Lenzerwische

2017

Abschied und Anfang

Vor fünfzig Jahren hatte Maja die Stufen vor der Haustür meist mit einem Satz übersprungen, so leicht schien das Leben und so eilig hatte sie es gehabt, hinauszukommen, in den Garten, wo der Tag für sie bereit war.

Damals hatte nur dieser eine lange neue Tag Bedeutung gehabt, der sich mit der aufgehenden Sonne aus den Elbwiesen erhob. Kein Gestern. Kein Morgen. Nur das Jetzt. Der geheimnisvolle große Fluss lag für alle unerreichbar hinter dem metallenen Zaun, doch das grüngoldene wispernde Reich des Gartens und der Wiesen mit ihren zahllosen Blüten und Bewohnern wartete immer auf Maja. Deshalb nahm sie die Treppe vor lauter Ungeduld mit einem großen Sprung. Wenn sie es übertrieb, kam sie unten zu heftig auf, mit einem Ruck, der in den Knien und Fußgelenken schmerzte und ihren Kopf durchrüttelte. Einmal hatte sie sich dabei sogar in die Zunge gebissen.

»Bist halt kein Grashüpfer, Kind«, hatte Elsie dann mit sanftem Tadel und einem Lächeln gesagt. »Auch wenn der Opa dir das in den Kopf gesetzt hat.« Und dann hatte sie Maja über die Haare gestrichen und halb zu sich selbst gesagt: »Aber ich habe das früher auch so gemacht.«

»Und jetzt nicht mehr, Elsie?«

»Nein. Jetzt nicht mehr.«

Doch Maja hatte einmal durch das Fenster gesehen, wie Elsie es heimlich doch getan hatte. Wahrscheinlich, weil Frühling

 

Mittlerweile aber war Elsie achtundneunzig und sprang schon sehr lange nicht mehr. Und Maja schwang gerade die Sichel, um den überwucherten Weg für Elsies neuen Rollator freizumachen.

Mit der Sichel umzugehen, war sie noch gewohnt. Das war nicht der Grund, warum ihr heute ähnlich zumute war wie damals, so als wäre sie viel zu unsanft auf dem Boden gelandet und der harte Ruck hätte alle ihre Knochen und ihr Hirn schmerzhaft erschüttert.

Es lag vielmehr daran, dass vorgestern ihr endgültig letzter Arbeitstag gewesen war.

 

Ein halbes Leben lang war sie wie ihre Kolleginnen Tag für Tag mit ihrem kleinen Auto für den ambulanten Pflegedienst durch die Stadt gefahren und hatte sich um betagte Menschen gekümmert. Viele davon betreute sie seit Jahren, hatte mit ihnen gelitten und gelacht, geweint und gescherzt, ihnen Neuigkeiten erzählt, sie gewaschen, frisiert und verbunden, hatte ihnen zugehört und unendlich viel von ihnen gelernt.

Und jetzt war sie Frührentnerin. Mit achtundfünfzig, weil ihr Rücken einfach nicht mehr mitmachte. Maja hatte es so lange wie möglich hinausgeschoben, aber nun ging es nicht mehr. Es reichte noch für den Alltag und dafür, Elsie zu helfen, aber eben nicht mehr für den Dienst. Maja war längst nicht die Einzige unter den Altenpflegerinnen, der es so ging. Es war weder schlimm noch ungewöhnlich, aber sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, das war schwer.

»Ich möchte übers Wochenende zu Elsie fahren«, hatte sie zu ihm gesagt. »Ist das in Ordnung für dich?«

Er hatte von seinen Büchern aufgesehen und den Stift aus der Hand gelegt. Er widmete ihr immer seine volle Aufmerksamkeit, auch nach all den Jahren. »Natürlich, mein Engel. Ich weiß doch, dass du jetzt Hummeln im Hintern hast. Fahr nur, es wird dir guttun. Und Elsie freut sich. Ich hole dich dann Montag ab.«

»Das wäre wunderbar! Ich freu mich drauf.« Sie hatte ihn geküsst und war voller Dankbarkeit. Weil er da war. Immer. Weil sie sich nach all den Jahrzehnten so gut kannten, dass sie einander nichts mehr erklären mussten.

Sebastian vertiefte sich wieder in seine Studien. Er war ein wenig älter als Maja und schon seit zwei Jahren pensioniert. Historiker war er und hatte an der Uni gelehrt. Nun schrieb er an einem Buch und war immer noch glücklich und ausgefüllt.

Finanziell hatten sie auch nur selten Sorgen.

Doch anders als Sebastian fühlte Maja sich eben nicht ausgefüllt, schon nach einem Tag nicht mehr. Sie hatte jede Menge Projekte für diese neue Zeit geplant, aber sie war es doch gewohnt, sich nützlich zu machen und gebraucht zu werden! Die Kinder waren schon lange aus dem Haus. Nun war da eine Leere, die ihr Angst machte, auch wenn sie zuversichtlich war, dass sie irgendwie damit fertig werden würde.

 

Seltsam, weil sie hier in ihrem alten Paradies innerlich prompt wieder zum Kind wurde, sobald sie es betrat. Irgendein geheimnisvoller Prozess verschluckte die Zeit, die dazwischenlag. Hier war sie nicht älter geworden, egal, was der Spiegel und das Stechen in ihrer Wirbelsäule behaupteten. »Etwas läuft da schief mit dem Altern«, erklärte sie dem Rotkehlchen. »Außen klappt es, aber innen funktioniert es nicht. Sogar Elsie geht das so. Hat sie gesagt.«

»Weißt du, Kind, ich komme mir so albern vor mit dem Stock, und mit dem Rollator erst recht«, hatte ihre Großmutter gerade vorhin mit einem verlegenen Lächeln erklärt. »Ich habe doch genau hier als kleines Mädchen mit meinem Reifen gespielt. Bin Roller gefahren, da auf dem Weg, und hab da hinten bei den Johannisbeeren meinen Puppen Kuchen serviert. Und später hab ich mit Clemens getanzt, bei Mondlicht, auf der Wiese und unten am Fluss. Auch wenn er nicht mehr da ist, ich fühle mich noch ganz genauso. Nur die Beine machen nicht mehr mit.«

Elsie hatte gelacht. Ihr Lachen klang auch nicht alt. »Na, dann mach mal, Mädchen.«

 

Dass Elsie sie aus alter Gewohnheit immer noch »Kind« oder »Mädchen« nannte, trug wohl dazu bei, dass Maja sich hier selbst immer so jung fühlte, sogar heute, als frischgebackene Frührentnerin. Vielleicht auch, dass Maja nie »Oma« zu ihr gesagt hatte oder »Opa« zu Clemens. Darauf hatten sie sich geeinigt, als Majas Eltern vor so langer Zeit im Elbsandsteingebirge verunglückt waren. Maja war während jenes Urlaubs ihrer Eltern bei Elsie und Clemens gewesen. Und da war sie dann geblieben.

»Aber wenn Mama und Papa nicht mehr da sind, dann kann ich doch auch keinen Opa und keine Oma haben«, hatte Maja gesagt, sechsjährig und verstört, weil alles so falsch und durcheinander war. Ihre eine Welt war zerbrochen. Doch die andere war unerschütterlich. Elsie hatte sie fest in den Arm genommen. »Dann sagst du jetzt einfach Elsie und Clemens«, sagte sie. »Das ist immer noch eine Familie. Maja, Clemens und Elsie.«

 

An ihre Eltern konnte sich Maja nur dunkel erinnern. Ein Lachen, eine Geste, Beine in Strumpfhosen mit einer Laufmasche, der Geruch von Tabak, das Kratzen von Barthaaren beim Gutenachtkuss. An die Wohnung in Cottbus jedoch nicht. Ihr Zuhause war hier gewesen, im Grunde schon immer. In dem großen alten Haus hinter dem Deich mit den unzähligen Zimmern, den roten Klinkern und den alten Balken unter dem

 

Aber ich vielleicht, zum ersten Mal, dachte Maja, während sie wieder die Sichel schwang. So viele lange, dunkle Tage, und ich ohne die gewohnte Arbeit.

»Wie das wohl wird?«, fragte sie das Rotkehlchen, das immer noch neben ihr her hüpfte und nach aufgestörten Käfern Ausschau hielt. Auch eine Bachstelze flog heran, saß einen Augenblick mit wippendem Schwanz auf den Weg, wo Maja die Steine bereits befreit hatte, und verschwand dann über die Wiese. Wohl wegen der Katze, die nun hinter den Sonnenblumen hervorschlich. Sie war dreifarbig. Eine Glückskatze! Maja hatte sie noch nie gesehen, aber es gab viele Katzen in der Gegend, immer wieder andere. Mäuse huschten genug umher, trotz der vielen Greifvögel. Vor allem, seit der Deich rückverlegt worden war und die Elbe wieder die Freiheit besaß, die Auen zu überfluten, gewann hier eine Vielzahl an Lebewesen ihren Lebensraum zurück.

Dieses Jahr war es anders. Sie wollte sich an das klammern, was gewesen war, und wusste doch, dass das nichts half und gar nicht gut war. Clemens wäre enttäuscht von ihr. Er hatte sie anderes gelehrt.

 

»Kind! Komm! Pause!«, rief Elsie von der Terrasse her und hob etwas mühevoll einen Krug.

»Ich komme gleich!« Maja wischte die Sichel im Gras sauber. Wenn sie morgen ein ebenso langes Stück des Weges bewältigte und dann alles fegte, würde ihre Großmutter wieder bis zu dem Platz kommen, wo das Herz des Gartens schlug.

»Ich bin da schon lange nicht mehr gewesen«, hatte Elsie gestern leise gesagt, und Maja hatte sich geschämt, dass sie nicht eher auf dem Rollator bestanden hatte. Dass Elsie mit dem Stock so gar nicht mehr zurechtkam, war ihr nicht bewusst gewesen, vor lauter Papierkram und Abschiedsfeiern bei der Arbeit.

Aber Elsie hatte den Rollator ja nie gewollt. Nun sollte der Garten sie so sehr locken, dass sie sich an das neue Hilfsmittel gewöhnte. Wenn das keine Motivation war, was dann?

 

Das schräge Licht der Herbstsonne wärmte die roten Steinfliesen auf der Terrasse, die so alt waren wie das Haus. Maja

Es gab hier viel, um das man sich kümmern musste, aber eigentlich war es nie anders gewesen. So war das mit alten Häusern, die schon jede Menge erlebt hatten. Und mit den Menschen war es auch nicht anders.

»Morgen gehen wir zusammen in den Garten, Elsie«, sagte Maja.

»Vielleicht, Kind«, sagte ihre Großmutter vage. »Trink erst mal dein … dein Blätterwasser.« Sie schob Maja das Glas hin und lehnte sich zufrieden zurück. Sie hatte kalten Kräutertee gemacht, mit Eiswürfeln darin, so wie Maja es mochte. Nur das richtige Wort war ihr wieder einmal nicht eingefallen. Sie hatten sich beide daran gewöhnt. In Elsies Alter konnte man daraus wirklich kein Problem mehr machen. Elsie fand immer ein anderes Wort, und Maja wusste meistens sofort, was sie meinte. Oft fand sie Elsies Wort sogar besser als das eigentliche.

Da Elsie so zufrieden aussah, entspannte sich auch Maja. Sie war angenehm müde von der Gartenarbeit. Die half hervorragend gegen Grübeln. Auch das hatte sie fast vergessen. Seit ihrem Abschied vom Pflegedienst hatte sie sich nicht mehr so gut gefühlt.

Nun ja, das war ja noch nicht lange her. Erschreckend lang erschien dagegen die Zeit, die sich vor ihr erstreckte. Obwohl die Herbstsonne noch so viel Wärme in sich trug, überlief Maja ein Frösteln. Ihr ging es ja schon wie ihren Senioren! Wie oft hatten diese ihr von ihrer Furcht vor dem Winter erzählt. Nicht

Sie hätte ihnen allen einen Garten gegönnt, der auch im Winter blaue und rote Beeren aufwies, wo der leuchtend gelbe Winterjasmin durchweg von Dezember bis März blühte und die Schneeforsythie nach Weihnachten, wo sich die Winterlinge im Januar durch die Schneedecke arbeiteten und im Februar die Schneeglöckchen, und die Wiese im März zu einem Teppich aus zartvioletten Elfenkrokussen wurde. Ein Blick aus dem Fenster würde jedem betagten Menschen zeigen, dass das Leben nicht vorbei war, dass es auch im Winter andauerte und jeder Morgen es wert war, begrüßt zu werden.

Elsie hatte das genau so beschrieben, als Maja sie vor Jahren gefragt hatte, ob sie vielleicht zu ihr in die Stadt ziehen wollte, wo sie nicht alleine wäre. Oder lieber in ein Seniorenheim, wo sie Freunde finden und ihre Angst wenigstens teilen könnte.

»Aber Kind«, hatte Elsie gesagt, »ich habe keine Angst! Hier nicht. Hier, wo mich das Rotkehlchen besuchen kommt und das Eichhörnchen. Und die Rosen, die blühen noch im November, und die Stockrosen auch manchmal. Etwas blüht immer, wie sollte ich da Angst haben oder mich allein fühlen? Nein, solange ich noch irgendwie zurechtkomme, rühre ich mich hier nicht vom Fleck! Außerdem ist Clemens hier. Hier gehöre ich hin.«

Clemens war da schon lange tot, aber Maja wusste genau, was Elsie meinte. Auch sie spürte den Großvater an allen Ecken

O ja, Clemens war hier, und Elsie gehörte hier ebenfalls hin, daran war nicht zu rütteln. Und das war gut so, denn einen anderen Gedanken hätte Maja kaum ertragen können. Zum Glück war ihre Großmutter so rüstig wie viele ihrer Generation. Nichts konnte sie erschüttern. Sie hatte den Krieg durchgestanden, die Mauer überlebt und den Tod ihres Liebsten verkraftet. Das bisschen Alter konnte ihr noch lange nichts anhaben. Erst in letzter Zeit fiel es ihr schwerer, die Worte zu finden, sich daran zu erinnern, was gestern gewesen war, und das Gleichgewicht zu halten.

Wenigstens habe ich jetzt mehr Zeit für Elsie, dachte Maja, auch wenn ihr ihre anderen Patienten fehlen würden. Zu einigen hielt sie noch Kontakt, und eine Weihnachtsüberraschung wollte sie auch vorbereiten.

»Du warst heute so fleißig«, sagte Elsie. »Du solltest noch ein bisschen ans Wasser hinuntergehen. Das tut dir gut. Ich sehe doch, dass du Kummer hast.«

»Es ist kein großer Kummer, Elsie. Ein Abschied macht nun mal traurig. Das geht vorbei.«

»Nein«, sagte Elsie, »das geht nicht vorbei. Nie. Aber es gehört dazu. Die Freude auch, über das, was war. Wie die dunklen Rosen und die hellen.«

Maja stand auf und umarmte sie. »Da hast du recht. Und deine Rosen waren immer die schönsten, die ich je gesehen habe.«

»Ja. Für dich. Ich weiß noch, wie er sich jeden Morgen zuerst darum gekümmert hat, wenn er nach dem Frühstück hinausging. Ich finde, diesen Sommer waren sie besonders schön.«

»Ja. Sie erinnern sich auch. Geh ein bisschen ans Wasser, Kind.« Elsie schloss die Augen mit einem Lächeln und verfiel in eines ihrer häufiger werdenden Nickerchen. Maja legte ihr eine Decke über die Knie und ging ums Haus. Es gab keine Wand, an der nicht eine Rose rankte. Dunkelrote, orangefarbene, rosafarbene, goldgelbe, weiße oder pfirsichfarbene. Immer noch schwer vor Blüten, hingen die Ranken in die Fenster und über die vielen Bänke, die für eventuelle Gäste an der warmen Wand standen. Auch damit musste sich Maja bald befassen. Die Ranken mussten angebunden werden, die Blütenköpfe abgeschnitten, wo sie verwelkt waren.

Doch Majas Rücken schmerzte. Heute würde sie es nicht mehr schaffen, also befolgte sie Elsies Rat, ging zum hinteren Gartentor hinaus und stieg auf den Deich, hinter dem die Elbe auf sie wartete, der breite Fluss aus Licht, der so nahe war und den sie erst nach dem Mauerfall kennengelernt hatte, obwohl Clemens sie als Baby vor dem Mauerbau noch mit Elbwasser getauft hatte.

Vom ersten Tag an war der funkelnde Fluss ihr Freund und Ratgeber gewesen, in jeder Lebenssituation. Und noch etwas anderes schenkte die Elbe Maja: Trost.

Oben auf dem Deich, als Silhouette vor dem Himmel, der sich bereits leicht orange färbte, saß die Glückskatze und putzte sich.

Herbst am Deich

Maja mochte es, wie man zuerst nur diesen hellen, weiten Himmel sah, wenn man auf den Deich stieg. Dann, wenn man auf der Krone stand, breitete sich die ganze Elbaue vor einem aus. Von hier blickte man noch nicht auf den Fluss. Dafür war das Gras wie ein grünes Meer, in das der Wind Wellen drückte. Wolkenschatten wanderten darüber hin wie dicke Schafe. In der Ferne grasten braune Kühe. Hier und da standen dicke Weiden oder eine Reihe alter Eichen.

Das Gras war nicht nur einfach grün, es wirkte bei jedem Licht anders. Durch die vielen Wildpflanzen, die hier gediehen, gab es in der Fläche alle Farbschattierungen. Von Hellgelb bis Dunkelgrün, Orangerot bis Rostrot, hier und da ein Hauch von Blau. In der Ferne verschwammen die Farben wie zu einem Aquarellgemälde. Maja konnte sich niemals daran sattsehen. Sie hockte sich für einen Augenblick zu der Katze und kraulte sie, dann lief sie los.

Es wanderte sich gut hier oben auf dem neuen Deich. Rechts lagen alte Häuser und Höfe, jeder mit seinem eigenen Charakter. Leider verfiel eine große Zahl von ihnen, vor allem die Nebengebäude. Die Dächer einiger Scheunen bestanden nur aus nackten Balken, von anderen standen bloß noch einzelne Wände, aus denen Hölzer wie Rippen staken und der Lehm bröckelte. Es tat Maja weh, das zu sehen. Am liebsten hätte sie jedes dieser Gebäude gerettet. Was für ein Glück, dass Elsie ihr

Aber es war Clemens gewesen, der dem Haus den Namen »Elbschwarm« gegeben hatte, der auf dem Schild über der Tür stand. »Denn kaum hatte ich Elsie kennengelernt, war sie schon mein großer Schwarm«, erklärte er mit einem Augenzwinkern, wenn ein Gast danach fragte, und küsste Elsie sogleich. »Und sie und das Haus waren unzertrennlich.«

»Ich habe den Namen nur akzeptiert, weil es so gut zu den Schwärmen der Zugvögel passt, die bei uns in der Elbaue Rast machen«, erwiderte Elsie, die aber bis zuletzt rot wurde, wenn Clemens das sagte.

 

Früher, noch weit vor Elsies Geburt, war das Haus eines der typischen Hallenhäuser gewesen, in denen einst nicht nur die Wohnstuben der Bauern, sondern auch die Ställe und der Heuboden untergebracht waren. So wärmte man sich gegenseitig.

Später dann war das nicht mehr üblich, die Tiere wurden ausgelagert, die Vorratshaltung auch, und die Häuser nach und nach umgebaut.

Als Elsie einst dort aufwuchs, war es immer noch ein Bauernhof, mit Feldern und Vieh. Er gehörte ihrer Mutter. Ihr Vater war bei der Polizei und hatte in den Hof eingeheiratet. Für die Landwirtschaft interessierte er sich nicht wirklich, auch wenn er es anfangs versuchte. Aus dem Ersten Weltkrieg jedoch kehrte er mit einem kaputten Bein und einem schlecht geheilten Lungendurchschuss zurück, und so änderte sich eigentlich nie

»Lass uns das Haus verkaufen, Elsie«, hatte ihr Vater damals gesagt, der, da Elsie so selbständig geworden war und er sich noch hilfloser in Bezug auf die Arbeit fühlte, immer öfter in Depressionen verfiel.

»Ich habe damals eine ganze Nacht darüber nachgedacht«, hatte Elsie Maja gestanden. »Und dann bin ich an den Fluss hinuntergegangen. Der Mond schien. Ich hatte mich furchtbar allein gefühlt, aber als ich das Licht auf dem Wasser und den Wiesen sah und wie der Fluss so ruhig und ungestört seinem Weg folgte, da wusste ich, ich kann das! Aber fort von hier, das konnte ich nicht. In der Ferne sah ich eine dieser verfallenden Scheunen, wie ein Gerippe vor dem Himmel. Das konnte ich nicht zulassen, nicht bei uns.« Also krempelte Elsie die Ärmel hoch, setzte sich mit anderen Landwirten und ihren Angestellten zusammen und fasste einen Plan. Ein Großteil des Viehs wurde verkauft, einige Felder verpachtet und das Haus weiter umgebaut und renoviert. Nun gab es Zimmer, dort wo einst die Ställe gewesen waren, und auch Zimmer oben, wo der Heuboden gewesen war. Elsie strich Wände und sammelte überall überflüssige Möbel, und dann vermietete sie diese Zimmer. An Menschen, die sich von der Stadt erholen wollten, und an Menschen, die in der Gegend für eine Weile arbeiteten. Es sprach sich herum, wie heimelig es bei Elsie war, wie lecker die Verpflegung und wie schön die Gegend, und die Zimmer waren

 

Maja war voller Dankbarkeit, dass Elsie niemals aufgegeben hatte. Nicht auszudenken, wenn sie nicht hier hätte aufwachsen können und den »Elbschwarm« das gleiche Schicksal ereilt hätte wie viele dieser Höfe! Jetzt folgte sie dem Deich bis hin zu dem schmalen Pfad, der mitten durch die Auenwiesen hinunter zur Elbe führte. Er war so schmal, dass man ihn kaum sah, wenn man nicht wusste, dass er da war, so lang waren jetzt die Gräser.

Elsie hat es damals so viel schwerer gehabt als ich, dachte Maja. Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Sie musste einen Plan fassen und eine Entscheidung treffen. Und ich bin bedrückt, nur weil für mich ein neuer Lebensabschnitt anfängt und ich noch nicht weiß, wie er aussehen wird?

Doch Jahrzehnte eines Berufs, den sie mit Leidenschaft ausgeübt hatte, waren eben nicht so einfach abzustreifen wie ein altes Kleidungsstück.

Am Anfang des Pfades stand ein Fahrrad. Maja zögerte. Sie hatte sich darauf gefreut, am Wasser allein zu sein, aber nun war sie einmal hier und mochte nicht umkehren.

Ihre Socken in den Sandalen waren nass vom abendlichen Tau, als sie unten ankam. Auf ihrem Lieblingsplatz, der Landzunge, die in den Fluss hineinragte, stand eine große, schlanke Silhouette. Der Mann blickte neugierig den Fluss erst hinab, dann hinauf. Maja nickte ihm höflich zu, als er sie bemerkte, und bückte sich, um ihre Schuhe und Socken auszuziehen. Sie ließ beides stehen und watete ein kleines Stück ins Wasser. Es

»Schön hier, nicht wahr?«, sagte der Mann, der unbemerkt näher getreten war. Maja blickte zu ihm auf. Er war ungefähr in dem Alter ihres Sohnes Luca. Unwillkürlich lächelte sie ihn an. Er erinnerte sie ein wenig an Sebastian in dem Alter. Sie waren oft zusammen hier gewesen, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Sebastian wusste, wie gern sie hier war. Ihm hatte es auch gefallen. Es war ein schöner Beginn ihrer gemeinsamen Geschichte gewesen. Er hatte sofort begriffen, was Maja an dieser Landschaft immer wieder aufs Neue verzauberte, so vertraut sie auch war. Schließlich änderte sie sich auch ständig.

»Ich weiß«, sagte Maja. »Ich bin hier aufgewachsen.«

»Ach, wirklich?« Der Fremde kam noch einen Schritt näher. »Ich bin auf dem Elberadweg unterwegs, und hinter jeder Biegung erscheint mir alles noch schöner. Was für eine faszinierende Gegend! Ich studiere Biologie, wissen Sie. Ich habe noch nirgendwo anders eine solche Vielfalt von Wildkräutern gesehen. Und Insekten. Da zum Beispiel!« Er wies auf den Boden, dann hockte er sich hin und ließ eine knallbunte Raupe auf seine Hand klettern. Sie war so groß wie sein Finger, trug ein gebogenes Horn am Hinterteil und am ganzen pechschwarzen Körper ein wildes Flecken- und Streifenmuster in Weiß und Rot. »Wissen Sie zufällig, was für eine Art das ist? Ich denke, eine Art Schwärmer. Aber welche?«

»Das ist ein Wolfsmilchschwärmer«, sagte Maja, die hier oft

Diese Art Nachtfalter war schon vor langer Zeit eingewandert, doch jetzt war sie wieder selten geworden, weil es kaum noch das passende Biotop für sie gab. Die bizarren Raupen waren die realen Drachen ihrer Kindheit gewesen, vor denen sie sich nie gefürchtet hatte, denen aber immer etwas Mystisches anhing.

»Aha, danke!« Der Mann setzte das Tier sanft zurück. »Sagen Sie, wenn Sie sich hier auskennen – warum heißt die Gegend die Lenzerwische?«

»Wische ist das niederdeutsche Wort für Wiese. Der Ort Lenzerwische hat seinen Namen erst vor einigen Jahren durch den Zusammenschluss mehrerer Gemeinden erhalten. Im Grunde aber heißt dieses ganze Gebiet zwischen Löcknitz und Elbe, das wie eine Insel zwischen den Flüssen liegt, die Lenzerwische.«

»Aha, verstehe. Und noch eine Frage: Ich habe vor einer Weile ein Schild gesehen, das auf einen sogenannten ›Bösen Ort‹ hinwies. Können Sie mir sagen, was es damit auf sich hat? Das scheint mir so gar nicht in die Gegend zu passen.«

Maja setzte sich auf einen angeschwemmten Baumstamm. Ihr wissensdurstiger Gesprächspartner folgte ihrem Beispiel. »Der Name bezieht sich auf einen Ort, an dem die Elbe an einer verengten Stelle eine fast rechtwinklige Biegung macht. Die davon geplagten Binnenschiffer haben den Namen geprägt. Dazu kommt, dass dies bei Hochwasser eine sehr kritische Stelle war. 2002, bei dem extremen Hochwasser, musste man mit vielen Sandsäcken darum kämpfen, dass der Deich hielt, denn dort drückte die Elbe nicht nur seitlich, sondern auch

»Ich habe davon gelesen. Man hat die Gelegenheit zugleich genutzt, um ein Naturschutzgroßprojekt zu verwirklichen. Das wollte ich mir gerne ansehen, aber als ich da eben auf dem neuen Deich entlanggeradelt bin, konnte ich mir das kaum vorstellen. Jetzt, wo Sie davon erzählen, wird es greifbarer.«

»Ja, die Feuchtwiesen und auch die Auenwälder wurden durch das Trockenlegen für die landwirtschaftliche Nutzung in großen Teilen zerstört. In den späten sechziger Jahren hat man das Gebiet hier in der Lenzerwische mit enormem Aufwand entwässert, um die landwirtschaftlichen Erträge zu steigern. Mein Großvater war darüber sehr traurig.«

»Weil mit den Feuchtwiesen für viele Pflanzen und Lebewesen ein wichtiges Biotop verlorenging? Es gibt zu viele Orte, an denen das geschehen ist. Das ist so schade.« Er runzelte die Stirn.

»Ja. Aber hier ist es zum Glück tatsächlich gelungen, es wiederherzustellen. Das dauert natürlich, ehe sich der Baumbestand erholt, aber man pflanzt nach und nach etwas an. Es wurden über eine Million Tonnen Erde bewegt, und nun gibt es 420 Hektar neue Überflutungsfläche für die Elbe. Als es 2013 das schlimme Hochwasser gab, konnte der Wasserspiegel dadurch um fast einen halben Meter abgesenkt werden. Ich war damals nicht oft hier, aber wenn, war es beeindruckend zu

»Ein Lichtblick!«, sagte er. »Ich habe auf den Schildern gesehen, dass die Elbtalaue Lebensraum für über hundertfünfzig Vogelarten ist und außerdem zehn Amphibienarten nachgewiesen wurden, sogar sechs von der Roten Liste. Zum Beispiel die Rotbauchunke. Das nenne ich einen Erfolg! Aber die Herde Wildpferde, die ich glaubte, gesehen zu haben, waren sicher eine Halluzination, oder?«

Maja lächelte. »Nein, das sind tatsächlich Wildpferde. Es ist die Rasse Liebenthaler Wildlinge. Sie dienen der Landschaftspflege und sollen auf einem Gebiet von über sechzig Hektar eine halboffene Weidelandschaft erhalten.«

»Und haben gleichzeitig ein schönes Leben. Großartig!«

Maja und der Fremde sahen noch eine Weile auf den Fluss, dann stand er auf. »Vielen Dank für Ihre Auskünfte. Ich will Sie nicht weiter belästigen. Ich muss auch weiter. Wenn ich irgendwann Lehrer bin, werde ich meinen Schülern von diesem gelungenen Projekt erzählen. Das macht wirklich Hoffnung.«

»Ja, tun Sie das. Alles Gute weiterhin!«

Maja sah ihm nach. Er war so voller Schwung und Begeisterung. Sein Berufsleben würde erst beginnen. Sie konnte sich noch erinnern, wie sich das anfühlte. Das war erschreckend lange her. Wie sehnte sie sich nach dieser Aufbruchstimmung!

Aber ging das noch in ihrem Alter? Sie warf einen Kiesel ins Wasser, wie sie es früher getan hatte, und tröstete sich damit, dass sich wenigstens noch dieselben Ringe ausbreiteten. Doch, man konnte immer etwas bewegen, man musste nur damit anfangen.

 

 

Abends auf dem Balkon spielten sie Rommee und Mau-Mau. Und Schummellieschen. Clemens konnte wunderbar schummeln. Elsie überhaupt nicht. Maja versuchte, von Clemens zu lernen, aber beim Schummeln gelang ihr das nur selten. Dafür brachte er ihr andere Dinge bei. Viele andere Dinge. Aber erst zu Hause, nicht auf Usedom. Dort war er, wenn sie nicht gerade herumalberten, ungewöhnlich still und schweigsam.

»Der Clemens muss sich mal entspannen. Dafür ist Urlaub ja gedacht«, hatte Elsie erklärt, wenn Maja sich wunderte oder beschwerte. »Lass ihn einfach in Ruhe.«

Als Maja älter wurde und die Geschichte von dem gefallenen Kriegskameraden hörte, dachte sie sich, dass Clemens die Erinnerung an seinen Freund gewiss manchmal traurig machte, und dann brachte sie ihm ein Stück Kuchen von ihrem Taschengeld, drückte ihn und ließ ihn in Frieden.

 

Zurück an der Elbe, erzählte er dafür umso mehr. Zum Beispiel von den Grashüpfern, die er so mochte, dass er sogar einmal ein Kinderbuch darüber geschrieben und gezeichnet hatte, nachdem er nicht mehr zur See fuhr. Das Konzert der Grashüpfer begann ja meist gerade dann so richtig, wenn sie aus den Ferien zurückkehrten. Überall hüpfte es plötzlich, flirrte und sprang und trällerte. Meist waren sie so schnell wieder fort, dass man sie nur huschen sah, die kleine Gesellschaft auf der Wiese und unter den Blättern. Kobolde waren es, flüchtige Wesen, die

Auf Usedom war sie nie wieder gewesen. Erst war da ihre Ausbildung, und dann Clemens, der immer kränker wurde, und dann hatte sie Sebastian kennengelernt. Mit ihm fuhr sie dorthin, wo er alte Handelswege erforschte, und das war nicht an der Ostsee. Die Hanse interessierte ihn nicht, über die wusste man schon so viel.

 

Auch jetzt und hier sprangen jede Menge Grashüpfer in den Kräutern umher und fingen die letzte Wärme der Sonne zwischen den aufgeheizten Steinen ein. Maja hockte sich hin und sah ihnen zu. Einer sprang über ihren Fuß, blieb einen Augenblick vor ihr sitzen. Eine Goldschrecke, wenn sie sich richtig erinnerte.

»Wo hängen denn die Grashüpfer ihre Puppen auf?«, hatte sie Clemens einmal gefragt. Damals hatte Elsie ihr gerade gezeigt, wie die Raupen sich verpuppten und später aus den Puppen ein Schmetterling schlüpfte. Maja fand es unendlich spannend, wie aus diesem kleinen braunen Ding etwas so Schönes entstehen konnte.

»Grashüpfer verpuppen sich nicht. Aus den Eiern schlüpfen keine Raupen, sondern kleine Larven, und die sehen schon beinahe so aus wie die erwachsenen Grashüpfer. Sie häuten sich einige Male, während sie größer werden. Wenn ihnen die alte Haut nicht mehr passt, streifen sie sie einfach ab. Darunter tragen sie eine neue, die besser zu ihnen passt. So verändern sie sich mindestens fünf Mal, bevor sie die letzte Haut ablegen und richtige Grashüpfer mit Flügeln werden.«

Eigentlich ist das einfacher, als sich mit einem Mal so sehr zu

Wenn Grashüpfer flogen, dann starteten sie nicht vom Boden aus. Sie sprangen erst ganz hoch, und oben dann breiteten sie ihre Flügel aus.

Maja musste also nur den Mut finden, zu springen – doch wohin?

Die Sonne verschwand hinter den Weiden, aber ein letzter Glanz des Tages lag noch silbrigblau auf dem Wasser. Das Konzert der Grashüpfer schwoll an, ein Fisch sprang mit einem Platschen, doch davon abgesehen herrschte rundherum Ruhe. Gemächlich zog der Fluss seines Weges. Die Kräuter dufteten. In Maja wurde es still.

Es war einfach zu schön hier, um traurig zu sein.

Für die Grashüpfer war es bestimmt auch nicht einfach, sich aus ihren alten Häuten zu schälen. Doch all jenen, die hier am Elbufer in den neu belebten Wiesen ihre Stimmen erhoben, war es gelungen.