Die Brennspitze war jetzt heiß genug. Sila vertiefte sich in ihre Arbeit, setzte die erste Linie, behutsam, gleichmäßig. Jedes Holz reagierte anders. Fehler ließen sich zwar ausbügeln, improvisieren ging immer, und oft wurde das Ergebnis dadurch noch besser. Sie ließ sich gern selbst überraschen. Aber dennoch musste sie ständig konzentriert bleiben, schon, weil man sich sehr leicht die Finger verbrennen konnte.
»Wie bei der Liebe«, hatte Indra einmal bemerkt, als sie Silas Hand verarzten musste. »Aber ein heißes Eisen lässt sich besser kontrollieren, du musst nur immer bei der Sache bleiben.«
Das war jetzt genau das Richtige für sie. Alles andere verschwand dabei aus ihrem Kopf. Wanda, der Wickenhof, der unbekannte Herr Hoffmann, die Erinnerungen. Da waren nur noch Ruhe und das Bild, das unter ihrer Hand entstand, der Fluss, die Kopfweiden, das Schilf, ein rastender Vogelschwarm, ein altes Boot. Wolken, Inseln.
Der vertraute, warme Geruch von kokelndem Holz breitete sich aus und mischte sich mit dem Duft von Möbelwachs. Oswin nähte in seiner Ecke. Indra flocht und bog etwas aus Kabeln und brummelte dabei manchmal leise vor sich hin. Sila ließ sich in die anheimelnde Atmosphäre sinken und spürte, wie sie sich entspannte.
Dies war ihr Zuhause. Ihre dunkle Einraumwohnung zwei Häuser weiter im Hinterhof zählte nicht. Dort schlief sie nur. Und zeitweise auch bei Devin in seiner kaum größeren Wohnung um die Ecke. Nun jedoch schon länger nicht mehr.
Ihr Platz war hier, in der Gegenwart von Indra, Oswin und Devin. In diesem Räumen fühlte sie sich wohl. Hier entstanden ihre Bilder auf dem Holz wie von allein. Sogar heute, obwohl sie so aufgewühlt war. Linie fügte sich an Linie, und es entstanden Dinge, von denen sie vorher nichts geahnt hatte.
Später machte Indra Feierabend. Ihre Arbeitszeiten wurden neuerdings immer kürzer. Oswin war auch bald damit fertig, Lisa zu befüllen und ihr noch eine Mähne zu verpassen, und verabschiedete sich dann ebenfalls. »Mach’s gut Sila, und grüble nicht so viel!«
»Danke, Oswin. Einen schönen Abend dir!«
Dann war Sila allein, und das war auch schön. Draußen färbte die untergehende Sonne die Spree rotgolden. Das Astloch auf der Stuhlrückseite aber war doch der Mond, beschloss Sila. Sein Licht spielte auf dem Wasser. Und dann ein Haus in der Ferne, nein, gar nicht so fern.
Ein Haus? Sila hatte noch nie ein Haus in ihren Landschaften untergebracht. Jetzt hätte sie sich vor Schreck doch fast verbrannt und steckte den Griffel hastig in seine Halterung zurück, um sich zu fangen. Auch die Schutzmaske, die sie daran hinderte, den Rauch einzuatmen, riss sie hastig ab, weil sie das Gefühl hatte, auf einmal nicht mehr genug Luft zu bekommen.
Noch war das Haus nur angedeutet, außerdem halb hinter einem Zaun verborgen, an dem etwas wuchs.
Doch es war ziemlich sicher der Wickenhof oder jedenfalls das, was in Silas Erinnerung noch von ihm übrig war.
Als sie vor vielen Jahren damit begonnen hatte, Bilder und Dekorationen in Holz zu brennen, dachten alle, ihre Landschaften wären von der Spree inspiriert. Vom Tegeler Fließ wohl auch, und dem Großen Fenn. Diese Ähnlichkeit war durchaus vorhanden. Wasser, Schilf, Weiden, Weite. Im Oderbruch war ja damals keiner von ihnen gewesen, das lag hinter der Mauer. Wahrscheinlich waren es bald tatsächlich die Spree und das Fließ und das Fenn, denn so war es leichter für Sila. Vielleicht war es auch einfach nur Weite, nach der sie sich sehnte, egal welche.
Und doch, als Sila nun an Wanda dachte, gab sie zu, dass beinahe alle ihre Werke die Landschaft ihrer Kindheit widerspiegelten. Wanda hatte ein Blick auf die Website genügt, um das festzustellen.
Für heute hatte sie genug. Die Luft roch nach Rauch, höchste Zeit, das Fenster wieder aufzureißen. Sila steckte die Brennstation aus, damit niemand versehentlich an den Schalter kam, und legte die heißen Spitzen sorgfältig zum Abkühlen beiseite. Draußen roch die Dämmerung nach Frühling, geheimnisvoll und irgendwie nach Aufbruch. Sila wollte noch nicht nach Hause, sie war viel zu unruhig. Seit Wandas Brief war da wieder dieses freudig aufgeregte Kribbeln in ihr, das sie schon einmal gespürt hatte. Als Devin den Namen Andrena zu ihrem Künstlernamen gemacht und ihr ein neues Leben eröffnet hatte.
Gedankenvoll betrachtete sie die große Wand. Es standen keine Möbel dort. Hier brauchten sie alle hauptsächlich Platz zum Arbeiten. Manchmal pinnte jemand einen Entwurf daran oder einen Zeitplan. Zurzeit hingen da nur zwei zerfledderte, ausgeblichene Plakate von irgendwelchen längst abgelaufenen Theaterprogrammen.
Sila wanderte in die kleine Küche, deren Speisekammer größer war als die Küche selbst. Dort bewahrte sie im unteren Regal ihre Schätze auf: Farbdosen aller Schattierungen. Da sie beim Brennen nur mit Schwarz und Braun arbeiten konnte, musste sie ihre Vorliebe für leuchtende Farben anders ausleben. Immer, wenn es ihr nicht gut ging oder sie ins Grübeln kam, strich sie eine Wand.
Das erste Mal war sie elf gewesen. Sie hatte im Laden ihres Onkels ausgeholfen und sich ein paar Pfennige dazuverdient. Dafür hatte er ihr einen Rest Farbe günstig überlassen, einen Ladenhüter. Sila wollte ihre Mutter überraschen und hatte den Flur gestrichen. Die enge Wohnung war schon schmutziggrau und verwohnt gewesen, als sie einzogen. Dorothea war sowieso fast nie zu Hause. Sila war stolz, als sie sogar beinahe bis oben herankam und die Farbe recht gleichmäßig verteilt hatte. Die Wohnung wirkte gleich ganz anders, fand sie.
Das fand Dorothea auch. Nur nicht so, wie es sich Sila vorgestellt hatte. Ihre erste Reaktion war eine Backpfeife und die zweite eine Frage. »Was hast du dir bloß dabei gedacht?«
»Es sieht aber doch viel fröhlicher aus! Es war so hässlich.«
»Das stimmt. Aber jetzt ist es noch hässlicher.«
Insgeheim musste Sila zugeben, dass »Flügel von Smaragd« auf dem Etikett wunderbar geklungen hatte, aber doch von einem sehr heftigen Grün war, wenn man einen ganzen Raum damit anpinselte.
Am Ende einigten sie sich darauf, dass Sila alles noch einmal strich, diesmal mit »Zauber der Wüste«, einem dezenten Sandbeige. Immerhin bezahlte Dorothea die Farbe. Sie träumte vom Reisen, nun, da sie nicht mehr hinter einer Mauer lebte. Vielleicht von einem Wüstenprinzen auf einem weißen Kamel, der ihr Diamanten schenkte. Sila aber hatte bei »Flügel von Smaragd« an die schillernden Rosenkäfer in Wandas Garten gedacht.
Später, als sie Devin und die anderen Künstler in der Werkstattetage kennenlernte, ermutigten sie Sila zum Streichen, wann immer sie wollte. Bea rauchte Zigaretten, Devin spritzte manches Mal im Eifer der Arbeit mit Kaffee, weil er seine Tasse umwarf. Und die Sommerhitze ließ den Ruß und Dreck der Straße bis unter das Dach steigen und wehte ihn zum Fenster hinein. Die Wände waren oft renovierungsbedürftig, und da hier niemand wohnte und sich alle auf ihre Arbeit konzentrierten, war ihnen egal, was für eine Farbe Sila den Wänden schenkte. Sie hatte stets einen Vorrat an Farben im Schrank, denn sie kam an keinem Baumarkt vorbei, ohne im entsprechenden Regal zu stöbern.
Inzwischen waren Bea und ihre Zigaretten zwar nicht mehr da, dafür kokelte Sila mit dem Holz, Indra gönnte sich gelegentlich ein Zigarillo, und Oswin zündete jeden Tag Kerzen für Bea an. Ein neuer Anstrich würde auch jetzt nicht schaden, schon gar nicht im Frühling, da die Sonne alles gnadenlos zum Vorschein brachte.
Das letzte Mal war es »Spiel der Korallen« gewesen, womit Sila gegen einen chronisch nebligen Herbst hatte aufbegehren wollen, ein leuchtendes, heiteres Orange. Nun schwankte sie zwischen »Glanz des Sonnenkönigs«, einem zitronigen Gelb, und »Erwachen des Frühlings«, einem hellen Gelbgrün. Sie entschied sich für Letzteres, weil es so gut in die Zeit passte.
Sila nahm die Poster ab, fegte Spinnweben und Sägespäne von der Wand und klebte die Kanten ab. Dann schaltete sie alle Scheinwerfer im Raum an und begann zu streichen. Draußen flöteten die Amseln, während unten die Laternen ansprangen und ihr Licht auf die Spree warfen, die gleichmäßig dahinfloss. Dem Fluss war es egal, wie sehr Silas Gedanken in Aufruhr waren. Aber waren diese anfangs noch dunkel und verworren, so schlich sich jetzt mit jedem Pinselstrich etwas von dem Hellgelbgrün hinein.
Für »Zauber der Wüste« hatte sie sich nie erwärmen können. Beige blieb beige, egal, wie man es nannte. Fade. Aber ihrer Mutter hatte es gefallen. Dorothea hatte damals Sehnsucht nach der Ferne, wer wollte es ihr verdenken? Heute konnte Sila das verstehen.
Sila dagegen war in der Stadt nach dem anfänglichen Heimweh nach Wanda und dem Garten immer glücklicher geworden. Hier beschimpfte sie niemand mehr, weil sie mit ihren dunklen Augen und schwarzen Haaren so anders aussah. Hier gab es auf einmal ganz viele wie sie. Nicht einmal ihr Vorname fiel auf. In der Schule gab es Pinars und Dilaras und sogar noch eine zweite Sila. Die Peggys und Chantals, die sie früher so gequält hatten, wären hier ihrerseits aufgefallen.
Anfangs wurde sie zwar mal als Flüchtlingskind oder »DDR-Dummi« geneckt, oder wegen ihrer Klamotten aus dem Secondhandshop, doch das verflog bald. Niemand steckte ihr hier Kletten in die Achseln ihrer Jacke oder zerriss ihre Hausaufgaben. Stattdessen fand sie Freunde. Sie wurde im Sportunterricht nicht mehr als Letzte in die Mannschaft gewählt. Sie wurde sogar zu Geburtstagen eingeladen. Sila gehörte dazu wie noch nie zuvor, und sie wollte nicht wieder weg, nirgendwohin, nie wieder.
Sie bewegte den Pinsel energisch auf und ab und sah zu, wie die Wand sich verwandelte. Sie benutzte lieber einen breiten Pinsel als eine Rolle, da spürte sie besser, was sie tat. Es dauerte etwas länger, war aber irgendwie persönlicher. Manchmal hatte sie das Gefühl, ihr Leben würde aus lauter Farbschichten bestehen, eine über der anderen. Jede stand für eine andere Zeit. Wie die Ringe in einem Baumstamm.
Ihre Mutter war lebenshungrig, hatte noch immer das Gefühl, viel versäumt zu haben. Sie wollte alles aufholen und stolperte von einer Beziehung in die andere, alle flüchtig, alle austauschbar. Bis der Portugiese kam, mit dem sie in Urlaub flog, in seine Heimat. Sila, inzwischen vierzehn, war froh, dass sie bei ihrer Tante bleiben konnte.
»Ich freue mich«, hatte Tante Daniela gesagt. »Du kannst auf Mine aufpassen.« Silas Cousine Mine war damals vier und anstrengend, aber es hatte sich noch nie zuvor jemand so gefreut, dass Sila da war. Außer Wanda vielleicht.
Der Urlaub ihrer Mutter in Portugal dauerte immer länger. Dorothea kam nie wieder zurück.
Sila hatte sie nicht einmal sehr vermisst. Die »Zauber der Wüste«-Zeit, in ihrer Erinnerung für immer die »beige Zeit«, war damit vorbei. Tante Daniela und ihr Mann waren ganz in Ordnung, sie hatten nur sehr viel zu tun. Da war der Laden, und da war die kleine Mine. Sila musste allein mit ihren Hausaufgaben zurechtkommen. Einfach war das nicht immer. Aber sie durfte die Wohnung streichen. Tante Daniela entschied sich für »Duft des Orients«, ein pudriges Rotorange. Wahrscheinlich hatte sie ihr eigenes Fernweh. Sila fand die Farbe recht dunkel, aber doch viel besser als Beige.
Die rotorange Zeit in ihrem Leben war nur anfangs angenehm gewesen. Sila war bald einsam und überfordert und trieb sich herum, wenn sie nicht auf Mine aufpassen oder im Laden helfen musste.
»Verflixt!«
Wandas Brief hatte viel zu viele Erinnerungen aufgescheucht. Jetzt hatte Sila nicht aufgepasst und sich den »Erwachenden Frühling« auf ihren Schuh gekleckert. Sie sauste in die Küche und hielt den Schuh unter den Wasserhahn, ehe die Farbe trocknete. Dabei sah sie sich um. Die bunten Tassen, die an der Hakenleiste hingen, waren noch dieselben wie damals, als sie das erste Mal hierhergefunden hatte.
Devin hatte Sila aufgelesen, die in Tränen aufgelöst unten an der Spree saß. Sechzehn und schwanger.