürdig zusammenhanglos mitten im Hof lag. Wie vergessen wirkten die verstreuten Natursteine, die wohl einst Teil der Brunnenmauer gewesen waren.

»Was werden Sie daraus machen?«, fragte Henrik Tulpe nach einer Weile.

»Ich weiß es noch nicht. Ich hatte irgendwie das Gefühl, abwarten zu müssen, bis ich von seiner Familie höre. Ist er denn beigesetzt worden?«, fragte Sila. Auch das hatte sie beschäftigt.

Er nickte. »Ja, auf dem Soldatenfriedhof. Das erschien uns passend. Sein Name steht jetzt auf dem Denkmal. Ich denke, er

»Gerne, kommen Sie mit.«

Doch er blieb stehen und starrte noch immer in die Grube. »Es ist, als ob ich seine Gegenwart spüre. Ich spüre, dass er gern hier war. Dass er am Ende noch einmal auf eine Art glücklich war«, sagte er. »Aus seinen Worten geht hervor, wie sehr er den Garten seines Vaters geliebt haben muss. Es ist seltsam, wissen Sie. Mein Vater hat diesen Garten auch geliebt und sich darum gekümmert, bis er aus beruflichen Gründen fortziehen musste. Nun hat er einen Schrebergarten, und den habe wiederum ich geliebt und tue das immer noch. Ich wollte Gärtner werden, aber ich hatte eine Zeitlang körperliche Probleme aufgrund einer Infektion in meiner Jugend. Also studierte ich und wurde Ingenieur. Ich lehre Garten- und Landschaftsbau an der Uni, aber ich habe im Augenblick ein Sabbatjahr und überlege, ob ich überhaupt noch einmal dorthin zurückkehren sollte. Es geht mir so viel besser, wenn ich im Schrebergarten meines Vaters arbeite.« Henrik Tulpe breitete die Arme aus und umfing den ganzen Hof mit seiner Geste. »Das hier ist ein Paradies! Ich kann meinen Großvater verstehen. Er hatte nur drei Tage hier, aber ich könnte ein ganzes Leben an einem Ort wie diesem verbringen. Wie wird er sich das gewünscht haben!« Er blickte wieder in die Grube. »Und ich wünschte, ich könnte meinen Großvater fragen, was ich tun soll. Ich bin siebenunddreißig und weiß nicht, was ich mit meinem Leben anfangen will. Ich wünsche mir Praxis, keine Theorie. Frische Luft, keine Hörsäle. Meinen Vater kann ich mit meinen Sorgen nicht mehr belasten. Aber er wird sich sehr freuen, diese letzten Zeilen seines Vaters zu

Er pflückte eine Blüte von den Stockrosen und ließ sie in die Grube segeln. »Was wäre wohl aus allem geworden, wenn es diesen Krieg nicht gegeben hätte? Nichts wäre so, wie es jetzt ist. Aber für den Fall, dass es mich trotzdem geben würde, hätte ich einen Großvater gehabt, der mir seine Lieblingsgedichte eingetrichtert und mir gezeigt hätte, wie er seinen geheimen Dünger zusammenmischt.«

»Das hätte ich Ihnen auch gewünscht«, sagte Sila leise. »Wollen wir nicht Du sagen? Ich bin Sila.«

»Gerne. Danke. Danke, dass Sie mir zuhören – dass du mir zuhörst«, sagte Henrik. »Es ist mir ein bisschen unheimlich, wie sehr er gerade anwesend zu sein scheint. Mir ist, als müsste ich ihn jeden Augenblick sehen können, und doch ist da nichts. Gar nichts.«

Sila kämpfte mit sich. »Ich würde dir gerne etwas zeigen. Mir hat es geholfen. Aber es könnte auch zu unheimlich und belastend sein.«

Fragend sah er sie an. »Unheimlicher kann es nicht werden. Bitte zeig es mir.«

»Das, was du gleich siehst, entsteht durch chemische Vorgänge im Boden«, erklärte sie. Im Schutz der Hauswand zeigte sie ihm das Bild auf ihrem Handy. Den Schatten in der Erde, der so ganz und lebendig wirkte, als stünde Heinrich Tulpe zusammen mit ihnen im Licht und sein Schatten wäre einer von ihnen. Henrik starrte lange darauf. Sila betrachtete ihn etwas

»Du hast recht! Seltsam. Jetzt ist seine Gegenwart nicht mehr unheimlich, sondern tröstend. Anna war hier, war gut zu ihm, und er hat die Blumen gerochen, die Wiesen und den Himmel. Ich bin froh, dass ich hier bin.«

Dann zeigte Sila ihm den Eiskeller.

»Hier muss er sich gut geschützt gefühlt haben«, sagte Henrik und betastete die Wände. »Eine bemerkenswerte Konstruktion.« Er lachte. »Entschuldige. Da kommt der Ingenieur in mir durch. Man könnte allerhand damit machen. Aber das ist nicht das, was mich am meisten interessiert.« Er sah sie ein wenig verlegen an. »Würdest du mir vielleicht den ganzen Hof zeigen? Mein heimliches Gärtnerherz schlägt bei jedem Schritt höher. Was für ein Potenzial dieses Stück Land hat, und was für eine Menge Leben darauf ist!«

»Ja, nur dass das alles für mich viel zu viel und zu groß ist, abgesehen von bedrückenden Erinnerungen an meine Kindheit«, sagte Sila. »Ich suche einen Käufer dafür. Du bist nicht zufällig interessiert?«

Jetzt wurde er ernst. »Oh, wenn ich könnte, würde ich sofort zugreifen. Aber das übersteigt meine finanziellen Möglichkeiten bei weitem. Ich übernehme an der Uni nur gerade so viel Lehrveranstaltungen wie nötig, weil ich eben viel mehr Zeit im Garten verbringen möchte. Rücklagen gibt es auch nicht. Ich kann gerade so die Haushaltshilfe meines Vaters bezahlen.«

»Wie schade!«

Sila zeigte ihm die Minischweine. Die zwei mochten Henrik sofort, und er sie. Dann den Gemüsegarten. »Der Komposthaufen muss dringend umgesetzt werden, aber ich schaffe

Er hob lachend die Hand. »Stopp! Du brauchst dich vor mir bestimmt nicht zu rechtfertigen. Niemand kann erwarten, dass du allein so einen Hof bewirtschaftest.« Eine merkwürdige Sehnsucht trat in seine Augen. »Sag mal, Sila, hast du so was wie ein Gästezimmer? Ich könnte ein paar Tage bleiben und die gröbsten Arbeiten erledigen. Seit ich wieder bei vollen körperlichen Kräften bin, tobe ich mich gern an etwas aus. Es ist doch auch gerade Erntezeit, nicht wahr? Da gibt es sicher Wiesen zu mähen und Äpfel zu pflücken.«

Sila fühlte Erleichterung in sich aufsteigen. Die unerledigten Arbeiten hatten zunehmend auf ihr gelastet. Wenn jetzt ein Käufer kam, musste doch alles vorteilhaft aussehen!

»Das würdest du tun? Martin, der Mann meiner Freundin, hilft mir zwar, wo er kann. Aber er hat einen eigenen Hof und kaum Zeit. Ich habe schon ein schlechtes Gewissen deswegen. Würdest du wirklich …?«

Nun schlich sich ein erwartungsvolles Funkeln in Henriks Augen. Sila war froh, dass der Ausdruck der Trauer daraus verschwunden war.

»Nichts lieber als das! Es wäre mir ein Fest, glaub mir. In diesem Paradies Zeit verbringen zu dürfen und sich dabei auch noch nützlich zu machen, was Besseres kann mir gar nicht passieren. Wusstest du, dass manche Blumen das Summen einer Biene wahrnehmen können, wenn sie sich nähert? Sie machen dann sofort ihren Nektar süßer, um sie anzulocken. Das hat man kürzlich erst herausgefunden. Und mir ist gerade, als würden alle Blumen mir zuhören. Sie locken mich an!«

 

»Bist du verrückt?«, rief Lisann, als Sila ihr später davon erzählte und über die Schulter Richtung Komposthaufen nickte, wo die Erde nur so von Henriks Schaufel flog. »Du kennst ihn doch gar nicht! Du weißt nichts über ihn. Du kannst nicht einfach einen wildfremden Mann bei dir einquartieren. Obwohl«, fügte sie hinzu, »er sieht wirklich gut aus.«

»Ich werde euch bekannt machen, und dann wirst du mir recht geben.« Sila war sich ihrer Sache sicher. »Ich weiß schon viel über ihn. Lisann, das war nicht gespielt! Seine Empfindungen gegenüber seinem Großvater und dem, was hier geschehen ist, und seine Liebe zum Garten, das ist alles echt. Meine Menschenkenntnis hat mich noch niemals getäuscht.«

»Ich weiß«, gab Lisann zu. »Ohne die hättest du die Kindheit in der Kneipe wahrscheinlich nicht so gut überstanden. Da hast du einen sechsten Sinn entwickelt.«

»Genau. Und dem vertraue ich.«

»Arbeiten kann er zumindest«, stelle Lisann fest.

Sila hatte das sichere Gefühl, dass Henriks Anwesenheit ein weiterer Schritt zur Heilung der Vergangenheit an diesem Ort war. Kriege und Diktaturen hatten die Menschen und die Landschaft so lange leiden lassen. Nun sollten hier hoffentlich nur noch Farbe und Duft und Leben sein, in den Wiesen und zwischen den Menschen.

Sie saß mit Lisann noch auf der Bank, als Henrik zu ihnen herübergeschlendert kam und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Er strahlte. »Das tut unendlich gut.«

Lisann betrachtete ihn kritisch. »Guten Tag.«

»Guten Tag. Schön, Sie kennenzulernen.« In seinen Augen glomm ein amüsierter Funke. Wahrscheinlich hatte er Lisanns Misstrauen genau richtig gedeutet. Aber er sagte nichts dazu und wandte sich Sila zu.

»Hör mal, ich habe einen Vorschlag. Nur eine Idee! Solange ich hier bin und helfen kann, was wäre, wenn wir aus der Grube wieder etwas machen und gleichzeitig Großvater und deiner Großmutter ein Denkmal setzen? Für sie persönlich, aber auch stellvertretend für seine Kameraden und all jene, die anderen Menschen im Krieg geholfen haben. Ich meine nicht, dass wir wieder einen Brunnen graben sollen, das schaffen wir nicht, und ob da unten noch Wasser ist, weiß niemand. Aber wir könnten aus den Steinen wieder ein Rund mauern und dann einen Hochteich daraus machen oder ein bepflanztes Hochbeet, wie du möchtest. Und aus den verbogenen Eisenteilen würde ich gern eine Skulptur bauen. Ich habe gesehen, dass es in diesem Garten schon mehrere davon gibt. Das könnte doch passen, meinst du nicht? Ich würde so etwas wie zwei Schatten daraus formen, einen Mann und eine Frau. Wir könnten sie an der Mauer befestigen. Was denkst du?«

Das war es. Das Bild passte genau zu ihren Gedanken von der Heilung.

»Das hört sich perfekt an«, sagte sie. »Das machen wir!«