Ehe Jonne Sila auf das Dach führte, zeigte er ihr die Glasscheibe, die in den Boden des Hausbootes eingelassen war.
»Heute sind besonders viele Fische zu sehen.«
Zusammen betrachteten sie das silberne Blitzen und Huschen eines Schwarmes unter dem Boot.
»Ich könnte stundenlang zusehen«, sagte Jonne. »Bei Nacht kann man einen Scheinwerfer unter dem Boot einschalten, das sieht auch wunderschön aus. Nur Seepferdchen gibt es nicht.«
»Das Leben auf dem Boot gefällt dir sehr, oder?«, fragte Sila, als er ihr danach oben in dem lauen Abend, in dem eine leise Ahnung von Frühherbst mitschwang, einen köstlichen Nudelsalat servierte.
»Ja. Das gehört zu den Dingen, die ich dich fragen wollte. In Berlin kann man doch auch Hausboote mieten, oder?«
»Ja, klar. Wasser haben wir ja reichlich. Es ist nicht ganz einfach, einen Liegeplatz zu finden. Auch nicht billig. Aber ich kenne ein paar Leute. Es ist schon was Besonderes. Vor allem im Winter. Man muss es mögen. Aber zu dir passt es, glaube ich. Warum fragst du?«
Jonne schob sein Weißweinglas auf dem Tisch hin und her. »Ich muss mich entscheiden. Die Ladeninhaberin hat mir eine Vertragsverlängerung angeboten. Aber ich möchte nicht hierbleiben. Das wollte ich nie, auch wenn ich noch nicht wusste, wohin dann. Und wenn Lexi jetzt weggeht …« Er sah Sila hilfesuchend an. »Ich wollte dich auch fragen, ob du meinst, dass … also mit Lexi. Und dem Hof im Oderbruch.«
Sila, die sich eben noch so jung gefühlt hatte, kam sich auf einmal alt, erfahren und weise vor und amüsierte sich über sich selbst. »Das mit Lexi ist dir ernst. Das weiß ich längst.«
»Ja. So ernst wie noch nie. Sie ist glücklich dort, das merke ich. Sie hat mir so viele Fotos und Videos geschickt, dass ich den Hof inzwischen beinahe so gut kenne wie sie selbst.« Er lachte auf. »Obwohl ich noch nicht dort war. Das Ding ist, ich denke, mir würde es dort auch gefallen. Ich hatte nie den Traum meines Großvaters, das verlorene Gut in Ostpreußen woanders wiederaufzubauen. Aber etwas aufbauen, das würde ich schon gern. Vielleicht liegt es in der Familie. Ich möchte auch nicht mehr für einen fremden Laden arbeiten. Ich möchte mich selbständig machen. Wenn Lexi will …« Wieder sah er Sila hilfesuchend an. »Glaubst du, sie will?«
»Sie will was?«, fragte Sila geduldig.
»Sie mag das Hausboot. Einige Rücklagen habe ich noch. Ich könnte in Berlin eines mieten, und wir könnten dort sein, wann immer sie will. Wir brauchen ja eine Basis in der Stadt. Lexi sagt, sie will mit den Schulen dort zusammenarbeiten. Da wird sie Leute treffen müssen. Und dann können wir auch mal ins Kino oder so, wenn es ihr im Oderbruch zu einsam wird. Aber meistens werden wir auf dem Hof sein, wenn sie möchte. Wenn sie mich lässt.« Er räusperte sich. »Du kennst doch den Hof, Sila. Da gibt es doch sicher eine Ecke im Stall oder Schuppen, wo ich Drachen bauen könnte? Auch mit den Kindern. Ich könnte Kurse geben, Workshops für Eltern und Kinder. Das ist was Tolles, was sie zusammen machen könnten. Felder zum Ausprobieren gibt dort auch, oder? Ich könnte ein Drachenfestival organisieren, das würde Leute in die Gegend bringen. Und ich würde einen Onlinehandel aufziehen, das geht von dort. Ich weiß nicht, ob das auf Dauer funktioniert und genügt. Aber ich könnte Lexi helfen und mit ihr zusammen sein, so lange sie will. Meinst du, das ginge so, wie ich mir das vorstelle?«
Sila war nicht überrascht. Darauf hatte sie schon gehofft, als sie beschlossen hatte, Lexi den Hof anzubieten. Aber sie war gerührt.
»Jonne, das klingt sehr vernünftig. Wenn das irgendwo funktioniert, dann auf dem Wickenhof! Das ist das ideale Gelände und die Gegend dafür. Aber ob Lexi das will, musst du sie schon selbst fragen.«
Jonne wurde rot. »Ja, ich weiß. Ich dachte nur, wenn du sagst, das ist alles ein Hirngespinst …«
»Lieber Jonne, was Beziehungen angeht, bin ich bestimmt nicht klüger als du. Da fragst du die Falsche. Aber ich glaube nicht, dass du Bedenken haben musst. Frag Lexi!«
»Ist es in Ordnung für dich, wenn ich am Wochenende zu ihr fahre? Ich kann nicht warten. Aber es ist ja immer noch dein Hof, ich kann mich ja nicht einfach einladen.«
Sila lächelte. »Ich glaube, es ist schon so gut wie Lexis Hof. Aber auch mir sind liebe Gäste immer willkommen.«
Nun strahlte er. »Ich werde sie überraschen. Sieh mal, meinst du, das gefällt ihr? Weil sie sich doch von den Seepferdchen trennen muss, dachte ich …« Er holte eine Schachtel aus seiner Tasche und zeigte Sila ein zartes silbernes Armband aus fein gearbeiteten Seepferdchen.
»Ganz bestimmt, lieber Jonne. Viel Glück.«
Jonne war nicht der Einzige, der einen Überraschungsbesuch plante.
Ein paar Tage später stand Sila am Zaun von Valentinas Garten. Rasmus hatte ihr im Vorbeifahren wieder einmal Brötchen gebracht.
»Danke, aber das musst du doch nicht«, hatte Sila gesagt.
»Ach was, ich fahre ja sowieso hier vorbei.«
»Willst du dann nicht wenigstens reinkommen und mit mir frühstücken?«
In diesem Augenblick fuhr ein Auto vor und bremste etwas zu scharf, so dass Sand auf Rasmus’ Hosenbeine spritzte.
Es war Devins abgeschabter Pick-up.
Als er ausstieg, hätte Sila ihn erst beinahe nicht erkannt. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Er hatte etwas abgenommen und sich außerdem rasiert. Normalerweise trug er einen Dreitagebart. Der vertraute Geruch seines Aftershaves mischte sich mit dem des auflandigen Meerwindes.
Er schloss die Autotür unnötig geräuschvoll und stellte sich neben Rasmus an den Zaun. »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören«, sagte er in einem Tonfall, der das genaue Gegenteil ausdrückte. »Aber ich muss mit Sila sprechen. Allein.«
»Ist etwas passiert? Mit Indra? Oder Oswin?«, fragte Sila angstvoll.
»Nein, nein! Mach dir keine Sorgen. Mit ihnen ist alles in Ordnung.«
»Ich geh dann mal. Einen schönen Tag dir, Sila. Moin!« Mit einem halb amüsierten, halb traurigen Blick schwang Rasmus sich auf sein Fahrrad.
Sila betrachtete Devin verwirrt. »Was ist denn? Erst antwortest du mir nicht, was du von meinen Plänen hältst. Und jetzt tauchst du hier auf. Wo hast du überhaupt übernachtet? Hattest du einen Auftrag in der Nähe?«
»Ich bin die Nacht durchgefahren. Mir ist etwas klargeworden. Lässt du mich eigentlich rein in dein neues Paradies?«
Sila öffnete das Tor. »Es ist noch nicht meins. Es ist nur auf Probe.«
»Ach, komm. Ich kenne dich. Es ist längst entschieden.«
Ja, er kannte sie wie kein anderer. Sie hatten so viel zusammen erlebt und durchgemacht.
Sila hatte es sich nie eingestanden, aber sie hatte ihn furchtbar vermisst. Jeden Tag. »Setz dich in die Schaukel. Ich mach uns Kaffee. Und Frühstück.«
In der Küche stellte sie alles auf ein Tablett und brachte es hinaus. Devin hatte die Augen geschlossen. Er sah in seiner Erschöpfung ungewöhnlich verletzlich aus. Sie sah auf ihn herunter und konnte ihre Gefühle nicht einordnen. Da waren Wehmut, Dankbarkeit, Frustration, Bedauern, Sehnsucht, Gereiztheit, Zärtlichkeit, Vorsicht, Ungewissheit. Alles schwirrte in ihrem Kopf herum, als hätte sie bei der Gartenarbeit versehentlich ein Hummelnest gestört.
»Danke.« Devin setzte sich auf, als er den Kaffee roch. Sie frühstückten schweigend. Dann sah sich Devin um.
»Schön hast du es hier«, sagte er, leise jetzt. Die unterschwellige Aggressivität von vorhin schien aus ihm gewichen.
Wenn er eine Blume wäre, würde ich ihn jetzt gießen, dachte Sila. Sie merkte jetzt erst, wie sehr es sie verletzt hatte, dass er, im Gegensatz zu Indras und Oswins Begeisterung, zu ihren Plänen gar nichts gesagt hatte. Weder schriftlich noch am Telefon.
»Ich habe ein nettes junges Künstlerpaar gefunden«, sagte er schließlich. »Sie machen Linolschnitte und Holzschnitte, sehr schöne Sachen. Sie würden gern Indras und Oswins Anteile der Etage übernehmen und sogar eine gute Miete zahlen. Ich denke, man kann prima mit ihnen auskommen. Indra und Oswin haben schon angefangen, ihre Sachen aufzulösen, und die zwei helfen sehr nett dabei. Sie sind so jung und voller Schwung, ich komme mir beinahe alt vor daneben.«
Sila dachte an Lexi und Jonne. Sie wusste, was er meinte.
»Ja, Indra erwähnte so was. Du bist doch nicht die Nacht durchgefahren, um mir das zu sagen. Was ist los, Devin?«
Jetzt wandte er sich ihr zu und nahm ihre Hand. »Sila, du gehörst doch in mein Leben, seit ich dich damals da auf der Treppe sitzen sah.«
»Ich habe es nicht vergessen.«
»Ich habe seitdem so viel falsch gemacht.«
Sila schüttelte den Kopf und drückte seine Hand. »Nein, Devin. Du hast so viel richtig gemacht. Ich weiß nicht, was ohne euch aus mir geworden wäre. Ich habe selbst viele Fehler gemacht. Du – du hast nur ein bisschen zu sehr und zu lange auf mich aufgepasst.«
»Ich weiß. Das tut mir leid. Aber das war nicht das Einzige, was so oft zwischen uns geraten ist. Ich hatte immer wieder das Gefühl, dass du nicht ganz anwesend warst. Ich konnte dich nicht erreichen. Nicht so, wie ich es mir gewünscht habe. Du warst wie hinter einer Glaswand. Hast mich nicht reingelassen.«
»Ich habe mich selbst nicht reingelassen. Oder besser, rausgelassen«, sagte Sila. »Ich habe mich gar nicht mehr gespürt. Vor allem in den letzten Jahren. Ich habe das erst auf dem Wickenhof gemerkt.« Sie sah zu Boden. »Da wurde ich immer lebendiger. Wie eine Pflanze, die endlich Licht und Dünger bekommt.«
»Sieh mich an, Sila!«
Sie hob den Kopf. Seine Augen! Sie mochte seine Augen so. Sie konnte ihm doch alles sagen. Früher war es ja auch so gewesen.
»Es war die Vergangenheit. Meine Kindheit. Die alten Geschichten. Ich musste mich erinnern. Endlich Abschied nehmen. Das ging ja damals nicht. Ich musste Frieden damit schließen und herausfinden, was ich möchte.«
»Und jetzt? Es ist dir gelungen, nicht wahr? Wenn ich dich jetzt höre und sehe, schon bei dem Sommerfest neulich, dann spüre ich, dass du endlich ganz bist. Die Sila, wie sie immer hat sein sollen. Meine Sila. Diese Sila liebe ich so sehr! So sehr wie noch nie. Ich möchte dich neu kennenlernen. Und ich möchte nicht ohne dich leben, Sila. Nein, mehr. Ich möchte mit dir leben. Nur mit dir.«
Stimmte das? Konnte das sein? Sie hatten es doch so oft versucht.
Doch unter Silas Angst und Zweifeln keimte eine ganz neue Zuversicht und Sicherheit. Oder war die immer dort gewesen?
Ja, sie hatte ihn vermisst. Aber sie hatte es für aussichtslos gehalten.
»Du hast recht, die alten Geister ruhen. Lexi wird einen glücklichen Ort aus dem Wickenhof machen, mit Jonnes und Henriks Hilfe. Kinder werden dort lachen, ohne Angst. Etwas Besseres kann nicht geschehen.« Sie atmete tief durch und nahm all ihren Mut zusammen. »Aber Devin, ich muss und werde hierbleiben! Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mir selbst einen Ort ausgesucht. Hier bin ich richtig. Unten in der Waschküche werde ich eine Werkstatt einrichten. Es ist nicht riesig, aber geräumig genug, dass Indra und Oswin, wenn sie hier sind, auch ein wenig werkeln können. Ich werde den Schuppen etwas vergrößern, dann kann man da das Material lagern.«
»Sila, ich weiß. Ich will dir das nicht ausreden. Ich freue mich so für dich. Und es ist atemberaubend schön hier.« Er betrachtete die Sonnenblumen, dann die Rosen auf dem Dünenkamm mit dem Himmel dahinter.
Eine Holzbiene flog heran und brummte blauglänzend um die Schaukel.
»Vielleicht ist es das Alter, aber ich bin die Stadt auch ein wenig leid. Meinst du, du könntest in deiner Werkstatt für mich eine Ecke reservieren? Ich helfe auch beim Ausbau des Schuppens«, sagte Devin, und sie sah ihm an, wie ernst er es meinte. »Ich könnte einen großen Teil des Jahres hier bei dir sein. Manchmal muss ich sicher in Berlin etwas regeln, aber das lässt sich ja machen. Im Winter hast du vielleicht wieder Lust auf ein paar Wochen Berlin. Wir könnten uns Zeit nehmen und ins Museum gehen oder ins Konzert. Sila? Würdest du mir noch mal eine Chance geben?«
»Wenn du mir auch eine gibst?«
Sie gehörte zu ihm. Sie hatte immer zu ihm gehört und er zu ihr. Sila wünschte sich nichts mehr, als ihr neues Leben mit ihm aufzubauen, denn ohne ihn wäre es wie ein Garten ohne Blumen.
Dann hielten sie sich fest. Ganz fest.
»Diesmal ist alles richtig«, sagte er in ihr Haar.
Und sie wusste, dass es stimmte.
Später gingen sie zum Strand, und dann ins Café Sorgenfrei, aber nicht lange. Sie wollten einfach nur zusammen sein, allein mit dem Garten und der Meeresmusik und den Möwen im Hintergrund. Abends stand er neben ihr, als sie bei Sonnenuntergang das Horn blies, um diesen denkwürdigen Tag gebührend zu verabschieden.
»Komm, ich zeig dir was.« Als die Sonne fort war, zog sie ihn ins Haus und in das Zimmer mit dem Aquarium.
Staunend saß er davor. Sila lehnte sich an ihn. Das geheimnisvolle blaue Dämmerungslicht schaltete sich ein.
Langsam kamen Aton und seine Gefährten aus den Pflanzen hervor und begannen ihren abendlichen Tanz, mit dem sie das Leben feierten.
Doch dann begann Aton seltsam zu zucken. Immer wieder krümmte er sich und richtete sich dann ruckartig wieder auf.
»Was hat er?«, fragte Devin besorgt, und auch Sila erschrak. Doch dann sahen sie beide, was da gerade geschah.
Aton brachte Junge zur Welt. Bei den Seepferdchen tun dies die Männchen. Winzig kleine, silbrige, perfekte Geschöpfe, sein genaues Ebenbild.
Ehrfürchtig sahen sie zu.
»Heute beginnt unsere Zukunft, Sila«, sagte Devin leise.
Die jungen Seepferdchen stiegen eines nach dem anderen zur Wasseroberfläche auf ins Licht.